A. Kirschner (Hrsg.): Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter

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Titel
Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marbuger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945


Herausgeber
Kirschner, Albrecht
Anzahl Seiten
VII, 335 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kerstin Theis, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Erforschung der Wehrmachtjustiz zusehends vertieft und differenziert. Lag zunächst der Schwerpunkt der Forschung darauf, den Terror- und Unrechtscharakter der Militärgerichte nachzuweisen und die „Legende der sauberen Wehrmacht“ zu widerlegen, so gerieten im Zuge der Debatten um die Rehabilitierung der militärgerichtlich verurteilten Opfer widerstandsgeschichtliche Fragestellungen während der 1980er-/1990er-Jahre in den Fokus der Betrachtung. Die intensiv geführten Diskussionen über den Charakter des Zweiten Weltkriegs als Vernichtungs- und Ausbeutungsfeldzug und die Beteiligung der Wehrmacht an den Kriegsverbrechen brachten die Forschung überdies entscheidend voran. Inzwischen sind die Grundlinien der militärgerichtlichen Rechtsprechung insbesondere auf der Makroebene bestens erforscht und auch unsere Kenntnisse über die Urteilspraxis an einzelnen Standorten und in bestimmten Deliktbereichen, etwa Desertion oder Sexualverbrechen, sind facettenreicher geworden.1

Der vorliegende Sammelband schließt an diese Forschungsentwicklung an und präsentiert eine „Zwischenbilanz“ zur Thematik – ausgerichtet am Fallbeispiel des Marburger Gerichts (Div. Nr. 159). Entstanden ist die Publikation im Kontext der 2007 eröffneten und von einem breiten öffentlichen Interesse begleiteten Berliner Wanderausstellung „‚Was damals Recht war …‘ – Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“ der Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“. Die 19 Beiträge sind eine heterogene Mischung aus Rede-Skripten, Essays und wissenschaftlichen Aufsätzen, die zwischen vier und 20 Seiten lang sind. Sie gehen zurück auf das umfangreiche Begleitprogramm, das die Geschichtswerkstatt Marburg e.V. unter anderem in Kooperation mit der Philipps-Universität Marburg und dem Hessischen Staatsarchiv veranstaltete, als die Ausstellung im Herbst 2009 Station in Marburg machte.

In der Nachkriegszeit firmierte Marburg als zentraler Treffpunkt ehemaliger Wehrmachtrichter, was nicht zuletzt auf das Engagement des ehemaligen Kriegsrichters Erich Schwinge zurückzuführen ist, der in Marburg seit 1964 den Lehrstuhl für Strafrecht inne hatte und maßgeblich daran beteiligt war, die „Legende der sauberen Wehrmachtjustiz“ aufrecht zu halten. Der Initiative der engagierten Geschichtswerkstatt Marburg e.V. ist es zu verdanken, dass die Tätigkeit des Marburger Divisionsgerichts kritisch erforscht wurde und Marburg bundesweit als eine der ersten Städte ein Deserteursdenkmal in Gedenken an die Opfer der Wehrmachtjustiz erhielt.2 Der Sammelband bündelt den derzeitigen Forschungsstand zum Marburger Gericht, geht inhaltlich und regional aber vielfach über Marburg hinaus.

Die Publikation umfasst vier thematische Schwerpunkte: 1.) einen biographischen Zugang zu den Militärjuristen; 2.) zur Angeklagten-Seite anhand von Fallbeispielen der Rechtsprechung zu einzelnen Deliktgruppen; 3.) die Strafvollstreckungs- und Todesurteilspraxis der Militärgerichte; sowie 4.) die Aufarbeitung der Wehrmachtjustiz in der Nachkriegszeit der BRD.

Detlef Garbe geht in seinem Beitrag der Bedeutung des ehemaligen Militärrichters Erich Schwinge nach und untersucht dabei unter anderem Schwinges Rechtsverständnis und Urteilspraxis im Nationalsozialismus. Seine dreifache Funktion als Wehrmachtrichter, einflussreicher Kommentator und Hochschullehrer nach 1945 ermöglicht es, einerseits exemplarisch zu untersuchen, wie „Wehrrechtler“ während des Zweiten Weltkriegs versuchten Rechtsdogmatiken in die Praxis umsetzten. Andererseits lässt sich auch die Kontinuitätsproblematik und Apologie der Wehrmachtrichter aufzeigen, als diese nach 1945 unbeschadet ihre Karrieren fortsetzen konnten. Der Jurist Georg D. Falk liefert ein weiteres biographisches Fallbeispiel. Er beschäftigt sich mit dem ehemaligen Militärrichter und ersten Marburger Amtsgerichtsdirektor nach Kriegsende Werner Massengeil und erklärt anhand dessen Beispiels anschaulich die Problematik der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Richtern, etwa beim Nachweis der Rechtsbeugung.

Michael Viebig und Lars Skowronski verdeutlichen mit ihren Anmerkungen zu Werner Lueben, der als Richter am Reichskriegsgericht (RKG) zahlreiche Todesurteile verhängte und sich 1943 das Leben nahm, wie schwierig es aufgrund der disparaten Quellenlage ist, das ambivalente Wirken der Wehrmachtrichter zu beurteilen. Umfangreiche Studien zum Personal der Gerichte, insbesondere zu Richtern, die an Gerichten der unteren Ebenen tätig waren und nicht derart prominent wie Schwinge agierten, sind ein dringend ausstehendes Forschungsdesiderat. Dies gilt insbesondere auch für die Gerichtsherren, die als militärische Vorgesetzte der Richter und Truppenkommandeure eine einflussreiche Position inne hatten, welcher der Sammelband indes zu wenig nachgeht. Problematisch erscheint zudem der Ansatz, die Biographie des Politologen und Widerstandskämpfers Wolfgang Abendroth unkommentiert und stichwortartig neben die Schwinges zu stellen, wie es der Kurzbeitrag von Nabil El-Bathich, Patricio Guevara und Christoph Stute praktiziert, der – so lassen die Abbildung und Autoren-Information vermuten – auf eine Universitätsveranstaltung und Ausstellungstafel zurückgeht. Die Auseinandersetzungen zwischen Schwinge und Abendroth erhellen nicht nur den Einfluss und die Netzwerke ehemaliger Wehrmachtrichter in der BRD, sondern auch die Vergangenheitsbewältigung und das Klima an den Universitäten in den 1950er- und 1960er-Jahren. Gerade deshalb wäre hier ein umfangreicher Aufsatz sehr ertragreich gewesen.

Der Angeklagten-Seite widmen sich die Beiträge von Thomas Werther, Magnus Koch und Ludwig Baumann. Werther skizziert die justizielle Behandlung von Kriegsgefangenen am Beispiel von Ungehorsam-Fällen, die vor das Marburger Gericht gelangten. Koch eruiert anschaulich die Gründe, warum Wehrmachtangehörige ihre Truppe verließen und legt plausibel quellenimmanente Einschränkungen der Motivsuche dar. Er betont die Pluralität der Motive, wobei situative Faktoren für die Desertion zumeist entscheidender waren als soziokulturelle Faktoren (Konfession, Herkunft, politische Einstellung). Eindrücklich ergänzt Baumann diesen Themenkomplex mit einem Bericht über seine persönlichen Erfahrungen als Deserteur und Opfer der Militärjustiz nach 1945.

Mit der Anwendung der „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ (KSSVO) bei Fällen von „öffentlicher Zersetzung der Wehrkraft“ beschäftigt sich Wolfgang Form auf Ebene des RKG Berlin und ab 1940 auch der Sondergerichte im Oberlandesgerichtsbezirk Kassel, wobei letztere zumeist eher das „Heimtückegesetz“ anwendeten und in keinem derart großen Umfang von den deutungsoffenen Rechtsnormen der KSSVO Gebrauch machten wie die Militärgerichte. Die Aufsätze von Albrecht Kirschner, Christoph Rass und Peter M. Quadflieg beleuchten kenntnisreich die strukturellen Entwicklungen, Zuständigkeiten und Tätigkeitsschwerpunkte lokaler Wehrmachtgerichte.

Dem komplexen Bereich des militärgerichtlichen Bewährungs- und Strafvollzugsystems widmet sich Hans-Peter Klausch, der in seinem dicht geschriebenen Beitrag anschaulich die unterschiedlichen „Erziehungs“-, Straf- und Bewährungseinheiten der Wehrmacht darstellt. Als Zäsur für dieses System benennt er die Maßnahmen ab April 1942, welche die unnachgiebige „Ressourcenverwertung“ forcierten, den Strafvollzug zunehmend in den Frontbereich verlagerten, aber zugleich auch sicherheitspolitische Erwägungen berücksichtigten. Lars Skowronski erörtert faktengesättigt die Rechtsgrundlage und Praxis der Wehrmachtgerichte bei der Vollstreckung von Todesurteilen.

Gewinnbringend zu lesen sind überdies die Beiträge von Henning Radtke zur mit vielen Forschungsfragen behafteten SS- und Polizeigerichtsbarkeit sowie Astrid Pohls medienwissenschaftliche Analyse von zwei ausgewählten westdeutschen Filmen der 1950er-Jahre, die sich mit dem Wirken der Militärjustiz beschäftigen („Unruhige Nacht“, 1958 und „Kriegsgericht“, 1959) und im Kontext der Debatten um die Wiederaufrüstung und den NATO-Beitritt der BRD entstanden. In beiden Filmen werden Zweifel an der Rechtmäßigkeit militärgerichtlicher Urteile und dem Umgang der Wehrmacht mit den Angeklagten deutlich, wodurch die Produktionen implizit auch auf die fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nach 1945 verweisen. Den letztgenannten Themenbereich runden die Beiträge von Wolfram Wette und Gerd Hankel ab. Wette rekonstruiert die Entwicklung des öffentlichen Diskurses zur Wehrmachtjustiz und den langwierigen Weg der Rehabilitierung der Opfer der Militärjustiz bis 2002. Hankels Beitrag beschäftigt sich mit den Nürnberger Prozessen und der bundesdeutschen Rechtsprechung gegenüber Verfahren, die sich mit den Verbrechen der Wehrmacht auseinandersetzten und benennt dabei evidente Versäumnisse.

Im Fazit bleibt festzuhalten, dass insbesondere die interdisziplinäre Ausrichtung der Publikation mit Beiträgen aus der Geschichts-, Politik-, Rechts- und Medienwissenschaft sehr zu begrüßen ist. Sie ermöglicht es, das Wirken der Wehrmachtjustiz aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Der Sammelband eignet sich gut als Einstiegslektüre in den Forschungsbereich. Wünschenswert wären zusätzliche Beiträge gewesen, die sich mit der konkreten Urteilspraxis der Richter in weiteren einzelnen Deliktbereichen (etwa Sexualverbrechen oder Wehrkraftzersetzung) beschäftigen, zu denen Studien bereits existieren, oder auch ein Beitrag, der eine international-vergleichende Perspektive einnimmt. Diese Desiderate sind sicher dem Entstehungskontext des Sammelbandes geschuldet und daher verständlich. Die unverständliche Anordnung der einzelnen Beiträge ohne thematische Schwerpunktbildung erschwert es aber mitunter, die übergeordneten Fragestellungen bei der Lektüre präsent zu haben. In einem Teil der Beiträge fehlen überdies wichtige Belege und die konkrete Benennung einzelner Rechtsnormen, wodurch eine Weiterbeschäftigung mit einzelnen Themenbereichen beeinträchtigt wird. Diese Anmerkungen schmälern jedoch keinesfalls die Leistung des Sammelbandes insgesamt, eine Zwischenbilanz zum Forschungsstand zu liefern.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn 2005; Ulrich Baumann/Magnus Koch (Hrsg.), „Was damals Recht war ...“. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Berlin 2008; Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003; Lothar Walmrath, „Iustitia et disciplina“. Strafgerichtsbarkeit in der deutschen Kriegsmarine 1939-1945, Frankfurt a. M. 1998; Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945, Paderborn 2004; Kristina Brümmer-Pauly, Desertion im Recht des Nationalsozialismus, Berlin 2006.
2 Vgl. zu den Studien der Geschichtswerkstatt Marburg etwa besonders: Michael Eberlein/Roland Müller/Michael Schöngarth (Hrsg.), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht, Marburg 1994.

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