W. Bleek: Geschichte der Politikwissenschaft

Titel
Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland.


Autor(en)
Bleek, Wilhelm
Erschienen
München 2001: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Hacke

Es ist langweilig geworden, die Geschichte der deutschen Politikwissenschaft lediglich als Ausläufer des alliierten Reeducation-Programms zu schreiben. Die Vertreter des nach 1945 begründeten Faches suchen nach einer weiter zurückreichenden Tradition, wie sie sich etwa in den Nachbarwissenschaften der Geschichte, Soziologie oder Philosophie finden läßt. Daß dabei einige spezifisch deutsche Erblasten abzuarbeiten sind, begreift man eher als Vorteil, sichert doch die Freilegung "brauner Wurzeln" stets öffentliche Aufmerksamkeit, trägt zur mittlerweile gefahrlosen eigenen Profilierung bei und ist meistens unschwer zu belegen.

Der Bochumer Politologe Wilhelm Bleek erkennt die Ursprünge der deutschen Politikwissenschaft im Mittelalter und erhebt damit einen gewissen Originalitätsanspruch. Bleek geht es darum, die "alten Fundamente" des Faches freizulegen - "Reputation durch Tradition" heißt seine Formel.

Nun scheint es nicht allzu überraschend, daß auch vor 1945 schon in Deutschland politisch gedacht und politisch philosophiert worden ist, wenn auch noch niemand von "politischer Wissenschaft" gesprochen hat. Bleeks Anspruch beeindruckt zunächst: Nicht nur strebt er eine Integration von Ideengeschichte, Gelehrtengeschichte, Universitätsgeschichte, Sozialgeschichte und Politikgeschichte an, sondern auch eine "synoptische Konzeption der Wissenschaftsgeschichte". So etwas darf freilich jeder in seiner Einleitung flott schreiben - nur schade, wenn diese Vorsätze nichts mit den folgenden 430 Seiten zu tun haben. Bleek entscheidet sich nicht, unter welcher Fragestellung er der wissenschaftlichen Behandlung von Politik nachgehen möchte. Etwas schwerfällig quält er sich durch die Anfänge der Politiklehre im Mittelalter, die an Aristoteles Dreiteilung von Ökonomik, Ethik und Politik anschloß, und deren Diversifizierung im Rahmen der Staatswissenschaften im frühneuzeitlichen Staat, ohne daß hier mehr gewonnen wird als in zahlreichen vortrefflichen Handbüchern des Staatsrechts und des politischen Denkens wesentlich gehaltvoller nachzulesen ist. Inhaltlich und analytisch fällt Bleeks Darstellung weit hinter Hans Maiers Pionierstudien aus den 60er Jahren zurück. Sobald der Leser in die breit erforschten Gebiete des politischen Denkens seit dem 19. Jahrhundert vorstößt, wird vollends klar, daß Bleek eigentlich keinen roten Faden verfolgt: ein bißchen Institutionengeschichte, einige biographische Abrisse auf lexikalischem Niveau und immer wieder die ermüdende und wenig sensationelle Beweisführung, daß es sich bei allen akademischen Veranstaltungen, die mit "Politik" zu tun haben, um Vorläufer der heutigen Politikwissenschaften handeln muß. Vergeblich wartet der Leser auf die Diskussion fachlicher Kontroversen, auf problemorientierte Erörterungen.

Deutlich werden die Defizite des Autors, wenn es um die modernen Klassiker des politischen Denkens geht, die Orientierungsfunktion für eine Geschichte der Politikwissenschaft besitzen sollten. Aber weder zu Max Weber, Hermann Heller oder Carl Schmitt findet sich in Bleeks Arbeit ein origineller Satz. Weber habe die "moderne Politikwissenschaft befruchtet", indem er zwischen wertfreier Empirie und normativen Werturteilen unterschied. Auch Schmitt habe "das politische wie auch das politikwissenschaftliche Denken in Deutschland im 20. Jahrhundert wesentlich mitgeprägt", spiele aber in der Disziplingeschichte keine Rolle, weil er kaum Schüler gehabt habe. Ach ja, und zwischen Freund und Feind hat er auch noch unterschieden. Der Rezensent erspart sich an dieser Stelle den Verweis auf eine Vielzahl leerer, oft völlig sinnfreier Phrasen.

Institutionengeschichtlich verfolgt Bleek den Weg der Deutschen Hochschule für Politik, einer Gründung von 1920, deren liberaldemokratische Ausrichtung in der Krise der Weimarer Republik einen Rechtsruck erfuhr. Daß diese Einrichtung trotz Mitarbeiter wie Sigmund Neumann, Theodor Heuss und Hajo Holborn nationalsozialistisch infiltriert wurde und schließlich nicht dem Schicksal der Gleichschaltung entkam, macht ihre Geschichte typisch. Im "Dritten Reich" wurde die Wissenschaft von der Politik eine "politische", d.h. eine nationalsozialistisch ausgerichtete Wissenschaft. Progressive und innovative Staatsrechtler, Historiker und Sozialwissenschaftler, die später die bundesrepublikanische Politik- und damit "Demokratiewissenschaft" maßgeblich beeinflussen sollten, emigrierten in hoher Zahl. Die Frage nach der nationalsozialistischen Vergangenheit der Politikwissenschaften offenbart Bleeks Problem, einerseits die Kontinuität des Faches zu betonen, andererseits den völligen Neuanfang nach dem Krieg zu erklären. "Wenn die Politikwissenschaft eine nationalsozialistische Vergangenheit gehabt hat", so Bleek, "dann sollte sie diese nicht verschweigen, doch umgekehrt sollte man auch nicht eine solche erfinden, um aus ihr eine ganz normale deutsche Wissenschaft zu machen." Diese unentschiedene Herangehensweise hilft niemandem richtig weiter. Vielleicht hätte ein Blick auf die Nachbarfächer, die sich im weitesten Sinne mit "Politik" befaßten (Soziologie, Geschichte, Philosophie, Staatsrecht), mehr zur Erklärung spezifisch deutscher Traditionen des politischen Denkens beigetragen.

Die Erfolgsgeschichte seiner Zunft schildert Bleek ohne jeglichen kritischen Impetus - nachvollziebar, wenn das Werk mit Fraenkel, Bracher und Sontheimer gleich drei einflußreichen Fachvertretern gewidmet ist. Immer politisch korrekt wird vor einer Unterschätzung des nationalsozialistischen Erbes gewarnt (wenn auch inhaltlich nie exemplifiziert), während die orthodox-marxistischen Auswüchse der 70er Jahre verurteilt werden. Geduldig beschreibt Bleek die personelle und strukturelle Expansion des Faches in den letzten Jahrzehnten, versorgt den Leser mit Studentenzahlen sowie Aufzählungen der bundesweiten Lehrstühle und referiert Vorlesungsverzeichnisse und Festschriften. Die interessanten Fragen, was denn die Politikwissenschaft leistete und welche Impulse von ihr ausgingen bzw. welche sie aufnahm, fristen ein Schattendasein.

Daß Wissenschaftsgeschichte manchmal eben doch von Historikern geschrieben werden sollte, legt die oberflächliche Quellengrundlage der Arbeit nahe: Archivalien spielen keine Rolle, Debatten werden nie rekonstruiert, Intentionen und Motive der "Gründerväter" während des Ausbaus des neuen Wissenschaftszweiges finden keine Beachtung. Dazu schleichen sich ärgerliche sachliche Fehler ein. Helmut Kohl und Gerhard Stoltenberg sind nämlich keine Politologen, sondern Historiker, und der Freiburger Historiker Gerhard Ritter war kein Mediävist.

Was bleibt von Bleeks Darstellung? Nicht viel, möchte man meinen. Aber der Autor faßt seine Ergebnisse in neun Thesen zusammen, drei davon seien an dieser Stelle wiedergegeben:

"3. Die Entwicklung der Politikwissenschaft ist durch die wechselseitige Beeinflussung von politischer Praxis und akademischer Theorie geprägt."

"6. Der historische Wandel der Politikwissenschaften in Deutschland beruht sowohl auf nationalen Eigenheiten als auch auf internationalen Rezeptionsprozessen."

"8. Die Zukunft der Politikwissenschaft hängt entscheidend von der Zukunft der Politik ab."

- Wer hätte das gedacht?

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