Titel
Das Jahrzehnt der Solidarnosc. Die politische Geschichte Polens 1980 - 1990


Autor(en)
Kühn, Hartmut
Erschienen
Anzahl Seiten
618 S.
Preis
€ 29,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ilko-Sascha Kowalczuk, Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Die Bedeutung der politischen Geschichte Polens seit 1945 für den gesamten Ostblock kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Insbesondere die Impulse, die von der breitgefächerten polnischen Opposition ausgingen, sind für die Opposition in Ungarn, der CSSR und der DDR prägend gewesen. Als sich 1980 die unabhängige Gewerkschaft "Solidarnosc" bildete und die breite Opposition gegen die polnische kommunistische Partei anführte, konnte freilich kein Beobachter erahnen, daß das letzte Dezennium des Kommunismus in Europa eingeläutet worden war: Der greise Breshnew hatte 1979 Afghanistan okkupieren lassen, woraufhin dutzende Staaten die olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 boykottierten. Der Kalte Krieg schien erneut entfacht. Das am 13. Dezember 1981 in Polen verhängte Kriegsrecht, Tausende Internierungen und Hunderte Verurteilungen in Polen, eine bis heute ungeklärte Anzahl von Toten und vieles mehr deuteten keineswegs darauf hin, daß die Agonie des europäischen Kommunismus' tatsächlich in ihre letzte Phase gekommen war.

Über die polnische Entwicklung seit 1980 ist in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland eine Vielzahl von Büchern und Artikel publiziert worden. Insbesondere politische Kommentare, eine Reihe von nützlichen Dokumentensammlungen, die zumeist die Zeit 1980 bis 1982 spiegeln, zeitgenössische Analysen und vor allem eine Reihe von Autobiographien hervorragender polnischer Politiker, Wissenschaftler und Künstler haben dem deutschen Lesepublikum die Ereignisse aus verschiedensten Blickwinkeln - zum Teil widersprüchlichen - nahegebracht. Neben der Memoirenliteratur ist vor allem auf das Buch von Jerzy Holzer über die Solidarnosc von 1985 sowie auf Timothy Garton Ashs Darstellung von 1983 zu verweisen, die beide wesentlich die Einschätzungen über die Solidarnosc und die polnische Innenpolitik in Deutschland prägten.

In der deutschen Forschung dominierten in den letzten Jahren vor allem die Fragen danach, wie sich die SED-Führung zu den polnischen Vorgängen verhielt, welche Rolle sie innerhalb des Warschauer Paktes einnahm, wie sie versuchte, antipolnische Ressentiments in der Bevölkerung zu schüren (zuletzt Modrow noch im Februar/März 1990!) und welche Bedeutung der polnische Weg für die DDR-Opposition hatte. In der Forschung existieren darüber hinaus, insbesondere in Frankreich, England und den USA, eine Vielzahl von Studien, die genau und detailliert innerpolnische Entwicklungen analysieren. Naturgemäß wird der Forschungsstand aber weitgehend von polnischen Studien und Untersuchungen markiert, die vor 1989 zum Teil im Ausland, zum Teil im Samisdat publiziert und die seit 1990 in einer kaum zu überblickenden Anzahl veröffentlicht worden sind.

Hartmut Kühn, der aus der DDR stammende Autor des vorliegenden Buches, hat sich bereits seit den siebziger Jahren intensiv und inoffiziell mit der polnischen Geschichte und der polnischen Opposition beschäftigt. Er unterhielt umfangreiche Kontakte zu polnischen Oppositionellen und baute ein umfangreiches Privatarchiv auf, das er aus naheliegenden Gründen in Polen untergebracht hatte. Als Resultat dieser jahrelangen Studien liegt nun der erste deutschsprachige Überblick über die polnische Geschichte 1980 bis 1990 vor, dem ein weiterer folgen soll. Darin will er die Entwicklung seit 1990 darstellen.

Kühns Band zeichnet sich durch eine nüchterne und sachliche Sprache aus. Ihm geht es weniger um große Theorien oder aufsehenerregende Analysen. Statt dessen kommt es ihm mehr darauf, die Ereignisse minutiös zu dokumentieren und für die deutsche Leserschaft den Ablauf der Ereignisse in ihrer Dramatik festzuhalten. Dabei stützt er sich insbesondere auf publizierte polnische Dokumentensammlungen und auf eine große Anzahl von offiziellen Zeitungen sowie auf Periodika und sonstiges Schrifttum aus dem Samisdat. Er geht streng chronologisch vor und entfaltet ein dichtes Bild der Abläufe und Ereignisse. Vor dem Auge der Leserschaft entwickelt sich ein breites Panorama politischer Entwicklungen, die deutlich kennzeichnen, worin die Bedeutung des polnischen Weges für den Zusammenbruch des Sowjetimperiums und zugleich für das neue Europa nach 1990 liegt. Kaum jemand wird dieses Buch aus der Hand legen können, ohne tiefen Respekt vor dem Mut von so vielen polnischen Männern und Frauen, die es wagten, der Diktatur und den Panzern zu trotzen, zu bezeugen. Dies mag zwar ein erkenntnistheoretisch irrelevanter Befund sein, verdient aber dennoch hervorgehoben zu werden, weil zumindest der Rezensent der Ansicht ist, daß ein solches bildungspolitisches und demokratiebeförderndes Nebenprodukt keiner wissenschaftlichen Arbeit abträglich ist.

Streckenweise nimmt der Band allerdings den Charakter einer ausgeschriebenen Chronologie an. Das wird nicht nur den Leserkreis einschränken - und relativiert insofern die soeben gemachte Aussage - , sondern schmälert teilweise auch das Lesevergnügen. Dieses wird auch dadurch beeinträchtigt, als Kühn aus seiner intimen Kenntnis der Vorgänge und Zusammenhänge kein Geheimnis macht und der Leserschaft unaufhörlich neue Namen präsentiert, so daß es schon erhöhter Anstrengung bedarf, nicht den Überblick zu verlieren. Allerdings ist dem Autor zugute zu halten, daß er in einem vorzüglichen und ausführlichen kommentierten Personenregister jede erwähnte Persönlichkeit kurz vorstellt, so daß hier eine sehr nützliche Orientierungshilfe geboten wird.

Kühns Ansatz, die Entwicklung chronologisch darzustellen, birgt den Vorteil, daß dieses Buch leicht handhabbar ist. Allerdings erwachsen daraus auch einige kritische Punkte. Denn aus seiner prinzipiellen und vollkommen gerechtfertigten Hochachtung den polnischen Oppositionellen gegenüber resultiert zugleich eine gewisse Kritiklosigkeit gegenüber den handelnden Akteuren aus der Opposition. Im Prinzip übernimmt Kühn weitgehend vorgetragene Wertungen, ohne diese ernsthaft zu hinterfragen. Insbesondere die geheimen Verhandlungen von Oppositionellen mit Partei- und Regierungsvertretern sowohl 1981 als auch nach 1987 werden kaum thematisiert bzw. kritisch analysiert. Auch ist dem Autor anzulasten, daß er die Rolle der katholischen Kirche in Polen zu einseitig in ihrer traditionell hohen Bedeutung würdigt und auch deren zeitweiligen taktisch motivierten Zick-Zack-Kurs 1980/81 kaum hinterfragt. Am stärksten aber ist zu kritisieren, daß Hartmut Kühn seine politische Geschichte überwiegend aus der Sicht "großer Männer" schreibt. Zwar kommen am Rande etwa Demonstrationen und Hungermärsche oder auch die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen des polnischen Volkes vor, aber diese werden zumeist lediglich summarisch erwähnt, ohne daß deren tatsächliche Bedeutung für die Entwicklungsabläufe und die Handlungsoptionen der "großen Männer" analysiert werden. Ebenso weitgehend ausgeblendet bleiben die internationalen Rahmenbedingungen bzw. die internationalen Reaktionen auf die polnischen Entwicklungen. Schließlich nimmt zwar die Tätigkeit des polnischen Sicherheitsdienstes in der Arbeit einen wichtigen und breiten Raum ein, aber die Durchdringung der Opposition mit geheimen Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes wird von Kühn nicht einmal ansatzweise thematisiert. Allerdings muß hierbei auch konstatiert werden, daß in Polen die gesamte Diskussion und vor allem der Zugang zu den den Archivalien nicht mit den Bedingungen in Deutschland verglichen werden kann. Jüngst erst erregte in Polen der Fall von Marian Jurczyk, eines radikalen Oppositionellen, öffentliches Aufsehen, als das Prüfungsgericht Sad Lustracyjny, eine Art polnische "Gauck-Behörde", bestätigte, daß der "Nationalheld" Jurczyk für den kommunistischen Geheimdienst arbeitete. In den letzten Jahren sind eine Reihe von solchen Fällen öffentlich diskutiert worden. Kühn ist es nicht anzulasten, daß er sich nicht der Spekulation hingibt. Er hätte aber gleichwohl diesen noch insgesamt unerforschten Komplex wenigstens thematisieren müssen.

Diese exemplarischen kritischen Anmerkungen verweisen zwar auf wissenschaftliche Schwächen des Buches. Sie stehen aber wiederum nicht im Widerspruch zum Anspruch des Autors, "nur einen abrißhaften Überblick über die politischen Geschicke Polens zwischen August 1980 und Dezember 1990 [zu] geben" (S. 9). Hartmut Kühn hat zweifellos ein wichtiges Buch vorgelegt. Es sollten vor allem jene in die Hand nehmen, die sich mit den konkreten, faktengesättigten Abläufen in Polen 1980 bis 1990 vertraut machen wollen. Im deutschsprachigen Raum gibt es keine bessere Grundlage dafür.

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