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Titel
Die UdSSR und der Nahe Osten. Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis 1956


Autor(en)
Bachmann, Wiebke
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 102
Erschienen
München 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Rupprecht, Department of History and Civilization, European University Institute, Florence

Während die Beziehungen der Sowjetunion zur Dritten Welt zu Amtszeiten Nikita Chruschtschows und Leonid Breschnews in den letzten Jahren verstärkt ins Interesse deutscher und internationaler Historiker gerückt sind, ist die – nicht nur im Hinblick auf die Außenbeziehungen – wenig erforschte Phase des Spätstalinismus gewissermaßen übersprungen worden.1 Die aus einer Dissertation an der Universität Eichstätt entstandene Studie Wiebke Bachmanns leistet einen wichtigen Beitrag, um diese Lücke zu schließen. Basierend auf russischem und englischem Archivmaterial untersucht sie die Interaktionen der Sowjetunion mit dem Nahen Osten, vorrangig Israel/Palästina und Ägypten. Dabei bezieht sie auch die osteuropäischen Staaten, die USA und Großbritannien in ihre Darstellung mit ein und stellt Rückbezüge zu den großen muslimischen und jüdischen Minderheiten innerhalb der UdSSR her. Bachmanns Fragestellung, warum die Sowjetunion sowohl den arabischen Nationalismus als auch die jüdische Gemeinschaft in Palästina und später die Staatsgründung Israels unterstützte, während im eigenen Land antisemitische Kampagnen liefen, ist innovativ und wird mit geopolitischen Argumenten überzeugend beantwortet.

Palästina war für die UdSSR in der Nachkriegszeit primär als Kontroll- und Handelsknotenpunkt des Britischen Empires interessant, und die sowjetische Haltung zur Region war „Teil einer allgemeinen anti-britischen Politik“ (S. 115). Obwohl Stalin auch gegenüber den jüdisch dominierten frühen kommunistischen Gruppen in Palästina offiziell für einen multiethnischen Staat eintrat, gelang es den Zionisten sehr erfolgreich, die Sowjetunion für ihre Belange zu mobilisieren. Bachmann nennt sechs Gründe für diese überraschende „Interessenskorrelation“ (S. 109): Der von Marxisten traditionell eigentlich abgelehnte jüdische Nationalismus sollte erstens das Britische Empire im Nahen Osten schwächen und zweitens die USA und Großbritannien gegeneinander ausspielen. Zudem erhoffte Stalin sich einen internationalen Prestigegewinn für die Sowjetunion durch die Sympathien der jüdischen Gemeinden, vor allem in den USA, und die Etablierung eines „progressiven“ Staates mit sozialistischen Elementen (wie Zionisten ihn bewusst gegenüber sowjetischen Vertretern präsentierten) in einer als rückständig wahrgenommenen Weltregion. Und schließlich, so Bachmann, strebte Stalin nach der Anerkennung der UdSSR als Großmacht mit globalem diplomatischem Mitspracherecht.

Die sowjetische Presse berichtete daher wohlwollend über die israelische Staatsgründung im Mai 1948 und verurteilte den unmittelbar darauffolgenden Angriff der arabischen Staaten (wenn auch als englisch-imperialistische Aggression). Höhepunkt der sowjetischen Israel-Hilfe war der Verkauf von riesigen Mengen deutschen und englischen Kriegsgeräts aus tschechoslowakischen Beständen. Nur dank dieser Lieferungen, bezahlt mit dem Geld vorrangig amerikanischer Juden und unter Umgehung eines UN-Waffenembargos für den Nahen Osten, konnte, gestand der erste israelische Premier David Ben-Gurion später, der eben ausgerufene jüdische Staat überleben.

Als die Staatswerdung Israels aber auf Interesse und Sympathie der sowjetischen Juden stieß und Golda Mair als erste Botschafterin Israels in Moskau für deren Ausreise warb, kamen dem paranoiden greisen Diktator Zweifel an der Loyalität der Umworbenen (ein Verweis auf die unrühmliche Rolle des sowjetischen Spions Israel Beer, der diese Furcht schürte, fehlt leider). Stalins Kampagne gegen „Kosmopoliten“, mit ihren Schauprozessen und Morden vor allem an Juden in der UdSSR und Osteuropa von 1948 bis 1953, sieht Bachmann als eine direkte Folge des Israel-Engagements der Sowjetunion und folgt mit diesem Begründungsmuster der gängigen aktuellen Forschungsmeinung. Die Zurückweisung einer Sonderrolle für die sowjetischen Juden als spezielle Opfergruppe des Weltkriegs war sicher auch ein Beweggrund für die antisemitische Kampagne Stalins. Bis in die 1990er-Jahre gab es darüber hinaus aber auch spekulative Thesen einer bevorstehenden Massendeportation oder gar eines sowjetischen Holocausts einerseits, oder einer Provokation Stalins um einen Krieg mit den USA anzuzetteln andererseits. Diese Ansichten gelten schon seit einiger Zeit als überholt; es existierten zwar Gerüchte, aber bis heute wurde kein einziges Dokument gefunden, dass Pläne dieser Art belegen würde – auf die Debatte hätte jedoch kurz verwiesen werden können.2 Die Beziehungen zu Israel verschlechterten sich bereits ab Ende 1948; eine Tendenz, die durch die zunehmende Westorientierung Ben-Gurions noch verschärft wurde. Kurz vor seinem Tod brach Stalin die Beziehungen ab; sie wurden zwar im Sommer 1953 für einige Jahre wieder hergestellt, dann aber mit dem Sechstagekrieg 1967 dauerhaft auf Eis gelegt.

Die Beziehungen der Sowjetunion zu den arabischen Staaten basierten zunächst auf der gleichen antiimperialistischen Interessensgemeinschaft wie jene zu den Zionisten und hatten ihre Vorläufer in den freundschaftlichen Beziehungen zur kemalistischen Türkei und zu Persien in den 1920er-Jahren. Das Umschwenken auf eine dezidiert pro-arabische Position ab Ende der 1940er-Jahre war laut Bachmann wieder geopolitisch motiviert: Die mögliche Einbeziehung arabischer Länder in ein westliches Verteidigungsbündnis empfand der Kreml als sicherheitspolitische Bedrohung. Man hätte noch ergänzen können, dass der Kreml auch auf die numerische Überlegenheit der Araber und den draus resultierenden langfristigen Vorteil im Nahost-Konflikt setzte. Den letzten Ausschlag gab schließlich die Revolte der nationalistischen Offiziere um Gamal Abdel Nasser 1952 in Kairo, aus dessen anti-englischer Politik und seinem Bedürfnis nach modernen Waffen heraus sich allmählich eine „neue Interessensallianz“ (S. 180) bildete.

Bachmann ist eine vielschichtige diplomatiegeschichtliche Studie gelungen, die sich über weite Strecken klassisch auf geopolitische Entscheidungen, Verträge und Kabelberichte stützt. Eine kulturhistorisch erweiterte Diplomatiegeschichte im Sinne Susanne Schattenbergs, kein Muss aber oft eine erhellende neue Perspektive, liefert sie nicht. Sie betont vor allem die realpolitischen Interessen der Akteure, was für die spätstalinistische Sowjetunion plausibel ist, aber für die recht kurz behandelte ägyptische Seite und für die Zeit nach Stalins Tod vielleicht einige Aspekte zu kurz kommen lässt. Mit der Beschränkung auf den Zeitraum bis zum 20. Parteitag der KPdSU 1956 endet das Buch da, wo man gewinnbringend die rein geopolitischen Erklärungsmuster um interessante Transferphänomene zwischen Moskau und Kairo hätte erweitern können.3

Ein paar weitere Details ließen sich monieren: Sehr viel substantieller Text in den Fußnoten und eine streckenweise etwas spröde Stilistik stören mitunter den Lesefluss. Bachmann holt zu Beginn des Buches weit aus und sieht den sowjetischen Imperialismus in einer russisch-imperialen Kontinuität und die Bolschewiki als neue Träger des Sendungsgedankens der Orthodoxie. Auf die Gefahr historischer Entkontextualisierung und Verkürzung, die in dieser Kontinuitätsthese liegt, hat schon Dietrich Geyer in den 1970er-Jahren hingewiesen.4 Anstelle der Verweise auf die Mongolenherrschaft wären vielleicht noch mehr Bezüge zum zeitgenössischen welthistorischen Kontext der Entkolonialisierung hilfreich gewesen: Die Teilung Palästinas ereignete sich zur selben Zeit wie die Teilung Indiens und des Kongos, wo in der Folge recht ähnliche Maßnahmen politisch gewollter ethnischer Säuberungen stattfanden. Und für die sowjetische Abkehr von Israel spielte auch die Erfahrung mit dem Iran und der Türkei eine Rolle; beide Länder hatten sich trotz der Avancen aus Moskau nach Westen orientiert. Bezüglich der Muslime in der Sowjetunion, die immerhin zehn Prozent der sowjetischen Bevölkerung ausmachten, hätte man anmerken können, dass sie von Moskau nicht nur als Bedrohung der staatlichen Integrität gesehen wurden, sondern auch in der sowjetischen Außendarstellung als Vorbild für eine gelungene gelenkte Modernisierung „rückständiger“ Regionen präsentiert wurden.

Ungeachtet dieser Einschränkungen hat Wiebke Bachmann mit ihrer – mit knapp 200 Seiten angenehm konzisen – Diplomatiegeschichte einen wichtigen Beitrag zu den Außenbeziehungen der UdSSR im Spätstalinismus geschrieben und trägt damit auch zum Verständnis der Frühphase des Nahost-Konflikts bei, der bis heute die Weltpolitik und das Leben der Menschen in dieser Region prägt.

Anmerkungen:
1 Für einen Überblick über aktuelle Forschungen zum Thema siehe: David Engerman, The Second World’s Third World, in: Kritika 1 (2011), S. 183-211; Tobias Rupprecht, Die Sowjetunion und die Welt im Kalten Krieg. Neue Forschungsperspektiven auf eine vermeintlich hermetisch abgeschlossene Gesellschaft, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 3 (2010), S. 381-399; zum Spätstalinismus siehe das erste Kapitel von Vladimir Zubok, Zhivago’s Children. The Last Soviet Intelligentsia, London 2009; Jan Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Polen und in der DDR, Köln 2006 und weiterhin: Elena Zubkova, Russia after the War. Hopes, Illusions, and Disappointments 1945-57, New York 1998.
2 Zusammenfassend bei: Jean-Jacque Marie, L’Antisemitisme en Russie, Paris 2009, S. 353-361; Antonella Salomoni, L’Unione Soviética e la Shoa. Genocidio, resistenza, rimozione, Bologna 2007; Arno Lustiger, Rotbuch Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998.
3 Susanne Schattenberg, Die Sprache der Diplomatie oder Das Wunder von Portsmouth. Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Außenpolitik, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008) 1, S. 3-26; Tobias Rupprecht, Unter Autokraten, in: nzz-online 03.03.2011, <http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/unter_autokraten_1.9749790.html> (11.08.2011).
4 Dietrich Geyer (Hrsg.), Osteuropa-Handbuch. Bd. Außenpolitik I (1917-1955), Köln 1972, S. 1-19.

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