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Titel
Learning Democracy. Education Reform in West Germany, 1945-1965


Autor(en)
Puaca, Brian M.
Reihe
Monographs in German History 27
Erschienen
New York 2009: Berghahn Books
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
$ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lennart Lüpke, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

In den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen die allgemeinbildenden Schulen Westdeutschlands einen erstaunlichen Wandel. Nach der autoritären, nationalsozialistisch eingefärbten Erziehung bis 1945 erschien die Reformierung und Demokratisierung des Schulwesens zwingend erforderlich, galt bei manchen Repräsentanten der Besatzungsmächte jedoch als wenig erfolgversprechend. Zur Mitte der 1960er-Jahre aber hatten sich die Schulen für Einflüsse aus Westeuropa und Nordamerika geöffnet, waren in Austauschprogramme mit ehemaligen Feindstaaten einbezogen und entließen demokratisch aufgeklärte Schülerkohorten. Brian M. Puaca hat diese Beobachtung zum Ausgangspunkt seiner an der University of North Carolina at Chapel Hill vorgelegten, von Konrad H. Jarausch betreuten und nun als Buch publizierten Studie gemacht. Er untersucht die Binnenveränderungen westdeutscher Schulen und fragt nach den Erfolgsbedingungen des Reformprozesses.

Die historische Bildungsforschung hat die bundesdeutsche Schulentwicklung der frühen Nachkriegsphase lange Zeit nahezu ausschließlich unter dem Label der „Restauration“ behandelt. Zwar fehlte es diesem Deutungsmuster keinesfalls an empirischer Plausibilität – man denke nur an das Scheitern der im Verbund von progressiven Kräften und westlichen Alliierten geplanten Überführung des dreigliedrigen Schulsystems in eine horizontale Struktur. Gleichwohl haben jüngere Forschungen, die den Wandel des Gymnasiums und der Schulerziehung in Auseinandersetzung mit den Leitkategorien der „Liberalisierung“, „Westernisierung“ oder „Demokratisierung“ in die Gesellschaftsgeschichte Westdeutschlands einbetten, die Vorstellung eines bildungspolitischen Stillstands korrigiert und das komplizierte Spannungsverhältnis zwischen hegemonialen konservativen Argumentationsmustern und zögerlichen Neuorientierungen im Schulsektor der 1950er-Jahre betont.1

Puaca fügt diesen Studien ein weiteres Element hinzu. Unter Rückgriff auf die Amerikanisierungs- und Westernisierungsforschung sowie im Kontext zweier Fallstudien zu West-Berlin und Hessen möchte er den Stellenwert des transatlantischen Ideenaustauschs auf dem Feld der inneren Schulreform gewichten und zur Klärung des Verhältnisses zwischen US-amerikanischer Militärregierung und den schulischen Akteuren auf westdeutscher Seite beitragen. Da die Schulen als Schlüsselstellen der Tradierung und Aneignung politisch relevanter Orientierungen fungierten, ließen sich anhand der Analyse ihrer inneren Wandlungsprozesse weiterführende Einsichten in Grundbedingungen der Demokratisierung gewinnen. Besonders nützlich ist, dass Puaca einen vergleichenden Blick auf die Entwicklungen in Hauptschule, Mittelschule und Gymnasium wirft. Die Quellengrundlage bilden neben Akten von Militärregierung und Kultusbürokratie bzw. Zeitungen von Lehrerverbänden die Überlieferungen einzelner Schulen sowie Zeitzeugeninterviews. Der Versuch einer Annäherung an die Veränderungen der westdeutschen Unterrichts- und Schulkultur wird auf fünf Ebenen unternommen: Lehrbücher, Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterricht, Schülermitverwaltung, Austauschprogramme mit den USA sowie Curricula der Lehrerbildung.

Den Zeitraum zwischen 1945 und 1965 analysiert Puaca in vier Teilen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten. Im ersten Teil beleuchtet er die materiellen und programmatischen Ausgangsbedingungen der inneren Schulreform in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1947. Auf deutscher Seite bestand Konsens darüber, dass die Erneuerung von Schule und Unterricht mit Hilfe einer Rückkehr zu vermeintlich überzeitlich gültigen pädagogischen Traditionen erfolgen sollte. Differenzen gab es in der Frage, ob eher traditionelle Unterrichtskonzeptionen aus der Zeit des Kaiserreichs oder Ansätze der Reformpädagogik aus der Weimarer Zeit aktualisiert werden sollten. Demgegenüber repräsentierte die deutsche Schulgeschichte für die Militärregierung eine bis in den Nationalsozialismus hineinreichende Traditionslinie antidemokratischer Erziehung. Neben der letztlich fehlgeschlagenen Strukturreform beabsichtigten die Amerikaner im Rahmen ihrer „Reeducation“-Politik die Implementierung einer demokratischen Schulkultur unter dem Leitbild einer „everyday democracy“ mit neuen Arbeits-, Unterrichts- und Teilhabeformaten sowie einem Unterrichtsfach „Politische Bildung“.

Der zweite Teil umfasst den Zeitraum zwischen 1948 und 1954. Schwerpunktmäßig dargestellt werden die Institutionalisierung von Austauschprogrammen für Schüler und Lehrer mit den USA sowie die Etablierung von Organen der Schülermitverwaltung. Die Austauschprogramme reflektieren die bildungspolitische Interessenverschiebung der Amerikaner – vom Versuch der direkten Einflussnahme zur ideellen und materiellen Begleitung des Demokratisierungsprozesses. Die Programme hätten einen nicht unwesentlichen Beitrag für die kulturelle Öffnung der bundesdeutschen Schulen geleistet. Zudem hätten die schulischen Partizipationsstrukturen – neben weiteren extracurricularen und unterrichtlichen Neuerungen – eine kaum zu unterschätzende Durchschlagskraft auf die Einstellungen und Verhaltensweisen der nachwachsenden Generationen entfaltet. Der Titel der Studie, „Learning Democracy“, bringt diese Argumentationsfigur passend zum Ausdruck. Im Fazit interpretiert Puaca die Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre demnach auch weniger als Initialzündung für Reformen, sondern vielmehr als Resultat vorangegangener Schulreformen – hätten sich die Akteure der Studentenbewegung doch dort jene Wertorientierungen und Artikulationsformen angeeignet, die ihren Protestthemen und -strategien zugrundelagen. Aus dieser übergreifenden Deutung bezieht die Studie einen wesentlichen Teil ihrer Argumentationskraft.

Der dritte Teil (zum Zeitraum 1955–1959) stellt die Entwicklung der Politischen Bildung und des zeitgeschichtlichen Unterrichts ins Zentrum. Problematisiert wird das Spannungsverhältnis zwischen den in amtlichen Curricula niedergelegten Lehrabsichten und der Umsetzung der Lehrplanvorgaben in den Schulen. Während etwa in West-Berlin Lehrer älterer Geburtsjahrgänge die gegenwartsbezogene Funktion des Geschichts- und Gemeinschaftskundeunterrichts negierten und ihren Widerwillen gegenüber der Thematisierung der Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus in einer Art „passive resistance“ artikulierten, hätten sich Angehörige jüngerer Lehrerkohorten durch die Vermittlung einer inhaltlich und methodisch erneuerten historisch-politischen Bildung hervorgetan. Entsprechend identifiziert Puaca diese Akteure als treibende Kräfte schulisch-unterrichtlicher Veränderungen. Für seine ausgewählten Gebiete West-Berlin und Hessen stützt sich der Autor vor allem auf zeitgenössische Schulerhebungen.

Der abschließende vierte Teil befasst sich mit der Intensivierung der Reformbemühungen in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre unter veränderten politischen Auspizien und dem Eindruck eines gesteigerten öffentlichen Interesses für Fragen der demokratischen Schulkultur. Das Jahr 1965 markiere insofern das Ende der Nachkriegsära an den Schulen, als sich diese endgültig als Schrittmacher der inneren Demokratisierung der Bundesrepublik etabliert hätten. So überzeugend die vorgenommene Periodisierung auch ist, vermisst man doch eine Auseinandersetzung mit der von Gass-Bolm entwickelten Phaseneinteilung der westdeutschen Gymnasialgeschichte.

Die Demokratisierung der westdeutschen Schulwirklichkeit versteht Puaca als das Ergebnis eines langwierigen, bisweilen widersprüchlichen, im Ganzen aber erfolgreichen Lernprozesses. Entsprechend schlussfolgert er: „[…] the nativization of school reform marked a key development in the democratization of the schools during the early years of the Federal Republic“ (S. 195) – die von Jarausch geprägte Leitkategorie der „(Re-)Zivilisierung“ ist deutlich erkennbar. Puaca zufolge kamen die Reformen einer „silent revolution“ gleich und veränderten die Sekundarschulen subkutan, bei fortbestehender Dreigliedrigkeit. Insgesamt hat der Autor mit seiner gut dokumentierten und darstellerisch gelungenen Studie einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der inneren Schulreform in Westdeutschland sowie zugleich zur zeithistorischen Bildungsforschung geleistet.

Anmerkung:
1 Torsten Gass-Bolm, Das Gymnasium 1945–1980. Bildungsreform und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland, Göttingen 2005; Dirk Schumann, Authority in the „Blackboard Jungle“. Parents, Teachers, Experts and the State, and the Modernization of West Germany in the 1950s, in: Bulletin of the German Historical Institute (Washington) 33 (Fall 2003), S. 65-78, auch online unter <http://www.ghi-dc.org/publications/ghipubs/bu/033/65.pdf> (12.5.2010).

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