Denkt man an das klassische Griechenland des 5. Jahrhunderts v.Chr., so sind es Stichworte wie Demokratie, Literatur, Kunst und Architektur, aber auch Philosophie, die einem gewöhnlich als Erstes einfallen. Hierauf weisen auch die Herausgeber des vorliegenden Tagungsbandes hin. Doch war, wie zu Recht im Vorwort betont wird, das 5. Jahrhundert in erster Linie ein Jahrhundert des Krieges mit all seiner Gräuel und Gewalt. Mit genau dieser auf den ersten Blick abstoßenden Seite der griechischen Klassik beschäftigten sich im Jahr 2005 die Teilnehmer einer Tagung des Sonderforschungsbereichs „Ästhetische Erfahrungen im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin. Die dort gehaltenen Vorträge sind in dem nun vorliegenden Tagungsband zusammengefasst. Dass trotz der kriegerischen Zeiten Gewalt nicht nur auf dem Schlachtfeld stattfand, wird von den Herausgebern bereits im Vorwort deutlich gemacht (S. VI). Ihre Omnipräsenz in der Gesellschaft spiegelt sich daher auch in der Überlieferung, sei sie literarisch oder bildlich, wider. Erklärtes Ziel der Herausgeber und Autoren ist es, mit diesem Buch die Darstellung der Gewalt in den Künsten zu untersuchen, ohne dabei die historischen Begebenheiten aus dem Blick zu verlieren.
Im ersten Beitrag beschäftigt sich Kai Trampedach mit der griechischen Tyrannis. Obwohl diese Gewaltherrschaft im griechischen Mutterland in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhundert praktisch nicht mehr existierte, hat man sich in Literatur und Philosophie intensiv mit ihr beschäftigt. Die uneingeschränkte Macht eines Tyrannen manifestiert sich in der unbegrenzten Ausübung von Gewalt. Die Quellen zeigen einheitlich, wie der Autor betont, die Tyrannis sowohl als Wunsch- als auch als Schreckensbild (S. 8). Es wird ein Strudel der Gewalt aufgezeigt, in den jeder, egal wie gerecht sein Handeln ist, hineingezogen wird, sobald seine Macht wächst. Die Schutzmechanismen, die die Griechen philosophisch und politisch versuchen aufzubauen, um der Gewalt zu entgehen, versagen alle mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit früher oder später.
Egon Flaig thematisiert in seinem Beitrag die Allgegenwart von Gewalt in der griechischen Polis. Dass Anzeichen von Gewalt jeden Bereich durchdringen, wird am Beispiel der Unterscheidung von Sklaven und Freien bei Gesetzesbrüchen, aber auch anhand überlieferter Gesetze gezeigt. Die zwanghafte Furcht der Griechen vor Gewalt verdeutlicht Flaig an ausgewählten Quellenbeispielen. Eine alltägliche Form der Gewalt stellt das blutige Opfer dar: Albert Henrichs behandelt in seinem Aufsatz das Verhältnis zwischen Tieropfern und symbolischen bzw. mythologischen Menschenopfern und deren Bedeutung in der griechischen Tragödie. Neben Erläuterungen und Deutungen der üblichen Opferrituale werden auch die nicht der Norm entsprechenden Opfer sowie die Darstellungen des Opfers auf der antiken Bühne thematisiert.
Bernd Seidensticker analysiert in seinem Beitrag die Entwicklung der Gewaltdarstellungen in der griechischen Tragödie. Durch eine gelungene Kombination aus systematischen Überlegungen zu Rhetorik, Poetik und literarischer Analyse zeigt er, dass Tragödiendichter trotz einer Entwicklung, Gewalt nicht auf der Bühne stattfinden zu lassen, Methoden herausbildeten, um diese räumlich entfernte Gewalt dem Zuschauer nahe zu bringen. Ansatzweise wird die Faszination, die Gewalt auf der Bühne auf Zuschauer ausübt, greifbar. Der Darstellung von Schmerz in der Tragödie widmet sich Felix Budelmann in seinem Beitrag. Nach allgemeinen Überlegungen zum Thema, wobei er auch die medizinische Schmerzforschung berücksichtigt, wird der Frage nach der Möglichkeit und dem Sinn einer naturalistischen Schmerzdarstellung auf der Bühne nachgegangen. Das den Schauspielern zur Verfügung stehende Repertoire wird vorgestellt und hinterfragt. Zuletzt wird die Bedeutung von Schmerzszenen erörtert.
Simon Gotthill stellt sich die Frage nach dem Ort der Gewalt im antiken Theater. In diesem Zusammenhang vergleicht er Tragödie und Komödie und kommt zu dem begründeten Ergebnis, dass bei griechischen Komödien die Gewalt auf der Bühne stattfindet, während bei Tragödien Gewalttaten zwar nicht sichtbar, aber doch für die Zuschauer bemerkbar durchgeführt werden. Die Gründe hierfür erörtert Gotthill anhand ausgewählter Beispiele. Am Beispiel der Antigone und der Klytaimnestra untersucht Karl Heinz Bohrer die sprachliche Vermittlung der Gewalt. Hierbei unterscheidet er zwischen Gewalt in der Sprache und Gewalt durch die Sprache und zeigt so die Mittel auf, mit denen die Sprache der Tragödie die Erscheinungsformen der Gewalt nicht nur verdeutlicht, sondern die Gewalt im Theater auch zu einem ausdrucksstarken und ästhetischen Ereignis macht. Die Umsetzung der antiken Tragödie ins moderne Theater und damit auch die Umsetzung der Gewaltdarstellungen behandelt der Aufsatz von Patrick Primavesi. Anhand ausgewählter moderner Inszenierungen verdeutlicht er die Bedeutung des Zuschauers, da dieser maßgeblich an der Deutung der Gewalt beteiligt ist.
Der letzte Abschnitt des Werkes beschäftigt sich mit Gewaltdarstellungen in der bildenden Kunst. Die Veränderungen der Gewaltdarstellungen auf griechischen Vasen um 480 v.Chr. begründet Barbara Borg mit der Umgestaltung der politischen und sozialen Begebenheiten Griechenlands. Die Perserkriege, die Abschaffung der Tyrannis und die Einrichtung der Demokratie führten ihrer Meinung nach zu einer Veränderung der Abbildungsformen. Durch eine weitgehende Aufhebung von Rangunterschieden verloren die archaischen Bildprogramme, die diese Unterschiede verdeutlichten, ihren Reiz. Auch erinnerten einige der mythischen Motive zu sehr an Freveltaten, wie sie auch die Perser verübten. Allerdings spielt bei letzteren auch die negative Propaganda eine wesentliche Rolle. Doch war die Gewalt weiterhin ein Motiv, solange sie nicht leidenschaftlich vollzogen dargestellt wurde. Im letzten Aufsatz des Buches behandelt Susanne Muth die Entwicklung der attischen Gewaltikonographie und stellt überzeugend eine Entwicklung dar, die vom Moment kurz vor der Gewalttat zur Abbildung der eigentlichen Gewaltszene führt. Zu Recht weist sie auf die unterschiedlichen Perspektiven moderner und antiker Betrachter hin, die bei der Deutung der Bildmotive und den Überlegungen zur Funktion der Gewaltikonographie eine bedeutende Rolle spielen.
Der Sammelband „Gewalt und Ästhetik“ liefert einen interessanten und informativen Überblick über die Darstellung von Gewalt im antiken Griechenland. Die häufigen inhaltlichen Überschneidungen einiger Aufsätze wirken allerdings bei einer Gesamtlektüre des Bandes eher störend. Der durchweg positive Eindruck des Buches wird sonst nur durch das Fehlen jeglichen Literaturverzeichnisses getrübt. Weder folgt den einzelnen Aufsätzen eine Literaturübersicht, noch gibt es eine für den gesamten Band. Will man sich mit dem Thema weiterhin beschäftigen, muss man sich zwangsläufig die Literatur aus den Fußnoten zusammensuchen.