C. Günther: Die metahistoriographische Revolution

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Titel
Die metahistoriographische Revolution. Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur


Autor(en)
Günther, Clemens
Reihe
Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte
Erschienen
Köln 2021: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
546 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Freise, Seminar für Slavische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Der Slavist Clemens Günther unternimmt mit seinem Buch eine Neudefinition des Begriffs „Revolution“ in Bezug auf die sonst allgemein als Zeit der Stagnation bezeichnete spätsowjetische Periode von 1970 bis 1990, aber auch auf die postsowjetische Zeit bis 2017. Nicht Umstürze und Machtwechsel, sondern die tektonischen Verschiebungen im Denken konstituierten nach Günther die eigentlichen und folgenschweren sozialen Umwandlungen. Diese Neudefinition stützt sich auf Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael – etwas ärgerlich, dass dieser überhaupt erst zweite Literaturhinweis der Monographie im Literaturverzeichnis nicht zu finden ist – sowie auf Ariane Leendertz‘ und Wencke Metelings Definition von „Bezeichnungsrevolutionen“. Nach Günther manifestiert sich eine solche Revolution vor allem im Zeitverständnis und im Geschichtsdenken. Diese wiederum sind vor allem ablesbar an metahistorischen literarischen Fiktionen, d.h. an Literatur, die nicht etwa die Geschichte neu bewertet, sondern „historisches Erzählen auf seine epistemischen Voraussetzungen befragt“ (S. 16). Das Meta der im Titel genannten Metahistoriographie ist also nicht das Meta des Literaturhistorikers, sondern des literarischen Textes selbst, der damit nicht nur literarische Fiktion, sondern zugleich wissenschaftlich-epistemologische Reflexion ist. Metahistorische bzw. metahistorisch zu lesende Romane sind somit keine „historischen Romane“ im klassischen Sinn. Ebenso wenig thematisieren sie historische Traumata, Erinnerungskultur oder Postmemory-Phänomene.

Diese metahistorische russische Literatur des Spätsozialismus manifestiert sich nach Günther in einer Vielzahl literarischer Werke – von den Romanen Andrej Sinjavskijs und Jurij Trifonovs, die traditionell noch den „Sechzigern“ zugeordnet werden, über die „peripheren Standpunkte“ Mark Charitonovs und Semen Lipkins, die Perestrojka-Autoren Svetlana Aleksievič und Vjačeslav Kuprijanov, den gewöhnlich der Postmoderne zugeordneten Evgenij Popov, die post-Postmoderne Ljudmila Ulickaja bis hin zu Boris Akunin, Tat’jana Tolstaja und Evgenij Vodolazkin. Dabei kündigt Günther an, im traditionellen Sinne literarische Verfahren und narrative Strategien, Metafiktionalität und Intertextualität zu untersuchen, allerdings nicht als Analysen einzelner Werke, sondern als Rekonstruktion allgemeiner Erzählmodi. Sodann geht es ihm um Literatur als gesellschaftliche Selbstbeschreibung und die Funktion des Literarischen im Prozess der fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung in der Sowjetgesellschaft.

Ein kurzer Abriss der geschichtstheoretischen Diskussion schließt den knappen, aber konzisen Theorieteil ab. Ganz am Schluss der Monographie wird die Theoriediskussion dann noch einmal aufgegriffen. Günther plädiert gegen die in der Forschung vorherrschende kulturpessimistische und antiutopische Sichtweise auf die postsowjetische Gesellschaft – vor allem bei Mark Lipovecki und Mark Amusin – und für ein historisches Entwicklungsmodell „ohne Zeitschleifen“. Sicherlich ist die aktuelle „Rückkehr der großen Erzählungen“ nicht mit der subversiven spätsowjetischen Literatur zu vergleichen. Man kann sich allerdings fragen, ob das ein Fortschritt ist.

Es folgt in dem Buch dann der Durchgang durch das Werk der vielen behandelten Autoren, mit manchmal etwas gewollt metahistoriographischem Bezug, aber immer mit gutem analytischem Blick. So zeigt Günther die Renaissance der Phantastik in der Folge der verspäteten Veröffentlichung von Bulgakovs Master i Margarita nach. Das semifiktionale Werk von Svetlana Aleksievič wird, so Günther, durch die prinzipielle „Artefaktualität“ des Dokumentarischen von den Bedenken sowohl der Historiker als auch der Literaturwissenschaftler befreit. Evgenij Popovs Fußnotenprosa wird in Nabokovscher Tradition metapoetisch, allerdings nicht unbedingt metahistorisch ausgewertet. Vor dem Hintergrund der Ideen Foucaults betrachtet Günther sodann, wie die von Ivan Bunin begründete und von Veniamin Kaverin im Stalinismus wieder infrage gestellte Literarisierung des Archivs im Postperestroika-Werk Zakharovs und Ulickajas erneut aufgegriffen wird. Die Musealisierung der Kultur wird literarisch im Werk Lopušanskijs und Sokurovs erlebbar. Den Psychiatrie- und Irrenhausdiskurs im sowjetischen Untergrund (Mamleev, Sokolov, V. Erofeev) und im postsowjetischen Diskurs (Pelevin, Makanin) verlängert Günther durch Untersuchungen am Werk Vladfimir Šarovs und Jurij Budas in Richtung Identitäts-, Religions- und Kreativitäts-Diskurse. Am Beispiel eines Essays von Viktor Erofeev wird der Verlust außerliterarischer Funktionen in der postsowjetischen russischen Literatur rekapituliert. Schließlich wird die neue Serialität des Erzählens am Beispiel des Kriminalautors Boris Akunin untersucht. Dann wendet sich Günther dem in Russland relativ jungen Phänomen der populären Massen- und Unterhaltungsliteratur zu. In einem Exkurs werden der postsowjetische Literaturbetrieb und Literaturmarkt untersucht.

In einem Zwischenfazit stellt Günther unter Rückgriff auf Luhmann und Eisenstadt fest, dass die spätsowjetische Gesellschaft erstens der westlichen nicht einfach dichotomisch als antimodern gegenübergestellt werden kann. Zweitens war sie nicht erst mit der Perestroika, sondern bereits mit dem Ende des Stalinismus unterwegs von einer Organisationsgesellschaft zu einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft mit mancherlei Gemeinsamkeiten zu den westlichen Gesellschaften. Darum hat, drittens, die sowjetische Literatur durch „tacid agreements“ viel früher Freiräume genutzt, die ihr offiziell erst mit der Perestroika zugestanden wurden. Dadurch wird die spätsowjetische Periode zu einer Latenzzeit und das Ende des sowjetischen Gesellschaftsmodells zu einer kaum merklichen Epochenschwelle.

Schließlich erreicht die Monographie im Kapitel zur Ereignishaftigkeit der Metahistoriographie ihren eigentlichen argumentativen Kern – die Beziehung zwischen Narration und Geschichtlichkeit. Die darin besprochenen literarischen Werke lassen sich nun tatsächlich auch im engeren Sinne als metahistoriographisch verstehen. Günther konstatiert in diesem Kapitel zunächst für die russische Literatur seit 2000 eine neue, soziologisch-historisch begründete Veränderung im Umgang mit dem zentralen narrativen Verfahren der Ereignishaftigkeit. Dann untersucht er die metahistoriographische Dimension in Tat’jana Tolstajas 2000 erschienenem postapokalyptischen Roman „Kys‘“, dann in Evgenij Vodolazkins Romanen „Lavr“ und „Aviator“, in Alisa Ganievas „19-17“ und in Aleksandr Titovs „Čičičiletie“. In diesem Kapitel wird indes auch deutlich, welchen Preis Günther für die nur selektive Analyse der von ihm besprochenen Werke zahlt. Die Ereignishaftigkeit kann auf diese Weise nämlich gerade nicht hinsichtlich ihres semantischen Potentials untersucht werden, sondern nur thematisch hinsichtlich des Umgangs der fiktiven Figuren mit historischen Ereignissen oder mit phantastischen Verschiebungen von Zeitlichkeit. Zwar zieht Günther aus diesem Umgang wichtige Schlüsse zum Umgang mit Geschichte im spät- und postsowjetischen Russland. Narratologisch ist der Ertrag dieser Methode aber eher mager, und das, obwohl die Monographie insgesamt eher eine Anbindung für Literaturwissenschaftler an die Geschichtstheorie als umgekehrt eine literarische Inspirationsquelle für Historiker bietet. Gleichwohl leistet Clemens Günther einen interessanten Längsschnitt durch 50 Jahre russische Literatur mit mancher überraschenden Neuperspektivierung.

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