J.S. Eichhorn: Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg

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Titel
Durch alle Klippen hindurch zum Erfolg. Die Regierungspraxis der ersten Großen Koalition (1966–1969)


Autor(en)
Eichhorn, Joachim Samuel
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 79
Erschienen
München 2009: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Geppert, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Am Anfang von Joachim Samuel Eichhorns Studie über die erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD in den Jahren 1966 bis 1969 steht eine These, die in der deutschen Zeitgeschichtsforschung inzwischen weitgehend Konsens ist: Diese Regierung unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger war ein Erfolg. Gerade in der Innenpolitik hatte sie beachtliche Errungenschaften vorzuweisen – von der Haushaltssanierung bis zu sozialpolitischen Reformen. Ein Drittel aller Änderungen des Grundgesetzes, die zwischen 1949 und 1990 beschlossen wurden, fällt in die Amtszeit dieser Regierung. Auch mit Blick auf die Ost- und Deutschlandpolitik mehren sich die Stimmen, die den Neuansatz von Willy Brandt und Walter Scheel ab 1969/70 relativieren und nach Vorläufern der sozial-liberalen Neuen Ostpolitik in früheren Regierungen suchen. Gemessen an der Zahl der verwirklichten Vorsätze und Versprechen, so hat Philipp Gassert kürzlich noch einmal festgestellt, könne die Große Koalition als „die erfolgreichste Regierung der alten Bundesrepublik“ gelten.1

In seiner als Dissertation bei Axel Schildt in Hamburg entstandenen Studie knüpft Eichhorn an die Ausgangsthese vom Erfolg der Großen Koalition die Frage nach dessen Ursachen. Diese vermutet er nicht in den großen politischen Strategien weniger Strippenzieher, sondern im Kleinklein der alltäglichen Regierungspraxis, in das viele Akteure auf unterschiedlichen Ebenen eingebunden waren. Dementsprechend untersucht er nicht Programmentwürfe oder Strategiepapiere. Vielmehr rekonstruiert er in minutiöser Detailrecherche das konkrete Handeln in offiziellen Regierungsinstitutionen (Kanzleramt, Kabinett, Bundestag, Bundesrat) und in informellen Gremien, etwa den diversen Kabinettsausschüssen, dem nach Kiesingers Feriendomizil am Bodensee als Kreßbronner Kreis bekannt gewordenen Koalitionsausschuss und weiteren inoffiziellen Gesprächsrunden, in denen Politiker der Regierungsparteien zusammenkamen, um Absprachen zu treffen, Kompromisse auszuhandeln und Entscheidungen vorzubereiten. Weil die Analyse der Kooperationsmechanismen in all diesen Gremien und Zirkeln zunächst auf das Prozedurale beschränkt bleibt, erweist sich die Einbeziehung des konkreten historischen Kontexts als Problem. Wiederholungen sind die Folge; mitunter wirkt die Darstellung abstrakt und blutleer.

Erst im Abschlusskapitel veranschaulicht und überprüft Eichhorn seine Überlegungen anhand von vier Beispielen. Dazu hat er die in der Öffentlichkeit umstrittene und von der außerparlamentarischen Opposition verteufelte Notstandsgesetzgebung ausgewählt, außerdem das als Leber-Plan bekannt gewordene verkehrspolitische Programm der Regierung, die Finanzverfassungsreform und die so genannte Kambodscha-Kontroverse, bei der Union und SPD 1969 im Spannungsfeld der Auseinandersetzungen um die richtige Ost- und Deutschlandpolitik über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu dem südostasiatischen Staat stritten. Die Hintergründe der Entscheidungsfindung im Rahmen dieser „Kooperationsbeispiele“ werden ebenso sorgfältig aus den Quellen destilliert wie die Konsensbildungsmechanismen in den vorangegangenen Kapiteln. So intensiv wie Eichhorn hat bislang kaum jemand die Bestände des Bundesarchivs, der Partei-Archive von Union und SPD sowie einer Reihe von Hauptstaats- und Landeshauptarchiven für die Jahre 1966 bis 1969 ausgewertet.

Ergänzt wird die schriftliche Überlieferung durch Interviews und Korrespondenzen mit Zeitzeugen: mit Innenminister Ernst Benda, den damaligen Fraktionschefs Helmut Schmidt und Rainer Barzel, aber auch mit Akteuren der zweiten Reihe, wie den Fraktionsmitarbeitern Eduard Ackermann und Manfred Schüler, mit Hans Tietmeyer, damals Referent im Wirtschaftsministerium, sowie Kiesingers persönlichem Referenten Hans Neusel. Dass Benda und Barzel inzwischen gestorben sind, unterstreicht, wie weit sich die biologische Grenze persönlicher Erinnerung bereits in die mittlere Phase der alten Bundesrepublik vorschiebt und wie sehr die Zeit für eine systematische Befragung der damals Handelnden drängt. Denn Eichhorns Fußnoten ist zu entnehmen, dass seine Interviews mehr zutage gefördert haben als illustrierende Anekdoten. Vielmehr kann man gerade dann auf die – im Rückblick sicherlich verzerrte – Sichtweise der Beteiligten nicht verzichten, wenn man wie Eichhorn weniger an den Schwerkraftgesetzen großer politischer Entscheidungen interessiert ist als an der Chemie personaler Verbindungen, die diese Entscheidungen erst ermöglichen. Insofern macht die Studie deutlich, welcher Erkenntnischancen sich die jüngste Zeitgeschichte beraubt, wenn sie auf mündliche Befragungen wegen methodischer Bedenken verzichtet.

Zu spektakulären Neubewertungen sieht sich Eichhorn nicht veranlasst. Von einem einzelnen Entscheidungszentrum der Koalition könne nicht gesprochen werden, lautet sein Fazit. Weniger den Koalitionsausschuss als solchen hält er für ausschlaggebend als vielmehr die Gesamtheit seiner Mitglieder. Der Kreßbronner Kreis sei für die „Lösung parteipolitisch existentieller Sach- und Streitfragen“ zuständig gewesen (S. 284). Das Gewicht des Bundestags habe in dem Maße zugenommen, wie Schmidt und Barzel als Vorsitzende der Regierungsfraktionen an Bedeutung gewannen. Kiesinger habe nicht die Richtlinien der Politik bestimmt, sondern seine Funktion als Moderator gesehen. Damit bestätigt Eichhorn die auf Regierungssprecher Conrad Ahlers zurückgehende Charakterisierung des Kanzlers als „wandelnder Vermittlungsausschuss“, die Kiesinger zunächst ganz und gar nicht positiv verstand. Die medienwirksam inszenierte Kooperation von Finanzminister Franz Josef Strauß und Wirtschaftsminister Karl Schiller als „Plisch und Plum“ hält Eichhorn für „deutlich überschätzt“ (S. 286). Je näher die Bundestagswahl 1969 rückte, desto stärker hätten die beiden nicht mit-, sondern gegeneinander gearbeitet. Die Rolle des Kabinetts veranschlagt der Autor eher gering, ebenso die Bedeutung der Bundesländer und der Partei-Apparate. Im zeitlichen Verlauf der Großen Koalition sieht er eine Machtverschiebung: zunächst von der Bundesregierung zum Kreßbronner Kreis und sodann von diesem zu den Fraktionsvorsitzenden. Wenn es ein Erfolgsgeheimnis der Großen Koalition gab, so ist es Eichhorn zufolge in der Bereitschaft aller Beteiligten zu sehen, „mittelschwere Kröten in verzuckerter Form zu fressen“, wie Barzel einmal vor seiner Fraktion formulierte (S. 290).

Diesen Satz hätten wahrscheinlich auch Volker Kauder und Peter Struck mit Blick auf die zweite Große Koalition der Jahre 2005 bis 2009 unterschrieben. Eichhorn geht in seiner Studie zwar nicht explizit auf das rot-schwarze Bündnis unter Angela Merkel ein, er hat jedoch vor einigen Jahren in einem Aufsatz mögliche Vergleichspunkte benannt. Im gegenüber anderen Koalitionskonstellationen noch einmal gesteigerten Zwang zur Konsensfindung und der entsprechend begrenzten Macht des Kanzlers sieht er durchaus strukturelle Gemeinsamkeiten. Darüber hinaus konnte die Merkel-Regierung aus seiner Sicht von Erfahrungen der ersten Großen Koalition profitieren, wenn sie etwa die Fraktionsvorsitzenden über einen Koalitionsausschuss von Beginn an in den Entscheidungsprozess einband „und nicht wie 1966/69 erst nach einem Drittel der gemeinsamen Zeit“2. Ansonsten betont Eichhorn die grundsätzlich veränderten historischen Rahmenbedingungen: von der ideologischen Annäherung der beiden Volksparteien und tektonischen Verschiebungen in der Parteienlandschaft durch das Aufkommen der Grünen und der Linken über nachlassende Parteitreue der Wähler bis hin zu wachsendem Medieneinfluss und gesunkenem Politikvertrauen der Öffentlichkeit. Entscheidend dürfte jedoch das fundamental andere ökonomische Koordinatensystem sein, innerhalb dessen die beiden Regierungen zu agieren hatten. Schließlich war Kiesingers Große Koalition die letzte Bundesregierung, die durchgängig auf Vollbeschäftigung und einen ausgeglichenen Haushalt setzen konnte.

Eichhorns Dissertation ist die bislang am gründlichsten aus den Quellen erarbeitete Gesamtdarstellung der ersten Großen Koalition der Bundesrepublik. Sie korrigiert die bisherige Forschung in Details, zwingt aber nicht zu einer Generalrevision überkommener Deutungen. Die eher auf Konsensfindungsmechanismen als auf politische Ergebnisse des Regierungshandelns zielende Analyse bringt aus meiner Sicht nicht genug neue Erkenntnisse, um die Einbußen an darstellerischer Stringenz aufzuwiegen, die mit dem Ansatz für eine zeithistorische – und eben nicht politikwissenschaftliche – Studie verbunden sind. Wer sich einen anschaulichen Überblick zur Geschichte der Großen Koalition verschaffen möchte, ist deswegen mit den Arbeiten von Klaus Hildebrand, Klaus Schönhoven (über die Sozialdemokratie in der Großen Koalition), Dirk Kroegel (über die Außen- und Deutschlandpolitik) oder Philipp Gassert (zur Person Kurt Georg Kiesingers) weiterhin besser bedient.3 Zur Vertiefung in Einzelfragen bietet Eichhorns Studie jedoch eine willkommene und nützliche Ergänzung.

Anmerkungen:
1 Philipp Gassert, Zweimal Große Koalitionen: 1966 bis 1969 und seit 2005, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 99-119, hier S. 116.
2 Joachim Samuel Eichhorn, „Mehr als einige schöne Trinksprüche“. Die Konsensstrategien der ersten Großen Koalition (1966–1969), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2006), S. 231-246, hier S. 245, auch online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Eichhorn-2-2006> (16.12.2009), dort Abschnitt 8.
3 Klaus Hildebrand, Von Erhard zur Großen Koalition 1963–1969, Stuttgart 1984; Dirk Kroegel, Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, München 1997; Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Großen Koalition 1966–1969, Bonn 2004; Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger 1904–1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006.

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