S. Derix: Die Thyssens. Familie und Vermögen

Cover
Titel
Die Thyssens. Familie und Vermögen


Autor(en)
Derix, Simone
Reihe
Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit. Thyssen im 20. Jahrhundert 4
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Neumaier, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Vermögen firmierte als das strukturierende Element des Familienverbunds der Thyssens, wie Simone Derix in ihrer preisgekrönten, empirisch gesättigten und durchweg lesenswerten Habilitationsschrift eindrücklich darlegt. Indem Derix Vermögen als Leitkategorie für ihre Analyse wählt, gelingt es ihr, die Familienbeziehungen und -konstellationen jenseits eines enggeführten Familienbegriffs oder einer einseitigen Fokussierung auf das gleichnamige Unternehmen herauszuarbeiten. Das stellt einen entscheidenden Gewinn dar, da so die in der Einleitung diskutierte Trias von „Eisen und Stahl – deutsch – männlich“ durchbrochen wird (S. 9). Mit der Analysekategorie „Vermögen“ kann Derix nicht nur Investitionen und die industrielle Produktion erfassen. Sie ermöglicht es überdies, den Konsum, die Kapitalakkumulation und die ökonomische Verfasstheit von Familie zu erschließen. Das Private sei demnach, so Derix in ihrem Fazit, nicht nur politisch. Vielmehr habe es auch stets eine ökonomische Dimension. Diese zeigte sich insbesondere dann, wenn wie bei der Scheidung von August und Hedwig Thyssen 1885 das Vermögen aufgeteilt werden sollte. Diese Auseinandersetzung markiert den Beginn des Untersuchungszeitraums, der sich bis zu den 1960er-Jahren spannt. Zu dieser Zeit rangen die Familienmitglieder um die Frage, wie das Erbe von Fritz und Heinrich Thyssen – den letzten lebenden Söhnen August Thyssens – aufgeteilt werden solle.

Über die Vermögensallokation und dessen Verschiebung ergibt sich eine jeweils spezifische „Handlungsmöglichkeit“ oder „Handlungsmacht“, deren Veränderungen Derix in den empirischen Kapiteln gekonnt nachzeichnet. Sie sieht hierin einen entscheidenden Vorteil gegenüber Pierre Bourdieus Kapitalbegriff, der zwischen vier Kategorien unterscheidet (ökonomisches, kulturelles, soziales, symbolisches Kapital), dabei der ökonomischen Dimension durchaus eine besondere Bedeutung zuschreibe, sich bei der eigenen Analyse jedoch vor allem auf das kulturelle Kapital wie Bildung konzentriere. Vermögen umfasst für Derix sowohl die materiellen Aspekte und die daraus hervorgehenden Handlungsoptionen als auch die sozialen, kulturellen und symbolischen Aspekte. Insofern geht Derix zwar von einer Dominanz des Ökonomischen aus, reintegriert aber überdies Bourdieus Kapitalsorten in ihre Analyse. Vielleicht hätte an dieser Stelle deutlicher herausgearbeitet werden können, inwiefern sie an Bourdieus Überlegungen anschließt und dann darüber hinaus geht, ohne dabei einen expliziten Gegenpol zwischen ihrem Vermögensbegriff und Bourdieus Kapitalbegriff aufzubauen. Zudem würde der Leser bei dem kurzen Verweis auf die Akteur-Netzwerk-Theorie gerne mehr darüber erfahren, inwiefern dieser theoretische Baustein einen weiteren Erkenntnisgewinn verspricht, der sich nicht aus der „Wechselbeziehung zwischen Menschen und Vermögen“ (S. 19f.) ergibt. Eine geschickte Lösung ist andererseits die Feststellung, dass die Thyssens „ultravermögend“ waren. Derix kann die Thyssens somit als einen Familienverband beschreiben, für den Vermögen eine zentrale Rolle spielte, aber der genaue quantitative Umfang lässt sich wegen seiner exorbitanten Dimension und der weit verzweigten Vermögensverhältnisse eben nicht mehr erfassen. Ferner kann Derix über die Kategorie Vermögen Personen unterschiedlicher sozialer Herkunft als „Familie, Verwandtschaft und soziales Netzwerk“ in die Analyse integrieren, sofern sie einen Bezug zu den Thyssens aufwiesen (S. 25).

Weiterhin zeigt Derix eindrücklich auf, wie international vernetzt und hochmobil die „transnationalen Thyssens“ (S. 29) waren, deren Ausbildungs- und Wohnorte sich in Europa, den USA und Südamerika befanden. Zudem heirateten die Familienmitglieder über die Landesgrenzen hinaus und besaßen zugleich wechselnde Staatsangehörigkeiten. Schließlich analysiert Derix die verzweigten Familienbeziehungen in Anlehnung an die Netzwerkforschung, wodurch sich die Bedeutung der einzelnen Personen aus ihren relationalen Verflechtungen und den diesen innewohnenden Dynamiken ergeben, die mittlerweile auch die Familienforschung verstärkt analysiert. Derix’ innovativer Netzwerkansatz ermöglicht es überdies, die Rolle der Frauen für die Entwicklung der Vermögens- und Familienbeziehungen darzustellen. Aber auch Bekannte, Hausangestellte sowie Rechts- und Finanzberater geraten in den Blick, denen gerade in einer hochkomplexen und verästelten Vermögenskonstellationen eine zentrale Bedeutung zukam. Aus ihrem Ansatz ergibt sich darüber hinaus noch ein weiterer Mehrwert, wenngleich Derix diesen nicht mehr explizit thematisiert. So definiert die Soziologin Martina Löw Raum „als relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“.1 Dem relationalen Charakter räumlicher wie sozialer Beziehungen schreibt auch Derix eine hervorgehobene Rolle zu. Die Thyssen-Studie ist damit auch an Forschungsvorhaben jenseits der Geschichtswissenschaft anschlussfähig.

In ihrer ausführlichen und gut strukturierten Einleitung entfaltet Derix dieses Portfolio ihres analytischen Ansatzes, der die folgenden fünf empirischen Kapitel strukturiert. Zunächst wendet sie sich der Sozialisation zu und untersucht, wie diese in Familie, Schule, Militär und katholischen Einrichtungen durch das Vermögen beeinflusst wurde und welches Selbst- und Weltbild die Familienmitglieder entwickelten. Zweitens analysiert die Arbeit die Wohnorte und -verhältnisse der Thyssens, deren Ausgestaltung entscheidend vom vorhandenen Vermögen geprägt wurde. Als weiteres Signum identifiziert Derix die enorme Mobilität der Familienmitglieder, die immer mehrere Wohnsitze parallel führten. Diesbezüglich ähnelten die Thyssens nicht nur anderen Ultravermögenden. Dieses Verhalten verweist auch auf eine „territoriale Aneignung der Welt in einem transnationalen Sinne“, die mit den Sozialbeziehungen der Familienmitglieder verwoben war (S. 194). Familien wirken überdies als Transmissionsriemen bei der Weitergabe von Vermögen durch eine Überschreibung oder Vererbung. Der Vermögensverteilung weist dabei stets ein enormes Konfliktpotenzial auf, das zu Streitigkeiten zwischen Geschwistern und Partnern führen konnte, wie Derix überzeugend herausarbeitet. Sie betont dabei, dass sich verändernde Vermögenssituationen die Familienbeziehungen signifikant prägten. Zudem wurden die Konflikte nicht selten öffentlich ausgetragen oder vor Gericht verhandelt, womit die Rechtsexperten eine besondere Rolle einnahmen. Damit einhergehend verloren überdies die Frauen ihre Funktion als „familiale Schlichterinnen“ (S. 235).

Derix zeigt ferner auf, wie den Frauen bei Ehescheidungsverfahren zwar weitgehend der Zugang zum Vermögen und dem Unternehmen verwehrt wurde, sie aber immer wieder Wege fanden, die rechtlichen Vorgaben zu unterminieren. Ehescheidungen firmierten dabei als ein Kristallisationspunkt, an dem sich soziale Beziehungskonstellationen eingehend untersuchen lassen. Mit diesem Befund distanziert sich Derix gleichsam von der lange gehegten Vorstellung, dass die Lösung einer Ehe mit einem Bedeutungsverlust für die Institutionen Ehe und Familie einhergehe. Auch hier ist ihre Studie anschlussfähig an jüngere familiensoziologische Konzepte, die verstärkt auf diese alternative Sichtweise auf Ehescheidung verweisen.2 Anschließend diskutiert Derix, mit welchen Strategien die Familienmitglieder versuchten, ihr Vermögen zu schützen und welche Rolle hierbei Rechts- und Finanzexperten zukam, die die Vermögensanteile international verteilten. Auch so konnte der Besitzstand über politische Umbrüche hinweg gewahrt werden, nicht zuletzt, weil es so gelang, das Familienvermögen dem nationalstaatlichen Zugriff zu entziehen. Inwiefern das Ende des Zweiten Weltkriegs für die Thyssens einen zentralen Einschnitt markierte, untersucht Derix im letzten Kapitel. Sie interpretiert dabei die Nachkriegszeit als markante Zäsur, da die zentralen Berater der Familie wie auch die beiden letzten Söhne von August Thyssen verstarben und infolgedessen die Vermögensverhältnisse neu geordnet werden mussten. Erneut zeigte sich dabei, dass Vermögen stets die materielle Voraussetzung für den Lebensstil der Thyssens bildete. Vermögen war überdies aber auch ein Medium des Sozialen.

Wer sich für die Bedeutung von Vermögen bei der Ausgestaltung von Sozialbeziehungen und Netzwerken, der ökonomischen Verfasstheit von Familienbeziehungen und transnationale Mobilitätsformen interessiert, dem sei diese Studie wärmstens empfohlen. Zudem kann die Arbeit aufgrund der analytisch klar getrennten Kapitel auch in Abschnitten gelesen werden, was sich anbietet, wenn nur Teilaspekte für die eigenen Forschungsarbeiten relevant sind. Überdies werden auch all diejenigen auf ihre Kosten kommen, die sich für eine frische Perspektive auf die Familiengeschichte der Thyssens interessieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, S. 177. Siehe auch dies., Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008.
2 Vgl. exemplarisch Günter Burkart, Familiensoziologie, Konstanz 2008, S. 27; Marina Rupp / Hans-Peter Blossfeld, Familiale Übergänge. Eintritt in nichteheliche Lebensgemeinschaften, Heirat, Trennung und Scheidung, Elternschaft. in: Norbert F. Schneider (Hrsg.), Lehrbuch Moderne Familiensoziologie. Theorien, Methoden, empirische Befunde, Opladen 2008, S. 139–166, hier v.a. S. 156.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension