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Titel
Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen


Herausgeber
Meier, Mischa
Erschienen
München 2007: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Krautschick, Berlin

Es ist kleidsame Mode geworden, historische Themen einem breiteren Publikum näher zu bringen. Unter der Herausgeberschaft des Tübinger Althistorikers Mischa Meier hat sich daher eine Reihe renommierter und bestallter Historikerinnen und Historiker zusammengefunden, um mittels biographischer Essays „schlaglichtartig“ die auf den Ergebnissen der Forschung der letzten Jahrzehnte zu Spätantike und Frühmittelalter gewachsene Erkenntnis zu verbreiten, welch wichtige „Weichenstellungen“ in dieser „Formierungsphase“ des christlichen Abendlandes erfolgten („Eine Europa-Idee im modernen Sinne existierte nicht […]“, S. 8). Wie Mischa Meier in der Einleitung (S. 7-11) meint, lässt sich die „Kette unterschiedlichster historischer Prozesse“ zwar nicht „auf das Handeln von Einzelpersonen reduzieren“, aber „zumindest ansatzweise in dieser Art erzählen“. Die Auswahl der Glieder dieser Kette „der zu diesem Zweck präsentierten Persönlichkeiten“ ist zugegebenermaßen subjektiv; sie greifen in den rund 500 Jahren von Konstantin bis zu Karl dem Großen auch nicht zwanghaft nahtlos ineinander.

Da viele der Essays auf die Vor-, einige auch auf die Wirkungsgeschichte dieser Personen eingehen, einzelne sich sogar auf letztere kaprizieren, bleibt der Zusammenhang der divergierenden und konvergierenden Entwicklungen jedoch gewahrt, die angesichts der Fülle hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden können. Der Schwerpunkt liegt auf den anderthalb Jahrhunderten vom zweiten Viertel des 5. bis zum dritten Viertel des 6. Jahrhunderts; allein der Hälfte der historischen Portraits stammen aus dieser Epoche, während ein Viertel der Lebensskizzen das 8. Jahrhundert erfasst und auf die Basis des europäischen Mittelalters verweist. Ein Fokus liegt auf den Auswirkungen der so genannten germanischen Völkerwanderung und auf den Ausprägungen germanischer Herrschaftsbildungen auf dem Gebiet des Römischen Reichs, woran in den letzten vierzig Jahren die wissenschaftliche Auffassung von den Ethnogenesen der europäischen Völker ansetzte.1

Entsprechend finden sich in den Titeln der 20 Artikel elf Könige, zehn germanische und ein hunnischer, sieben Kaiser, drei römische und drei byzantinische (unter ihnen als einzige Frau Irene, für fünf Jahre basileus) sowie der erste Titelträger fränkischer Provenienz, ein spätantiker Heermeister, ein Papst, ein persischer Großkönig, der Religionsstifter des Islam und ein Kalif; zusammengerechnet sind dies sechzehn Christen, unter ihnen vier oder, wenn man den ersten christlichen Kaiser hinzurechnen will, fünf Arianer, zwei arabische Muslime, ein Zoroastrier und drei Heiden, also Anhänger germanischer Mythologie bzw. eines vorderasiatischen naturverbundenen Schamanismus. Mag man über die getroffene Auswahl der dargestellten Individuen – vier tragen nach historiographischem Herkommen das Epitheton „der Große“ – streiten, es handelt sich aber in jedem Fall um wichtige Repräsentanten der Entwicklungen zum christlichen Abendland und konkurrierender Zeitströmungen, „deren Bedeutung für die europäische Geschichte zumeist erst Jahrhunderte später deutlich wurde“ (S. 10) und insgesamt um Inhaber politischer Macht. Auf politische Entscheidungen und Abläufe hat die Geschichtswissenschaft die ethnogenetischen Prozesse zurückgeführt, die zur Zeit Karls des Großen die Konturen des mittelalterlichen Europa erkennen lassen; an den ausgewählten Personen – gegebenenfalls sogar an ihrem Scheitern – wird so beispielhaft das Entstehen der mittelalterlichen Welt aus dem Zerfall des römischen Weltreichs gezeigt. Die Auswahl umfasst geographisch – neben Vorderasien und einem bisschen Nordafrika – nur Süd- und Westeuropa; Slawen, Bulgaren, Ungarn oder Skandinavier finden sich nicht unter den Porträtierten.

Trotz der manchmal recht überraschenden Auswahl sind die roten Fäden zwischen den einzelnen Beiträgen doch zu erkennen, wenn auch nicht immer durchgängig und in jedem Einzelfall unmittelbar. Bei dieser Orientierung helfen die in den Aufsatztiteln mit dem Namen der portraitierten Person regelmäßig durch ein „und“ verbundene Schwerpunktsetzung und der jeweils gewählte Untertitel. Einer dieser Fäden betrifft die Entwicklung der christlichen Religion und der Kirche und zieht sich vom ersten christlichen Kaiser über die Herausbildung von Staatskirche und Papsttum über dogmatisch-schismatische Knoten und Übernahme staatlicher Funktionen bis zum Bündnis zwischen Papst und abendländischem Kaiser. Die meisten Autoren nutzen die Gelegenheit, befreit vom Ballast des wissenschaftlichen Apparats, auf essayistische Art ein Portrait zu entwerfen, das in die Galerie der „Gründergestalten“ Europas passen mag, mit Bedacht: Gleich welcher Ansatz für die mal mehr, mal weniger gelungene literarische Darstellung gewählt wird, sei es Geburt oder Tod, sei es ein besonders bezeichnendes Quellenzeugnis oder der historische Kontext, fast alle Beiträge bieten umfassende und informative Kurzbiographien. Uneingeschränkt zählen dazu die Artikel von Hartwin Brandt über Konstantin den Großen (S. 13-26), von Hartmut Leppin über Theodosius den Großen (S. 27-44) und Justinian I. (S. 176-194), von Mischa Meier über Alarich (S. 45-62), von Uwe Walter über Geiserich (S. 63-77), von Eckhard Wirbelauer über Leo den Großen (S. 78-92), von Wolfram Brandes über Herakleios (S. 248-258) und von Dirk Jäckel über Leon III. (S. 259-272) sowie Bruno Bleckmanns ‚Doppelbiographie‘ von Attila und Aetius (S. 93–110). Bleckmann schildert sie nicht nur als Gegenspieler, die sich zur Entscheidungsschlacht um den Bestand des Römischen Reiches auf den Katalaunischen Feldern trafen; Attila wird auch als Hunnenkönig porträtiert, dessen Machtkonzentration dem Reich an dessen Nordgrenze möglicherweise auf dem Höhepunkt der Krise sogar eine Verschnaufpause in den Kämpfen mit der Vielzahl anstürmender Barbarenvölker verschaffte; Aetius wird auch als Patricius par excellence beschrieben, dessen Machtstreben zwar Voraussetzung für die Verteidigung des Reiches, aber eben auch innere Ursache für seinen folgenden Verfall war. Der plötzliche Tod der beiden Konkurrenten um die Rolle des Wächters Roms (S. 104) binnen eines Jahres setzte dann die Kräfte frei, die die Zersplitterung Europas herbeiführten.

Nicht alle Essays kann man aber im eigentlichen Sinn „biographisch“ nennen: Rene Pfeilschifter etwa stellt sich am Ende seines Aufsatzes über das eher mythische Brüderpaar Hengist und Horsa (S. 111-123), das ihm eigentlich nur den Anlass bietet, die „Gründerzeit“ (S. 121) des angelsächsischen Britannien an der äußersten Peripherie römischen Einflusses bis ins 8. Jahrhundert darzulegen, zurecht die Frage, ob für diese Absicht nicht ein anderer Protagonist besser geeignet gewesen wäre, etwa der allerdings kaum weniger sagenhafte Artus, dessen allgemein angenommene Identität mit „einem Arthur“ Pfeilschifter seltsamerweise nicht einmal andeutet (vgl. S. 117) und dessen Namen andere 2 gerade als signifikant für dieses Zeitalter betrachten. Von Eurich ist bei Sabine Panzram (S. 124-140) ebenfalls nur zum geringsten Teil die Rede, geht sie doch mehr auf dessen Nachfolger ein, um über die westgotische Reichsbildung auf der iberischen Halbinsel und deren Übergang zum Katholizismus als Bedingung für deren Dauer zu berichten; sie braucht dann folgerichtig auf die einzige, deutschsprachige Monographie über diesen interessanten Repräsentanten des Machtwechsels in der Spätantike auch nicht hinzuweisen.3 An einigen weiteren Beiträgen seien einzelne Aspekte hervorgehoben: Bernhard Jussen (S. 141-155) betont sehr stark die Gunst der Umstände, die Chlodwig bei der Durchsetzung seiner Herrschaft zugute kamen und dem Merowingerreich sowohl Bestand wie Nachfolgestaaten bescherten. Theoderichs des Großen letztlich erfolgloses Gegenmodell einer Machtteilung und eines Zusammenwirkens von eingesessener und zugewanderter Bevölkerung zu beiderseitigem Nutzen im italischen Ostgotenreich bringt Hans-Ulrich Wiemer (S. 156-175) prägnant auf den Gegensatz „Integration durch Separation“; merkwürdig mutet es aber an, wenn er (S. 174) ein altes Missverständnis weitergibt und Theoderichs Tochter Amalasuntha als Theodahads „königliche Gemahlin“ bezeichnet, hatte sie doch ihren Vetter zwar zum Mitregenten, nicht aber zu ihrem Ehemann gemacht. Walter Pohl (S. 216-227) deutet Alboins Lebenswerk und die unfertig gebliebene Reichsbildung der Langobarden aus den fast ausschließlich legendären Berichten und gibt mit seinen aufschlussreichen Bemerkungen über die Art und Wirkungsweise der Überlieferung auch Fachhistorikern Anstöße zum Nachdenken. Max Kerner (S. 273-286) gelingt es, für Pippin – den Jüngeren – insbesondere die Motivation der Karolinger zur engen Verbindung mit dem Papsttum aufzuzeigen.

Wie Hartmut Bobzin mit Muhammad (S. 228-247) und dem Islam, der nach Einigung der Araber und seinen großräumigen Eroberungen das südliche Mittelmeer umspannte, so führt auch Josef Wiesehöfer mit Chusro I. (S. 195-215), stellvertretend für alle Sasaniden, die mehr als die Hälfte des hier umrissenen Zeitraums die Gegner Roms im Osten darstellten, einen Kontrahenten in die Sammlung der Gründerväter Europas ein, ohne allerdings diese Rolle zu reflektieren. Der häufig mit seinem gleichnamigen Enkel vermengte König Chusro, dessen gräzisierter Name Chosroes vielleicht geläufiger ist, dürfte hierzulande noch am ehesten aus den orientalischen Märchen von 1001 Nacht bekannt sein, ebenso wie auch der Kalif Hārūn ar-Rašīd; sein Lebensbild von Peter Thorau (S. 295-307) wird von den Darstellungen der byzantinischen Kaiserin Irene durch Wolfram Brandes (S. 287-294) und Karls des Großen durch Matthias Becher (S. 308-326) eingerahmt. Obwohl Brandes die Kaiserin Irene – abgesehen „von der Einführung der Bilderverehrung“ – nur „als Frau“ in der „Männerdomäne der direkten kaiserlichen Machtausübung“ für „interessant“ hält (S. 294) und so fast zur Alibi-Frau heutiger political correctness entwertet und Becher in seinem Beitrag hauptsächlich auf Karls innere, das heraufsteigende Mittelalter prägende Ausgestaltung der Herrschaftsausübung eingeht, schließt sich mit diesen drei als Repräsentanten der drei frühmittelalterlichen Machtzentren um das epochale Jahr 800 eben auch der Kreis des hinter diesem Buch stehenden Konzepts einer Verwandlung des mediterranen Imperium Romanum zum polyzentrischen Mittelalter.

Das Essay von Meret Strothmann (S. 327-341) führt zum Schluss des Bandes die vielen Entwicklungslinien der „zwei Europa“ zusammen, die in der „Dichotomie aus Ost und West“ und dem mit dem Kaisertum Karls des Großen formierten christlich-lateinischen Abendland münden. Bei allem Risiko, missverstanden oder missdeutet zu werden, ist der Versuch, die historischen Veränderungen personell verkörpern zu lassen, jedenfalls geglückt. Interessierte, aber unvorbereitete Leser finden so vielleicht eher einen „persönlichen“ Zugang zur neuen Sicht auf die Entstehung Europas, Fachleute entdecken hier gewiss die eine oder andere überraschende, bedenkenswerte Anregung. Dem dienen ebenfalls die den einzelnen Beiträgen beigegebenen Hinweise auf – öfters auch ältere – Spezialliteratur; die sporadisch eingefügten Abbildungen und insbesondere die ab und an abgedruckten historischen Karten sind eine hilfreiche, den Text auffrischende Zugabe. Mit Freude liest man dieses Buch auch wegen der verwendeten älteren deutschen Rechtschreibung, bei Matthias Becher (S. 312) mit Vergnügen zudem das etymologisch eigentlich richtig geschriebene Wort „Szepter“.

Anmerkungen:
1 Gerade im Gefolge von Wenskus, Reinhard, Stammesbildung und Verfassung, 2. Aufl., Köln u.a. 1977 u. Wolfram, Herwig, Geschichte der Goten, München 1979 (Die Goten, 4. Aufl., München 2001).
2 Vgl. etwa Morris, John, The Age of Arthur, London 1973.
3 Stroheker, Karl F., Eurich, Stuttgart 1937.

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