H. Kuprian u.a. (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg im Alpenraum

Cover
Titel
Der Erste Weltkrieg im Alpenraum / La Grande Guerra nell' arco alpino. Erfahrung, Deutung, Erinnerung / Esperienze e memoria.


Herausgeber
Kuprian, Hermann; Überegger, Oswald
Reihe
Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs. Pubblicazioni dell archivio provinciale di Volzano 23
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 480 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Gunda Barth-Scalmani, Universität Innsbruck

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg hinkt in Österreich noch immer mit einer gewissen Zeitverzögerung dem internationalen Diskurs hinterher.1 In den österreichischen Bundesländern ist die Beschäftigung mit diesem Thema recht unterschiedlich. In Tirol ist sie vergleichsweise intensiv, weil durch die Abtrennung Südtirols (Vertrag von Saint Germain 1919) der vorangegangene Krieg in den populären Erinnerungsmedien präsent blieb. Sowohl an der Tiroler Landesuniversität als auch außerhalb gibt es seit rund 15 Jahren in Nord- und Südtirol Brennpunkte (zum Beispiel die jeweiligen Landesarchive) der modernen Beschäftigung mit dem „Großen Krieg“. Absicht der Herausgeber war es, die raumspezifischen Besonderheiten des Krieges im Alpenraum und die Wechselwirkungen zwischen Krieg und Hinterland zu thematisieren, also die materiellen Folgen des Krieges für die Zivilgesellschaft ebenso in den Blick zu nehmen wie die durch den Krieg initiierten weitreichenden ideologischen, mentalen oder psychosozialen Veränderungsprozesse. Damit sollte die Vielfalt der neuen methodischen und inhaltlichen Zugangsweisen mit dem Blickpunkt auf einen Kriegsschauplatz gezeigt werden, der in der internationalen Weltkriegshistoriographie mit ihrer Konzentration auf die Westfront fast verschwindet, wenn auch nicht gänzlich in jenes dunkle Loch der Nichtwahrnehmung, in dem die Ostfront international lange war.

Der Band ist in fünf thematische Abschnitte gegliedert, denen ein Beitrag von Holger Afflerbach vorausgestellt ist (Vom Bündnispartner zum Kriegsgegner. Ursachen und Folgen des italienischen Kriegseintritts im Mai 1915). Er will bei aller Ausdifferenzierung der Militärgeschichte nicht vergessen lassen, dass Krieg auch immer ein politischer Vorgang ist. Dementsprechend kritisch bewertet er – in Auseinandersetzung mit der italienischen Historiographie – den italienischen Kriegsentscheid als eine politische Katastrophe, deren Kosten (Tod und Leiden der Bevölkerung) den territorialen Gewinn nicht rechtfertigten und das politische System Italiens so nachhaltig veränderten, dass der Faschismus Nährgrund fand.

Der erste thematische Block (Gebirgskrieg – Gebirgskrieger – Kriegshelden: Mythos und Realität) bündelt fünf Beiträge. Christa Hämmerle untersucht das Bild des Frontkämpfers und die damit verbundenen Botschaften in den Erinnerungsbüchern des Artillerieoffiziers Fritz Weber (1895-1972), die in den 1930er-Jahren und noch nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet waren. Weil leicht zugänglich, werden sie auch heute als illustrative Quelle für Kriegserfahrungen häufig herangezogen. Weber thematisiert das Grauen des industrialisierten Krieges am Isonzo oder in den Sperrforts in den Dolomiten, die Kameradschaft von Männern im Gefecht im Gegensatz zur verantwortungslosen Militärbürokratie. Zugleich wird damit aber ein ganz spezifisches Männerbild transportiert – der ehrenvoll zupackende Vaterlandsverteidiger etwa – und damit die durch die realen Kriegserlebnisse zerstörte bzw. angekratzte idealisierte Männlichkeit wieder auf- und für die politischen Auseinandersetzungen der 1930er-Jahre ideologisch richtig zugerüstet.

Maria P. Critelli zeigt, wie Vorkriegsmythen und die italienische Propaganda den Heldentod in den Bergen mit einem quasireligiösen Sinn aufluden. Fernando Esposito beschäftigt sich mit dem Heldentum als Topoi medialisierter Kriegserfahrungen deutscher und italienischer Flieger. Marina Rossi analysiert anhand der Autobiographie eines slowenischen k.u.k. Offiziers die nationalen Vorkriegsmythen (Slowenen versus Italiener) und Genderspezifika (Krieg braucht Helden). In Thomas Speckmanns Studie über die Aufzeichnungen von Hugo Dornhofer wird die Desillusionierung eines Tischlers an der Isonzo-Front greifbar, das Auseinanderklaffen von Fronterlebnis („Kameradschaft“) und Heimatsphäre (Zerfall der vertrauten Vorkriegswelt) als Beginn der eigenen Politisierung.

Das zweite Großkapitel ist der Heimatfront gewidmet. Ralph Rotte zeigt anhand von Publikationen des „Deutschen und Österreichischen Alpenvereins“ von 1915-18, dass der Einfluss der deutschen Kriegsideologie nicht so stark war, wie es die bürgerliche Prägung des Vereins erwarten ließe. Enrica Bricchettos Beitrag ist der Medien- und Kommunikationspolitik zweier der Intervention freundlich gesinnter Zeitungen (Corriere della sera, Gazetto del popolo) gewidmet. Claudia Schlager greift mit der deutschen und österreichischen Herz-Jesu-Verehrung das Thema der religiösen Glaubenspraktiken im Krieg auf, das bis dato in der deutschsprachigen Weltkriegshistoriographie im Gegensatz zur französischen noch wenig bearbeitet wurde. Martin Moll stellt methodische Überlegungen vor, wie die Heimatfront in Zeiten eines totalen Krieges am Beispiel des gemischtsprachigen Kronlandes Steiermark dargestellt werden kann.2 Er verweist dabei auf das Spannungsfeld zwischen gesamtstaatlichen Vorgaben, deren administrativer Umsetzung auf Kronlandsebene und den praktischen Aushandlungsstrategien auf Bezirksebene, die zu permanenten Konflikten und ad-hoc-Maßnahmen führten. Bruna Bianchi analysiert den populären Protest und die Wirtschaftskrise in Venedig, das aufgrund der Frontnähe einer militärdiktatorischen Verwaltung unterstand. Ingrid Böhler stellt am Beispiel der Textilstadt Dornbirn dar, dass für die Zivilbevölkerung der Krieg 1918 noch nicht zu Ende war.

Das Kapitel „Entheimatungen“: Flucht – Vertreibung – Gefangenschaft, greift ein Thema auf, das für die Auswirkungen des Krieges im Alpenbogen (wie übrigens auch an der Ostfront) charakteristisch ist, weil hier die Militärverwaltung die eigene Bevölkerung der Operationsräume zwangsweise wegbrachte bzw. die Kriegsumstände als Anlass nahm, national differente Gruppen unter dem Verdacht der politischen Unzuverlässigkeit in großem Maßstab ins Hinterland abzuschieben. Derartige „Entheimatungen“ (in Österreich insgesamt vermutlich bis 2 Millionen Menschen) und ihre unsensible Handhabung durch die österreichischen Behörden wirkten oft auf bis dahin nicht politikaffine Menschen als Katalysator nationaler Bewusstseinswerdungen (Hermann Kuprian, Daniele Ceschin). Alan Kramer stellt die These auf, dass die schlechte Behandlung der italienischen Kriegsgefangenen seitens der Österreicher, die zu einer Sterblichkeitsrate von 20% führte, nicht bloß militärischem Kalkül und der schlechten Versorgungslage geschuldet war, sondern einer mentalitätsgeschichtlichen Disposition zur Demütigung des abtrünnigen Dreibundpartners. Einen Überblick über italienische Forschungen zu österreichischen Soldaten in italienischer Kriegsgefangenschaft gibt Alessandro Tortato. Christoph Jahr beschäftigt sich mit dem Umgang der Bürokratie mit „Feindstaatenausländern“ im südlichen Bayern, die von Erfassung über Aussonderung zu Internierung ging und in den Fundus von administrativen „Erfahrungen“ gehört, auf die rund 20 Jahre später die NS-Führung zurückgreifen konnte.

Im vierten Abschnitt „Psyche und Körper“ behandeln Hans-Georg Hofer und Andrea Scartabellati deutsch- und italienischsprachige Diskurse über die Kriegsneurosen als Auseinandersetzungen über die Männlichkeitskonstruktion von Kriegern in einem industriell geführten Krieg. Elisabeth Dietrich-Daum zeigt am Beispiel von Tbc-erkrankten Soldaten, wie deren Rückführung an die Front oberste Behandlungsmaxime war. Oswald Überegger fragt nach der Bedeutung des Krieges für die herrschenden soziosexuellen Strukturen am Beispiel der kriegsgesellschaftlichen Diskurse über die Geschlechtskrankheiten und des konkreten Umgangs mit diesen und vergleicht dazu militärische, zivile-medizinische und religiöse Diskurse. Edith Leisch-Prost und Verena Pawlowsky stellen den Aufbau der Kriegsopfer- und Kriegsinvaliditätsversorgung im neuen Österreich nach 1918 dar.

In der letzten Sektion sind Beiträge zu Erinnerungskulturen und Erfahrungsorten des Krieges versammelt: Fokus dafür sind vor allem Friedhöfe in den „neuen eroberten“ oder alten italienischen Gebieten und ihre im wechselnden politischen Kontext der 1920er- und 1930er-Jahre unterschiedlich gepflogenen privaten oder staatlichen Memorialpraktiken (Lisa Bregantin, Nils Arne Sørensen, Marco Mondini).3 Werner Suppanz analysiert die Deutung des Kriegsgeschehens an den Fronten Italiens für das „vaterländische Geschichtsbild“ des Austrofaschismus in Österreich 1934 bis 1938. Mit der Betonung der Rolle der Deutschösterreicher in diesen Kämpfen, ihrer ruhmreichen Taten, auch wenn diese letztendlich dem Untergang geweiht waren, wurde eine Verbindung zwischen der Gegenwart des neuen Österreich des Ständestaates und der vergangenen Größe der Habsburgermonarchie hergestellt. Christoph Koller behandelt die schweizerische „Grenzbesetzung 1914/18“ als Erinnerungsort um in den 1930er-Jahren Aufrüstung zu legitimieren und die aus dem Bild der verteidigungsbereiten bäuerlichen Landessöhne bis dato ausgeblendeten Gruppen zu integrieren.

Die Herausgeber, die in ihrem Band die Beiträge auf Deutsch bzw. Italienisch mit einer Zusammenfassung in der jeweils anderen Sprache edieren, verfolgen damit das Ziel, zwei noch immer oft parallel nebeneinander verlaufenden Historiographien zum Ersten Weltkrieg stärker ins Gespräch zu bringen und neue methodische Ansätze zu kontrastieren. Der Titel „Der Erste Weltkrieg im Alpenraum“ zeigt aber einen wohl nicht zufälligen blinden Fleck: Die meisten Beiträge, die nicht eine überregionale Fragestellung haben, nehmen auf den Dolomitenraum Bezug, die daran angrenzenden im Alpenbogen liegenden Räume sind kaum (Veneto, Steiermark) bis gar nicht (Kärnten, Slowenien) vertreten. Dies ist wohl weniger einem engen geografischen Begriff von Alpenraum geschuldet, sondern hängt mit dem in den Köpfen meist noch immer getrennt wahrgenommenen Kriegen in den Dolomiten auf der einen und am Isonzo auf der anderen Seite zusammen. Weder war der eine nur eine ritterliche Auseinandersetzung von Bergführern oder der andere nur ein moderner technikbasierter (Giftgas, Artillerie im Karst) Krieg. Beide haben hinsichtlich der militärischen und zivilen Erfahrungen der Zeitgenossen, der nachträglichen Deutungsgeschichte und der Erinnerungskultur mehr gemeinsam als sie trennt. Diese Beobachtung schmälert aber nicht den Wert dieses Bandes, dem man – übrigens benutzerfreundlich mit einem Orts- und Personenregister ausgestattet – vor allem jenseits des historischen Raumes Alttirols Verbreitung wünscht.

Anmerkungen:
1 Vgl. Oswald Überegger, Vom militärischen Paradigma zur Kulturgeschichte des Krieges. Entwicklungslinien der österreichischen Weltkriegsforschung, in: Ders. (Hrsg.), Zwischen Nation und Region. Weltkriegsforschung im internationalen Vergleich. Ergebnisse und Perspektiven, Innsbruck 2004, S. 64-112.
2 Vgl. Martin Moll, Kein Burgfriede. Der slowenisch-deutsche Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900 – 1918, Innsbruck 2007.
3 Vgl. die Ausführungen von B. Strauss zu den Friedhöfen auf der österreichischen Seite des Dolomitenkrieges: Große Geschichte am kleinen Friedhof. Der österreichische Soldatenfriedhof Nasswald bei Toblach (1915-1943), in: Der Schlern 2004, 78. Jg., Heft 12, S. 40-49 sowie jüngst O. Janz, Il culto die caduti, in: Daniele Ceschin / Mario Isnenghi (Hrsg.), La Grande Guerra. Dall’intervento alla „vittoria mutilata“, Turin 2008, S. 905-916.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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