Menschen agieren, sind produktiv und stehen miteinander in vielfältigen Beziehungen. Ein umfangreiches Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten gesamthaft zu überblicken, ohne dabei die Vielschichtigkeit zu verlieren, gelingt weder den Beteiligten innerhalb eines Gefüges noch Außenstehenden. Die Geschichtswissenschaft behilft sich damit, aus historischer Distanz und mit Quellenarbeit Gegebenheiten der Vergangenheit zu rekonstruieren, zu analysieren und zu interpretieren, wodurch gewisse Zusammenhänge nachvollzogen werden. Einen anderen Ansatz hat Dario Rodighiero gewählt, indem er – in einer Perspektive, die als zeitgeschichtlich aufgefasst werden kann – eine Datenvisualisierung entwickelt hat, um die Verflechtungen von Personen an einer Hochschule zu untersuchen. Dazu hat er Metriken, die in unterschiedlichen Datenbanken laufend erhoben werden, als Datenquellen verwendet. Die zentrale Fragestellung ist, auf welche Weise die Komplexität von Inhalten möglichst umfassend wiedergegeben werden kann, ohne die Rezipierenden zu überfordern oder die Daten zu sehr zu vereinfachen und banal zu werden.
Ausgangspunkt für die im Rahmen eines Forschungsprojekts entstandene Dissertation zur Entwicklung einer vielschichtigen Datenvisualisierung war eine Problematik, die sich in organisatorischer Hinsicht im Hochschulbetrieb stellte: Eine neu angetretene Dekanin stand vor ein paar Jahren an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) vor der Herausforderung, die komplexe Organisationsstruktur der dort angesiedelten Fakultät für Bau, Architektur und Umwelt (ENAC) zu überblicken.
Die vorliegende Monografie setzt sich anhand der ENAC als Fallstudie ausführlich damit auseinander, wie mittels Datenvisualisierung eine komplexe Organisationsstruktur wiedergegeben werden kann. Herausgekommen ist die Affinity Map, eine vielschichtige Visualisierung, die sowohl eine Übersicht über die Organisation und die Struktur der EPFL-Labore der ENAC gibt als auch eine Lösung vorschlägt, wie verschiedene Informationsebenen in einer interaktiven Visualisierung dargestellt werden können. Aufgezeigt werden Bezüge innerhalb der Forschung, Organisationsstrukturen, soziale Dynamiken, Wissensnetze und wissenschaftliche Karrierewege sowie Abhängigkeiten im Universitätsmanagement. Die interaktive Datenvisualisierung ist über die Website https://affinitymap.epfl.ch zugänglich. Sie dient einerseits den Hochschulangehörigen selbst, die Struktur zu erkennen oder die eigene Position innerhalb des Gesamtgefüges nachzuvollziehen, kann aber auch von der Öffentlichkeit eingesehen werden. Gewisse Informationen werden aus Datenschutzgründen jedoch nur EPFL-Angehörigen und über eine Anmeldung angezeigt. Das Buch, das auf Englisch und Französisch als «Mapping Affinities» beziehungsweise «Cartographie des affinités» erschienen ist, stellt eine wichtige Ergänzung zur realisierten Visualisierung dar. Die Aussagekraft und die verschiedenen Dimensionen einer solch verschachtelten interaktiven Visualisierung erschließen sich erst dann in ihrer ganzen Tiefe, wenn die einzelnen Bestandteile erläutert und interpretiert werden.
Die Gliederung des Buchs greift verschiedene Aspekte auf, die der Visualisierung zugrunde liegen. Zunächst wird auf vielfältige Bezüge zwischen Personen im Wissenschaftsbereich eingegangen. Die Verbundenheit (affinity) zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wie sie in diesem Buch aufgefasst wird, umfasst gemeinsame Interessen, Komiteemitgliedschaften, Lehrtätigkeit und gemeinsam verfasste Publikationen. Um zu erläutern, wie Daten visualisiert werden können, werden einige klassische Beispiele von Datenvisualisierungen, u.a. mit Bezug auf Edward Tufte, vorgestellt. Auswirkungen auf das Design der Visualisierung hat auch die Organisationsstruktur der EPFL, was entsprechend dargelegt wird. Zur Realisierung der Affinity Map wurden Interviews durchgeführt und Prototypen mit unterschiedlichen EPFL-Angehörigen besprochen. Als Quellen für die Visualisierung dienten Daten aus verschiedenen Systemen, die zur Organisation und Administration des Managements und Wissenschaftsalltags an der EPFL im Einsatz sind. Für die Jahresberichtsdaten etwa wurde eine Graphendatenbank erstellt, um die Akteur-Netzwerk-Theorie zur Anwendung zu bringen. Da lebende Personen involviert sind, werden auch ethische Aspekte der Datennutzung thematisiert. Eine ebenfalls kritische Auseinandersetzung erfolgt mit dem Designprozess: Gestaltung ist einerseits sehr persönlich geprägt, hängt andererseits auch von Einschränkungen, Entscheidungen und Verhandlungen ab und beinhaltet verschiedene Variablen wie Peers, Nutzerinnen bzw. Nutzer und Mittel. Die Designentscheidungen, die letztlich zu einem hexagonalen Netz und einer verschachtelten Visualisierung geführt haben, werden wiederum auf klassische Visualisierungsbeispiele abgestützt. Anschließend folgt eine detaillierte Interpretation der Visualisierung und ihrer Bestandteile. Die Rolle der Betrachtenden von Visualisierungen wird ebenfalls thematisiert genauso wie der Nutzen der Affinity Map für unterschiedliche Interessensgruppen wie die Professorinnen und Professoren der Labore, das EPFL-Management und die Öffentlichkeit. Validiert wurde die Datenvisualisierung zum Abgleich mit der Realität durch Interviews mit einigen Professorinnen und Professoren oder Senior Scientists. Auch unterschiedlich realisierte Präsentationsformen der Datenvisualisierung (z.B. auf einem Bildschirm, als Poster oder als begehbare Installation) werden vorgestellt. Als Ausblick wird auf weitere mögliche Datenquellen hingewiesen, die noch berücksichtigt werden könnten, teilweise jedoch mit persönlichkeitsrechtlichen Problemen verbunden sind. Ebenfalls als interessant erachtet wird ein Transfer der Affinity Map als visuelle Methode auf andere Wissenschaftscommunities.
Das Buch trägt durch die ausführliche Dokumentation und Auslegung des Fallbeispiels zum Verständnis bei, wie komplexe Datenvisualisierungen funktionieren. Innovativ an der Herangehensweise von Dario Rodighiero ist, dass er nicht nur ein Netzwerk erstellt, sondern sich auch um die Knoten kümmert. Die Knoten stehen für ein EPFL-Labor, dem jeweils eine Professorin oder ein Professor vorsteht. In der Kombination verschiedener Diagrammtypen werden die Knoten zu komplexen grafischen Objekten, die zudem innerhalb des Gesamtgefüges vielfältige Beziehungen aufweisen. Das führt zu zahlreichen Ansätzen der Interpretation, die sowohl auf Mikro- als auch auf Makro-Ebene der Visualisierung erfolgen kann. Bei einer solch vielschichtigen Kombination unterschiedlichster Grundtypen von Diagrammen wird deutlich, dass umfassende Datenvisualisierungen ein eigenes Aufgabengebiet darstellen. In dieser Komplexität sind Visualisierungen auf die Datengrundlage und damit auf Einzelfälle abgestimmte Lösungen.
Der inhaltliche Bezug des Buches liegt mit dem EPFL-Fokus im technischen Bereich. Trotz gewisser Unterschiede gegenüber den Naturwissenschaften ließen sich die durch wissenschaftliche und akademische Praktiken erzeugten Beziehungen auch an anderen Universitäten und philosophisch-historischen Fakultäten aufzeigen. Noch interessanter aus geisteswissenschaftlicher Sicht dürfte es jedoch sein, den Ansatz auf die historische Forschung zu übertragen. Durch die Digitalisierung stehen den Geschichtswissenschaften zunehmend historisch relevante Daten als Quellen zur Verfügung, die mittels Datenvisualisierung zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Die Visualisierung großer Datenmengen kann dazu beitragen, historische Zusammenhänge untersuchen zu können, die sonst verborgen blieben. Attraktive Datenvisualisierungen sind auch zur Vermittlung historischer Inhalte, beispielsweise im Kontext einer Museumsausstellung, geeignet.
Mit dem Design-Fokus auf ein spezifisches Problem der komplexen Visualisierung von Daten steht das Buch in der Nähe von zwei anderen Dissertationen. Olivia Vane und Florian Kräutli haben sich beide mit der Visualisierung von kulturellen Sammlungen in interaktiven Zeitstrahlen und damit einer vergleichbar herausfordernden Aufgabe befasst.1 Zu erwähnen ist auch Martin Grandjean, der sich ausführlich mit der historischen Netzwerkanalyse beschäftigt hat.2 Das Forschungsprojekt Repertorium Academicum (REPAC) ist ein weiteres geschichtswissenschaftliches Beispiel, bei dem das europäische Gelehrtennetzwerk zwischen 1250 und 1550 visualisiert wird.3 Zu diesen Beispielen tritt die Arbeit von Dario Rodighiero hinzu, die aufzeigt, dass ein Netzwerk weitergedacht werden kann und zur Darstellung zahlreicher Informationsebenen eine komplexe Darstellung erfordert.
Einhergehend mit der Bedeutung des interdisziplinären Zusammenspiels von Geisteswissenschaften, Informatik und Design in den Digital Humanities ist das Buch auch für die Geschichtswissenschaften relevant. Die digital interessierten Geschichtswissenschaften finden einen Denkansatz, wie historische (z.B. politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche) Verhältnisse und historische digitale Quellen in vielschichtige Visualisierungen übersetzt werden können, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Das Buch dient somit als Denkanstoß für Forschungsprojekte im Bereich der digitalen Geschichtswissenschaften.
Anmerkungen:
1 Florian Kräutli, Visualising Cultural Data. Exploring Digital Collections through Timeline Visualisations, Dissertation, London 2016, https://researchonline.rca.ac.uk/1774/1/kra%CC%88utli_florian_thesis_phd_2016.pdf (22.04.2022); Olivia Vane, Timeline Design for Visualising Cultural Heritage Data, Dissertation, London 2019, https://researchonline.rca.ac.uk/4325/1/TimelineDesignForVisualisingCulturalHeritageData_OliviaVane_redacted.pdf (22.04.2022).
2 Martin Grandjean, Les réseaux de la coopération intellectuelle. La Société des Nations comme actrice des échanges scientifiques et culturels dans l’entre-deux-guerres, Dissertation, Lausanne 2018, https://serval.unil.ch/resource/serval:BIB_8576D4084057.P001/REF (22.04.2022).
3 Repertorium Academicum (REPAC), https://repac.ch (22.04.2022).