S. Westphal: Kaiserliche Rechtsprechung

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Titel
Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648 - 1806


Autor(en)
Westphal, Sigrid
Reihe
Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 43
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
526 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Ehrenpreis, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Jenaer Habilitationsschrift der Verfasserin greift das seit einigen Jahren steigende Forschungsinteresse an der Funktion und der Praxis der Reichsgerichtsbarkeit auf und verbindet dies mit generellen Fragestellungen zur Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Das Konzept der "komplementären Staatlichkeit des Reich-Staats", mit der die Verfassungswirklichkeit des Alten Reiches neuerdings - allerdings nicht unumstritten - beschrieben wird, dient als Folie für die Frage, inwieweit die obersten Reichsgerichte zur Herrschaftsstabilisierung in der traditionell fragmentierten Territorienlandschaft Thüringens beitragen wollten und konnten. Weniger die Interessen der Gerichte bzw. des Kaiserhofes, sondern eher der Gebrauch der Prozessmöglichkeit durch die Parteien stehen im Vordergrund.

Mit der Auswahl des Untersuchungsgebiets werden Defizite der Reichsgeschichte der letzten zwanzig Jahre ausgeglichen: Trotz der seit 1990 zugänglichen Archive steht die Integration der sächsischen, anhaltinischen und thüringischen Landesgeschichten in das (ehemals) westdeutsche Konzept der integrativen Sozial- und Verfassungsgeschichte des Reiches noch weitgehend aus. Die Untersuchung Westphals zeigt, dass ungedrucktes und auch zeitgenössisch durch Druckschriften publiziertes Quellenmaterial aus der Provenienz des obersten Reichsgerichtes erheblich zur Erhellung der grundlegenden Verfassungsstrukturen dieser Gebiete beitragen kann.

Eine wichtige Leistung der Studie stellt das methodisch innovative Verfahren dar, das Prozessaufkommen der thüringischen Territorien statistisch ähnlich detailliert aufzubereiten und zu analysieren, wie es das kürzlich abgeschlossene Greifswalder Projekt zur Reichsgerichtsbarkeit im südlichen Ostseeraum leistete.1 In einem zweiten Schritt - und dies stand weniger im Mittelpunkt des Greifswalder Unternehmens - verbindet Westphal die quantitative Analyse mit einem Zugriff auf ausgewählte Prozessverfahren, die inhaltlich ausgewertet werden. Erstmals liegt so eine zusammenfassende Datensammlung und Interpretation der Wirksamkeit der Justiz des Reichskammergerichts und des Reichshofrats für die politische Verfasstheit einer Region vor.

Im ersten Teil der Untersuchung steht zunächst die quantitative Analyse von 1092 Prozessfällen im Vordergrund. Hier zeigt sich, dass die Kategorie des Streitgegenstands für Thüringen andere Zahlen erbringt als für bisher untersuchte Gebiete: Probleme des dynastischen Familienverbandes und der Geldwirtschaft (Schuldenklagen) stehen an führender Stelle. Andere Streitgegenstände wie jurisdiktionelle oder staatlich-hoheitliche, insbesondere Ständekonflikte, die in der Forschung zu Mecklenburg, Württemberg oder Ostfriesland Beachtung fanden, treten dahinter zurück. Bei der Verteilung auf die beiden Reichsgerichte spiegelt sich die Durchsetzung der Appellationsprivilegien wider: Das Reichskammergericht wurde mit thüringischen Fällen erheblich weniger beschäftigt als der kaiserliche Reichshofrat.

Im umfangreichen Hauptteil steht die Untersuchung zweier ausgewählter Fallbeispiele im Mittelpunkt, die deutlich machen, dass der Reichshofrat nicht als ein gegen die thüringischen Reichsstände gerichtetes kaiserlich-zentralistisches Instrument zu verstehen ist, sondern als friedenstiftende und stabilisierende Institution. Sowohl der Sachsen-Coburg-Eisenberg´sche Sukzessionsstreit als auch die Schuldverfahren gegen Sachsen-Hildburghausen werden ausgreifend mit ihrer Vorgeschichte im 17. Jahrhundert geschildert, sodass Teile der Untersuchung geradezu eine Übersicht thüringischer Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert liefern. Dies trägt jedoch nicht immer zur Lesbarkeit des Buches bei. Der Umfang des Bandes hätte hier wohl Kürzungen vertragen, da nicht jede kleine Prozesswendung im Detail hätte geschildert werden müssen.

Die Untersuchung der beiden Fallbeispiele bestätigt jüngste Forschungsergebnisse: Die Bedeutung der kaiserlichen Kommissionen ist kaum zu überschätzen; gleichzeitig war die Gerichtsbarkeit des Reichshofrats durch politische Verbindungen und finanzielle Aktionen am Kaiserhof beeinflussbar. Letzteres ist jedoch weniger als Bestechung im modernen Sinne, sondern vielmehr als eine Form des Aushandelns zu verstehen.

Auf der anderen Seite machen die Umstände der Prozesse deutlich, dass auch noch im 18. Jahrhundert unter den Reichsständen die Anwendung von militärischer Gewalt durchaus üblich war - eine sonst im damaligen Europa wohl nur noch selten anzutreffende Form der Auseinandersetzung innerhalb des Hochadels. Dies stärkt die Interpretation der Verfasserin, die Reichsgerichte hätten zu einer Dämpfung von Konflikten, zur Stabilisierung von Dynastien und zur Integration der Territorien beigetragen, lässt allerdings die Frage offen, ob damit im europäischen Staatenvergleich die Konfliktlösungsmechanismen der Reichsverfassung durchweg als erfolgreich zu charakterisieren sind.

Wer einmal mit den als undurchschaubar geltenden Prozessakten der beiden Reichsgerichte gearbeitet hat, wird die Leistung der Verfasserin würdigen können. Vor allem die methodischen Aspekte der quantitativen Analyse des Prozessaufkommens werden sicherlich für weitere Studien Modellcharakter erhalten. Die ältere Forschung zum "dynastischen Fürstenstaat" 2 wird quellengesättigt erweitert und auf eine neue Basis gestellt. Die Gesamtdiskussion der Ergebnisse in Bezug auf die Verallgemeinerbarkeit der Rolle der Reichsgerichte in der Reichsverfassung wird jedoch weiter diskutiert werden müssen.

Anmerkungen:
1 Jörn, Nils, u.a. (Hgg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich, Köln 2000
2 Kunisch, Johannes, (Hg.), Der dynastische Fürstenstaat: zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982

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