A. Caruso: "Blut und Eisen auch im Innern"

Cover
Titel
»Blut und Eisen auch im Innern«. Soziale Konflikte, Massenpolitik und Gewalt in Deutschland vor 1914


Autor(en)
Caruso, Amerigo
Erschienen
Frankfurt am Main 2021: Campus Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Nonn, Historisches Seminar, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Gewalt im Deutschen Kaiserreich ist ein weites Feld. Es gab sie ganz legal in Familien, in Betrieben, in Schulen – von Eltern an Kindern, Meistern und anderen Vorgesetzten an ihren oft minderjährigen Lehrlingen, von Lehrern an Schülern. Neben dieser alltäglichen intergenerativen Gewalt gab es politische Gewalt, in der Regel legitimiert durch das staatliche Gewaltmonopol, etwa bei Demonstrationen, aber auch massenhaft gegen vor allem die polnische Minderheit. Und es gab Gewalt in und aus der Gesellschaft heraus – zum Beispiel die Gegengewalt der polnischen Minderheit gegen staatliche Amtsträger, kriminelle Gewalt, Gewalt gegen religiöse Minderheiten wie die Juden, und schließlich Gewalt in Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Industrie wie Landwirtschaft.

Amerigo Caruso untersucht, anders als der Titel seines Buchs es nahelegt, nur einen kleinen Bereich dieses weiten Feldes. In fünf Kapiteln widmet er sich vor allem solchen Aspekten von Gewalt im späten Kaiserreich, die im Zusammenhang mit industriellen Konflikten standen. Diese bilden das Hauptgewicht in seiner Arbeit. Der Autor kann dabei auf breite Forschungen seit den 1960er-Jahren zurückgreifen, waren solche industriellen Konflikte doch ein klassisches Thema der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung und Historischen Sozialwissenschaft. In jeweils einem Kapitel werden zudem konservative Sicherheitsdiskurse und sozialdemokratische Wahlrechtsdemonstrationen thematisiert. Letztere können ebenfalls bereits als breit erforscht gelten. Nur die konservativen Sicherheitsdiskurse sind ein nicht allzu beackertes Gebiet.

Caruso nutzt die nahezu umfassend erschlossene Literatur und zieht immer wieder neuere, international vergleichende Forschung heran. Außerdem hat er ausgiebig Gebrauch von zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften gemacht. Auch Archivalien hat er für seine Arbeit ausgewertet, in Sachsen für die Interaktion zwischen Staat und Sozialdemokratie bei den dortigen Wahlrechtsdemonstrationen 1905 und im Ruhrgebiet für die Bergarbeiterstreiks von 1905 und 1912. Nur letztere fließen allerdings stärker in die Darstellung ein, hauptsächlich im dritten Kapitel, wo es um die Beschäftigung von privaten Sicherheitsdiensten durch Unternehmer geht.

Das Kaiserreich gilt als eine Epoche, in der das Gewaltniveau in Mitteleuropa relativ gering war. Der Grund dafür wird meist in der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gesehen, die im zunehmend bürokratisierten deutschen Einheitsstaat einen beträchtlichen Schub erhielt. Mit der Zunahme des Ausmaßes staatlicher Intervention nahm offenbar die Verregelung von Konflikten zu und deren gewaltsame Austragung gegenüber den Jahren vor 1871 ab. Erst mit dem Ende des Kaiserreichs, nach Weltkrieg und Revolution, schrumpfte die Fähigkeit der staatlichen Autoritäten zur Pazifizierung der Gesellschaft. Dabei wird seit langem kontrovers diskutiert, inwieweit diese Ursachen im Erbe der Ereignisse zwischen 1914 und 1920 zu suchen sind oder ganz woanders.

Carusos Beitrag zu dieser Debatte ist etwas widersprüchlich. Einerseits betont er das geringe Gewaltniveau während des Kaiserreichs. Streiks und Demonstrationen seien meist friedlich abgelaufen, auch wenn sich in konservativen und Regierungskreisen eine Bedrohungspsychose entwickelt habe. Die Rufe der Rechten, die gerade im späten Kaiserreich immer mehr an Halt in der Gesellschaft einbüßten, nach härterer staatlicher Gangart gegen Demonstranten und Streikende hätten jedoch „keine breite gesellschaftliche Akzeptanz“ gefunden (S. 240).

Der Einsatz von organisierten Streikbrechern und privaten Sicherheitsfirmen an der Ruhr kostete die Unternehmer viele Sympathien. Selbst diese halbherzig versuchte Privatisierung von Gewalt gegen Streikende, die hinter vergleichbaren Entwicklungen etwa in den USA weit zurückblieb, hatte keine nachhaltigen Auswirkungen. Letzten Endes kam es dadurch nicht zur Entgrenzung oder zur Eskalation von Gewalt. So behielten nicht allein die staatlichen Organe die Kontrolle. Auch Parlament und Medien behielten die Entwicklung im Auge und wirkten entschärfend auf sie ein. Schließlich hatten die Sozialdemokratie und die ihr verbundenen Freien Gewerkschaften ihre Klientel ebenfalls gut im Griff. So stellt Caruso fest, „dass privatisierte Gewalt weder extreme Gewalt gegen politische Gegner noch Gegengewalt gegen den Staat generierte“ (S. 239).

Andererseits konstatiert er eine in den Jahren vor 1914 wachsende „verbale Militanz“, die in krassem Gegensatz zu der „sozialen Realität friedlicher Streiks und Demonstrationen“ gestanden habe. Das bezieht sich vor allem auf den Diskurs in radikal rechten Kreisen. Deren Einfluss auf Politik und Gesellschaft des späten Kaiserreichs wird seit langem kontrovers diskutiert. Allerdings lässt sich fragen, ob dieser Einfluss in den 1870er- und 1880er-Jahren, als die Verteufelung der SPD immerhin zu deren faktischem Verbot führte, nicht wesentlich größer gewesen ist. Auch die Sozialdemokratie selbst verteufelte ja im Gegenzug Regierung und gesellschaftliches „Establishment“ seitdem als „eine reaktionäre Masse“. Diese Position bröckelte freilich an den Rändern der Bewegung vor 1914 immer mehr, weil die Realität in Politik und Gesellschaft allzu offensichtlich komplexer und vor allem eine deutlich andere war als unter Bismarck.

Im internationalen Vergleich war die deutsche Arbeiterbewegung ausnehmend gut organisiert. Relativ zumindest zu den Nachbarn des Deutschen Reiches im Westen wirkte sich das politisch aber kaum aus, weil die Entwicklung des Parlamentarismus der in Frankreich und Großbritannien hinterherhinkte. Zudem verfügten auch die deutschen Unternehmer über einen hohen Organisationsgrad; dass das auch für rechtsradikale Gruppen ein deutsches Alleinstellungsmerkmal war, wie Caruso meint, dürfte eher zweifelhaft sein, wie etwa Arnd Bauerkämper schon vor längerer Zeit durch einen vergleichenden Blick auf das liberale Musterland Großbritannien gezeigt hat.1 Ob der deutsche Sonderweg unter lauter nationalen Sonderwegen in Europa „womöglich stärker destabilisierend war als in den Nachbarstaaten“ (S. 241), ist eine vom Autor selbst als solche markierte Spekulation. Retrospektiv kann man vieles in das Kaiserreich vor 1914 hineinlesen, was von den Entwicklungen danach suggeriert werden mag. Für eine empirische Überprüfung operationalisieren lassen sich solche spekulativen Thesen aber nicht.

Auch was Caruso mit „ergebnisoffener Krisenakkumulation“ (S. 237) meint, erschließt sich nicht ohne weiteres. Der Begriff suggeriert zwar, dass sich irgendetwas zusammenbraute. Aber wenn diese Entwicklung „ergebnisoffen“ war, lassen sich eben keine einfachen Kontinuitäten daraus ableiten. Im Nachwort von Matteo Milan, der den europäisch vergleichenden Rahmen noch einmal stärker betont als schon der Autor selbst, wird zu Recht die starke Präsenz von „Wehrerziehung“ und paramilitärischen Verbänden in vielen anderen Ländern vor 1914 betont. Wie Ute Frevert unterstrichen hat, ahmte man dabei in Deutschland hauptsächlich Vorbilder aus der Schweiz, Großbritannien und Frankreich nach, und zwar gegen starken Widerstand aus der Zivilgesellschaft.2

Die Stärke von Carusos Buch liegt darin, dass es die Literatur zum Thema in ihrer Breite einbezieht und nicht mehr ganz taufrische Thesen dem internationalen Vergleich aussetzt. Dadurch ergibt sich eine Breite des Blicks, die Regierung, Parteien, Parlament, Medien und Verbände gleichermaßen in den Blick nimmt. Wirklich neue Perspektiven werden zur Rolle privater Sicherheitsfirmen in Unternehmerdiensten eröffnet, hier ist die Darstellung klar und urteilssicher. Was an Thesen darüber hinausgeht, spiegelt nicht zuletzt den kontroversen, sich weiter im Fluss befindenden Charakter der Diskussion über das Kaiserreich.

Anmerkungen:
1 Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien, Göttingen 1991.
2 Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, S. 291–296.

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