Titel
The Rest is Noise. Das 20. Jahrhundert hören


Autor(en)
Ross, Alex
Erschienen
München 2009: Piper Verlag
Anzahl Seiten
703 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Morat, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Musik ist in der Geschichtswissenschaft noch nicht im gleichen Maße angekommen wie die Bilder. Dies beginnt sich für das 19. Jahrhundert langsam zu ändern, in dessen Verlauf die klassische Musik bei der Erfindung der Nation und der Konstituierung des Bürgertums eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hat. Für das 20. Jahrhundert liegen hingegen noch wesentlich weniger Arbeiten vor. Wer sich als musikinteressierte/r Historiker/in hier einen Zugang verschaffen will, kann nun auf Alex Ross’ Gesamtschau „The Rest is Noise“ zurückgreifen, die 2007 in den USA erschienen ist, dort mehrere Preise erhalten hat und letztes Jahr auch auf Deutsch veröffentlicht wurde (hervorragend aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke).

Das Buch ist keine fachwissenschaftliche Forschungsmonographie, sondern eine Überblicksdarstellung, die sich an ein breites Publikum wendet. Im 100-seitigen Anhang finden sich aber genaue Quellenbelege und weiterführende Literaturhinweise, so dass das Werk auch wissenschaftlich ausgezeichnet zu nutzen ist. Ross stützt sich zum Teil auf eigene Archivstudien (unter anderem zur Musikpolitik der Alliierten nach 1945), vor allem aber auf eine breite Lektüre und eine stupende Kenntnis der Musik des 20. Jahrhunderts selbst, die er sich in 15-jähriger Tätigkeit als Musikkritiker des „New Yorker“ erworben hat.

Gegenstand des Buches ist die „klassische Komposition des 20. Jahrhunderts“ (S. 12). Wenn Ross an späterer Stelle von der „kulturelle[n] Lage des Komponisten im 20. Jahrhundert“ spricht (S. 211), so ist das allerdings noch treffender. Denn zum einen ist das Buch sehr personenorientiert; die Erzählung folgt zumeist den Biographien und Werkentwicklungen einzelner Komponisten. Dass es tatsächlich fast nur Komponisten, also Männer sind, über die Ross schreibt, erwähnt er gelegentlich. Die systematische Frage, warum es Komponistinnen so schwer hatten und haben, beantwortet er aber leider nicht.

Zum anderen wird mit der Formulierung von der „kulturellen Lage“ der Komponisten deutlich, dass es Ross nicht um eine gleichsam „innere“ Musikgeschichte geht, sondern explizit um die „Verbindung zwischen Musik und äußerer Welt“, wie er im Vorwort schreibt: „Es geht um das 20. Jahrhundert, durch seine Musik gehört.“ (S. 13) Auch bei dieser Perspektive bleibt jedoch immer die Musik zentral. Im Vordergrund steht also die Frage, in welcher Weise sich historische Ereignisse und Entwicklungen in der Musik niedergeschlagen haben. Demgegenüber tritt die Frage nach der Rolle der Musik in der Geschichte, also etwa nach ihrer gesellschaftlichen Funktion in der industrialisierten Massengesellschaft, in den Hintergrund. Dass diese beiden Dimensionen nicht immer zu trennen sind, zeigt sich jedoch besonders in den beiden sehr gelungenen Kapiteln über die Musik im Stalinismus und im Nationalsozialismus. Hier schildert Ross nicht nur die Politisierung und Funktionalisierung der Musik, sondern kommt auch zu abgewogenen Urteilen über die sehr ambivalenten Rollen, die etwa Richard Strauss unter Hitler und Dmitri Schostakowitsch unter Stalin gespielt haben.

Obwohl sich Ross in erster Linie für die Entwicklung der klassischen Komposition interessiert, ist es zugleich sein Ziel, den Graben zwischen der so genannten „ernsten“ oder Kunstmusik und der Unterhaltungsmusik zu überwinden. Es geht ihm sowohl um die vielfältigen Beziehungen, Berührungspunkte und wechselseitigen Beeinflussungen von Kunst- und Populärmusik wie auch um die gegenseitigen Abgrenzungsbemühungen und Missverständnisse. Durch den „Aufstieg populärer Musik“ (S. 118), so Ross, kam es im ersten Jahrhundertdrittel zu einem „Paradigmenwechsel“, durch den „klassische Komponisten zum ersten Mal in der Geschichte nicht mehr sicher sein [konnten], dass sie allein die Gralshüter des musikalischen Fortschritts waren“ (S. 142). Während dieser Paradigmenwechsel für die 1920er- und 1930er-Jahre mit der Musik von Kurt Weill, George Gershwin und Duke Ellington ausführlich geschildert wird, kommt der Siegeszug der Popmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu kurz. Der Jazz, dessen Bedeutung für die klassische Komposition Ross immer wieder betont, wird ebenfalls nicht ausführlich behandelt. Doch gleichzeitig ist die Beschränkung auf die klassische Komposition legitim, denn eine gleichgewichtige Behandlung auch der Popmusik hätte den Rahmen des ohnehin schon umfangreichen und beeindruckend umfassenden Buches gesprengt. Durch die vielen Hinweise etwa auf den Einfluss von John Cage auf „The Velvet Underground“ oder von Karlheinz Stockhausen auf die Beatles bleiben die Wechselbeziehungen zwischen Klassik und Popmusik in der gesamten Darstellung präsent.

Das 20. Jahrhundert wurde durch die Entwicklung der technischen Massenmedien besonders geprägt. Auf deren Bedeutung für die klassische Musik weist Ross immer wieder hin, angefangen bei den neuen Möglichkeiten der Tonaufzeichnung um 1900 über die Reproduktions- und Verbreitungstechniken von Phonographie und Radio bis hin zur elektronischen Musik der zweiten Jahrhunderthälfte. (Die Frage nach der Musik im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit hätte man noch etwas ausführlicher behandeln können.) Daneben betont Ross auch den Einfluss von Industrialisierung und Urbanisierung auf die Musik in der „Ära des Lärms“ (S. 81). In Abgrenzung dazu suchten Komponisten im 20. Jahrhundert immer wieder auch die Stille der Natur, um sich von ihr inspirieren zu lassen, wie etwa Jean Sibelius, dem Ross als „Erscheinung aus den Wäldern“ (S. 182) ein eigenes Kapitel widmet.

Das Verhältnis von E- und U-Musik ist eng mit dem Verhältnis zwischen Europa (besonders Deutschland) und den USA verknüpft. Diese transatlantische Beziehungsgeschichte stellt Ross’ zweites Leitthema dar. Für die erste Jahrhunderthälfte betont er erneut die vielfältigen Wechselbeziehungen. Diese zeigen sich nicht nur in der Dominanz des europäischen Repertoires in den amerikanischen Konzert- und Opernhäusern zu Beginn des Jahrhunderts, sondern auch in der Öffnung für amerikanische Einflüsse in der europäischen Musik der Zwischenkriegszeit sowie später der „Exilmusik“ (S. 329) derjenigen Komponisten, die aus dem von den Nationalsozialisten beherrschten Europa nach Amerika geflohen waren. In diesem Zusammenhang weist Ross auch auf die große Bedeutung der Filmmusik hin, da in den 1930er- und 1940er-Jahren nicht wenige „ernsthafte“ Komponisten ein Auskommen in den Hollywood-Studios gefunden haben.

Für die zweite Jahrhunderthälfte treten dann die Abgrenzungsbemühungen stärker zutage. Das mag überraschen, da auf der Ebene der Populärkultur die Zeit des Kalten Krieges bekanntlich die Hochzeit der Amerikanisierung Westeuropas war. Auf der Ebene der Kunstmusik beobachtet Ross dagegen eine europäische und besonders deutsche Nachkriegsavantgarde, die auf radikale Atonalität setzte und sich angesichts des Aufschwungs der Populärmusik in den Elfenbeinturm der „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt“ und der Donaueschinger Musiktage zurückgezogen habe. Umgekehrt suchten immer mehr junge amerikanische Komponisten nach Wegen, sich von der Dominanz der europäischen Kunstmusik zu befreien und die (angebliche) europäische Blockade zwischen Neoromantik und Zwölfton-Avantgarde zu umgehen.

Während sich Ross’ Darstellung in den größten Passagen des Buches durch abgewogene Urteile auszeichnet, sind seine Sympathien in dieser Nachkriegsauseinandersetzung klar verteilt. An der europäischen Nachkriegsmoderne kritisiert er nicht nur die „Ästhetik der Verneinung“ (S. 490), sondern vor allen Dingen ihren angeblichen Rigorismus, der ihm besonders bei Theodor W. Adorno und Pierre Boulez missfällt. Den amerikanischen Minimalismus von Morton Feldman, Philipp Glass und Steve Reich präsentiert er dagegen als adäquate Antwort auf die Aporien der europäischen Tradition, als „rein amerikanische Kunst, frei von den Neurosen der Moderne“ (S. 523). Die Kritik an der europäischen Neuen Musik ist dabei zugleich eine Kritik an ihrem Elitismus. „Wenn es Kunst ist, ist es nicht für alle; und wenn es für alle ist, ist es keine Kunst“ (S. 56), wie Arnold Schönberg schrieb. Demgegenüber sympathisiert Ross eindeutig mit der Losung „Musik für alle“ (S. 293), die für die USA in der Ära des New Deal kennzeichnend war.

Mit dieser Gegenüberstellung bleibt Ross selbst in manchen europäisch-amerikanischen Vorurteilen befangen, die er gerade überwinden will. Am Ende des Buches wird zudem deutlich, dass Ross kein eindeutiges Narrativ anzubieten hat. Ist von einem Bedeutungsverlust der klassischen Komposition im 20. Jahrhundert auszugehen, haben wir es also mit einer Niedergangsgeschichte der Klassik im Zeitalter des Pop zu tun? Oder gibt es doch so etwas wie einen musikalischen Fortschritt, an dessen Ende der amerikanische Minimalismus steht? Oder muss man sich die Musikentwicklung vielmehr als stetigen Neubeginn, als Pendelspiel von Tradition und Avantgarde, Tonalität und Atonalität, Populismus und Elitismus vorstellen? Ross neigt wohl am ehesten der letzten Einschätzung zu, lässt die Frage aber offen.

Diese Einwände können die Stärken des Buches jedoch nicht tangieren. Es besticht durch einen schwungvollen Stil sowie die gekonnte Verknüpfung von Weitblick und genauen Detailinformationen. Ross schreibt so über Musik, dass man auch als musikalischer Laie eine plastische Vorstellung erhält. Da diese Beschreibungskunst trotz allem ihre Grenzen hat, findet man auf der zum Buch gehörigen Website <http://www.therestisnoise.com> viele Ausschnitte der von Ross analysierten Musikstücke zum Nachhören. Nicht zuletzt wegen dieser multimedialen Aufbereitung ist „The Rest is Noise“ als Lese- und Hörvergnügen vorbehaltlos zu empfehlen.

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