K.-H. Leven (Hg.): Antike Medizin

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Titel
Antike Medizin. Ein Lexikon


Herausgeber
Leven, Karl-Heinz
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
967 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heinrich Schlange-Schöningen, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Medizin, so schreibt Plinius der Ältere in der Einleitung zum 29. Buch seiner Naturalis Historia, hat im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Wandlungen erfahren; sie ist die für den Menschen nützlichste Wissenschaft und darf gleichwohl nur mit wenig Aufmerksamkeit rechnen. Letzteres galt auch für die moderne Beschäftigung mit der antiken Medizin, die den Historikern der Antike über lange Zeit als sperrige und Spezialisten zu überlassende Materie erschien. Seit geraumer Zeit indes mehren sich im Umfeld der Mentalitäts- und Geschlechtergeschichte Untersuchungen, in denen das medizinische Schrifttum als bedeutende Quelle erkannt bzw. ausgewertet wird.1 Diese allmähliche Aufhebung traditioneller Fachgrenzen innerhalb der Altertumswissenschaften zeigt sich nun auch an einem Lexikon zur antiken Medizin, das der Freiburger Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven herausgegeben hat. Es bietet auf fünfhundertzwanzig Seiten ungefähr eintausend Artikel zur antiken Medizin. Sie reichen von A wie "A capite ad calcem" als Ordnungsprinzip systematisch angelegter medizinischer Schriften des Altertums über "Blutegel" und "Caesarenwahnsinn", "Giftmord" und "Gladiatorenarzt", "Honig", "Hospital" und "Humanismus", "Krampfader" und "Musik", "Prostitution" und "Sexualität", "Vivisektion" und "Vorkoster" bis zu Z wie "Zwillinge". Einundneunzig Autoren haben Artikel beigesteuert, wobei einige Verfassernamen nur selten, andere dagegen recht häufig begegnen; den größten Anteil an dem gehaltvollen Lexikon haben der Herausgeber und seine zeitweilig von der Thyssen-Stiftung finanzierte Mitarbeiterein Marion Stamatu.

Wie die erwähnten Beispiele deutlich machen sollten, wird die Medizingeschichte in einem weiten kulturhistorischen Zugriff für die griechische und römische Geschichte behandelt, wobei erfreulicherweise auch die historisch angrenzenden Gebiete der mesopotamischen, ägyptischen, mittelalterlichen, byzantinischen und arabischen Medizin mit Überblicksartikeln abgedeckt werden. Hinzu kommt eine ganze Reihe von Einzeleinträgen, die über die griechisch-römische Antike hinausgehen, vor allem zur byzantinischen Epoche, daneben aber beispielsweise auch zu Hammurapi, dessen Rechtssammlung etwa Bestimmungen über Arzthonorare und Strafen für den Fall enthielt, dass ein Patient eine Operation nicht überlebte. Überblicksartikel finden sich weiterhin zu Kernpunkten der antiken Medizin- und Kulturgeschichte, so etwa zu den Stichworten "Arzt", "Bad", "Christentum", "Komödie", "Patristik" oder "Sklaven". Bisweilen müssen solche Überblicksartikel konsultiert werden, um Informationen aufzufinden, die in einem größer angelegten Nachschlagewerk eigene Lemmata erhalten hätten. So werden die wichtigsten Heiligtümer des Asklepios, also Kos, Epidauros und Pergamon, eigenständig abgehandelt, andere Heiligtümer jedoch, wie die in Athen oder im kretischen Lebena, nur unter den Lemmata "Asklepieion" bzw. "Asklepios" erwähnt.

Diese unvermeidliche Verteilung des Wissensstoffes auf größere und kleinere Artikel wird den Leser mehr oder weniger zufällig auch zu solchen Einträgen führen, die er in einem Lexikon zur antiken Medizin kaum vermuten wird, die aber nicht zuletzt den Reiz dieses Werkes ausmachen. So findet man beispielsweise Einträge zu Kaiser Konstantin, für den nicht nur die Zerstörung des Asklepiosheiligtums im kilikischen Aigai, sondern auch die mittelalterliche Legende einer Lepraerkrankung, also der Kern der Silvesterlegende, angeführt wird; man erfährt unter "Kreuzigung", dass es bislang nur einen einzigen paläopathologischen, an einem Skelett feststellbaren Beleg dieser grausamen Hinrichtungsart für die Lebenszeit Jesu gibt; auch ein Artikel über "Kriegsführung, biologisch-chemische" überrascht mit einer verhältnismäßig breiten Materialbasis zu dieser Form von Unmenschlichkeit, die in der Antike immerhin nur theoretisch erörtert wurde. Besondere Erwähnung verdient darüber hinaus, dass im Zusammenhang des kulturhistorischen Zugriffs auch zahlreiche religionshistorische Aspekte dargestellt werden. Artikel über "Gräber", "Heilgott", "Heilige", "Heilkraft", "Kirche", "Magie", "Märtyrer", "Prophet" oder "Religion" unterstreichen die Nähe, die im Altertum zwischen Religion und Medizin bestand. Daneben finden auch die philosophischen und medizinischen Fachfragen einschließlich ihrer rechtlichen und institutionellen Seiten gebührende Aufmerksamkeit: anatomische oder physiologische Aspekte wie "Atmung" oder "Gebärmutter" werden ebenso behandelt wie das "Corpus Juris Civilis", das "Arzthonorar", der "Hofarzt" oder der "Stadtarzt"; thematisiert werden darüber hinaus zahlreiche Ärzte und medizinische Schriftsteller, die zentralen Schulrichtungen der antiken Medizin ("Empiriker", "Methodiker", "Pragmatiker") oder Philosophie ("Aristoteles" und "Aristotelismus", "Platon", "Stoa") sowie deren spezielle Konzepte etwa von "Natur" oder "Teleologie".

Nicht recht plausibel ist, warum das Lexikon zur byzantinischen Epoche, wie bereits im Vorwort angekündigt wird (S. VII), zahlreiche Einzeleinträge zu Ärzten und Literaten wie zu Paulos Nikaios (7. oder 9. Jh.), zu Mazaris (14./15. Jh.), Meletios (9. Jh.), Pepagomenos Demetrios (15. Jh.), zum Kaiser Konstantin VII. Porphyrogennetos oder auch zu den Komnenen enthält, das frühe westliche Mittelalter dagegen schärfer abgegrenzt und folglich weniger detailliert behandelt wird. Dies mag einen Grund in den besonderen Forschungsinteressen des Herausgebers haben, doch wird damit, vermutlich ganz unbeabsichtigt, die Epochenabgrenzung und das Kontinuitätsproblem zwischen Spätantike und Byzanz bzw. Frühmittelalter zu einfach in der traditionellen Weise gehandhabt: Auch wenn die literarische Überlieferung des medizinischen Wissens den Weg über Byzanz und den Orient gegangen und erst in späteren Jahrhunderten das christliche Abendland erreicht hat, zeigt sich doch andererseits beispielsweise bei Gregor von Tours eine bemerkenswerte Fortdauer medizinischer Kenntnisse und medizinischer Institutionen.2 Dazu würde man in diesem sonst so gelungenen Lexikon gerne mehr erfahren.

Einwände und Ergänzungswünsche sind sonst nur wenige anzumelden: Sicherlich sind einige recht apodiktische Äußerungen wie z.B. zur Opiumsucht des Kaisers Marc Aurel diskussionswürdig (Art. "Marc Aurel"). Bedauerlich ist weiterhin, dass einigen bemerkenswerten Phänomenen der kaiserzeitlichen Religions- und Medizingeschichte keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde: In der Mitte des 2. Jahrhunderts etablierte sich im paphlagonischen Abonuteichos der Kult des in schlangenförmiger Gestalt verehrten Heilgottes Glykon, der unter dem von Lukian als "Pseudomantes" verspotteten Alexander eine große Anziehungskraft bis in die Reihen der römischen Senatoren entfaltete.3 Dazu aber fehlen die Lemmata "Alexander von Abonuteichos", "Glykon" und "Abonuteichos", und auch in den Artikeln "Lucian", "Amulett" oder "Schlange" wird die Thematik nicht aufgegriffen. Gleiches gilt für die seit geraumer Zeit publizierten Beichtinschriften aus Lydien, die ebenfalls dem 2. nachchristlichen Jahrhundert angehören.4 Zu diesen Inschriften, in denen mehrfach Krankheit als Wirkung von religiösem Fehlverhalten und Heilung als Folge eines Sündenbekenntnisses erscheint, wäre ein Eintrag "Beichte" oder "Beichtinschriften" wünschenswert gewesen. Überraschend ist schließlich auch, dass die mehrbändige und von Jean-Charles Sournia, Jacques Poulet und Marcel Martiny herausgegebene "Illustrierte Geschichte der Medizin", in der größere Abschnitte der Antike gewidmet sind5, weder in der Zusammenstellung der Sekundärliteratur noch in den einschlägigen Artikeln erwähnt wird.

Das vorliegende Lexikon zur "Antiken Medizin" wird sich gleichwohl als ausgezeichnete Orientierungs- und Arbeitshilfe für alle diejenigen bewähren, die Aufschluss zu einzelnen Sachfragen suchen oder sich intensiver mit der antiken Medizin insgesamt beschäftigen wollen. Die Artikel zeichnen sich durchgängig durch eine gelungene Konzentration auf das Wesentliche und durch Lesbarkeit aus. Ein weiteres positives Merkmal besteht in den zahlreichen und genauen Quellenangaben, die sich in jedem Artikel finden. Die jeweiligen Literaturangaben bringen in der Regel die neuesten und wichtigsten Titel. Dem lexikalischen Teil vorangestellt ist ein umfangreiches Abkürzungsverzeichnis, das unter anderem die antiken Autoren und ihre Werke detailliert aufführt (S. XIII-XXXI), was vor allem für den mit den einzelnen Schriften des Corpus Hippocraticum und des Corpus Galenicum nicht vertrauten Benutzer eine notwendige Hilfe darstellt. Umfangreich ist auch das Verzeichnis der in den Lemmata häufiger verwendeten und deshalb abgekürzten Sekundärliteratur (S. XXXIII-XLII). Ein alphabetisches Verzeichnis der Lexikoneinträge beschließ den Band (Sp. 945-968).

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Stahlmann, Ines, Der gefesselte Sexus. Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Römischen Reiches, Berlin 1997; Flemming, Rebecca, Medicine and the Making of Roman Women. Gender, Nature, and Authority from Celsus to Galen, Oxford 2000; Braund, Susanna; Most, Glenn W. (Hgg.), Ancient Anger. Perspectives from Homer to Galen, Cambridge 2003.
2 Vgl. z.B. hist. Franc. 5,14 u. 7,25 zu Chilperichs Leibarzt (archiater) Marileifus oder 10,15 zu dem Arzt und archiater Reovalis unter Childebert II., der sein Medizinstudium in Konstantinopel absolviert hatte; vgl. Kirchner, G., Heilungswunder im Frühmittelalter. Überlegungen zum Kontext des vir Dei-Konzeptes Gregor von Tours, in: Steger, F.; Jankrift, K. P. (Hgg.), Gesundheit - Krankheit. Kulturtransfer medizinischen Wissens von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit, Köln 2004, S. 41-76, bes. S. 51f.
3 Vgl. Victor, Ulrich (Hg.), Lukian von Samosata. Alexandros oder der Lügenprophet, Leiden 1997, S. 1-8; Nutton, Vivian, Ancient Medicine, London 2004, S. 282f.
4 Petzl, Georg (Hg.), Die Beichtinschriften Westkleinasiens, Bonn 1994; Vgl. auch Steger, Florian, Asklepiosmedizin. Medizinischer Alltag in der römischen Kaiserzeit, Stuttgart 2004, S. 75; Nutton (wie Anm. 3), S. 283f.
5 Sournia, Jean-Charles u.a. (Hgg.), Histoire de la médicine, de la pharmacie, de l'art dentaire et de l'art vétérinaire, Bd. 1-8, Paris 1977-1980 (deutsch unter dem Titel: Illustrierte Geschichte der Medizin. Geschichte der Medizin, der Pharmazie, der Zahnheilkunde und der Tierheilkunde, Bd. 1-9, Salzburg 1980-1984; Digitale Bibliothek 53, Berlin 2001). Ergänzend hinzuweisen ist noch auf die jüngst erschienene, von Werner E. Gerabek u.a. herausgegebene Enzyklopädie Medizingeschichte (Berlin 2005), die zahlreiche Einträge auch zur Antike enthält, sowie auf die in Anm. 3 genannte, vorzügliche Gesamtdarstellung zur antiken Medizin von Nutton, die ihres Erscheinungsdatums wegen von den Autoren des Lexikon nicht mehr berücksichtigt werden konnte.

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