A. Bresselau von Bressensdorf: Frieden durch Kommunikation

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Titel
Frieden durch Kommunikation. Das System Genscher und die Entspannungspolitik im Zweiten Kalten Krieg 1979–1982/83


Autor(en)
Bresselau von Bressensdorf, Agnes
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 88
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 385 S., 1 Faltkarte, 13 Abb.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Greiner, Berliner Kolleg Kalter Krieg / Hamburger Institut für Sozialforschung

Die internationalen Krisenherde unserer Tage nehmen sich weniger dramatisch aus, wenn man sie mit den Konflikten in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren vergleicht. Die UdSSR führte mit hunderttausenden Soldaten in Afghanistan Krieg, die polnische Regierung versuchte Gewerkschafter und andere Dissidenten in ihrem Land mit dem Kriegsrecht mundtot zu machen, amerikanische Rüstungsexperten faselten öffentlich über „gewinnbare Atomkriege“ und „Enthauptungsschläge“ gegen die sowjetische Führung, NATO und Warschauer Pakt lieferten sich einen Wettlauf mit Mittelstreckenraketen, der Senat in Washington blockierte unterschriftsreife Rüstungskontrollabkommen, Söldner in westlichen und östlichen Diensten trugen die Konkurrenz der Supermächte in Afrika und Lateinamerika auf ihre Weise aus, Präsident Reagan brandmarkte die Sowjetunion als „Reich des Bösen“, gegen dessen Aggressivität er weltraumgestützte Waffensysteme aufbieten wollte. Kurzum: Die mühsam erarbeiteten Erfolge der Entspannungspolitik drohten innerhalb weniger Jahre zur Makulatur zu werden. Eines jedoch verbindet diese Phase des Kalten Krieges mit der Gegenwart – die Frage nach der Eindämmung und Moderation von Krisen. Welche Handlungsspielräume gibt es? Wie können Ängste, Affekte und Ressentiments gedämpft und Feindbilder in den Hintergrund gerückt werden? Wo liegt die Grenze zwischen Prinzipienfestigkeit und Selbstverblendung?

Die Antworten auf derlei Fragen sind ebenso offen wie die historischen Situationen, in denen sie gestellt werden. Aber Anhaltspunkte können Historiker allemal geben, wie Agnes von Bressensdorf in ihrer Studie über Hans-Dietrich Genschers Entspannungspolitik auf bemerkenswerte Weise zeigt. Gestützt auf eine breite Materialbasis – ungedruckte Quellen aus deutschen, britischen und französischen Regierungsbeständen, Partei- und Pressearchive, Autobiographien und Memoiren – fertigt die Autorin nicht nur das tiefenscharfe Porträt eines Politikers in seiner Zeit. Sie verdeutlicht zugleich, warum Genschers Erbe nach wie vor zur außenpolitischen Orientierung in unübersichtlichen Zeiten taugt – und dass die jüngst wieder in Mode gekommene Rede vom kompletten Scheitern deutscher Entspannungspolitik weniger im Wissen um den Gegenstand als in Vorurteilen und Ressentiments gründet.

Gerade in Krisen, so Genschers Credo, muss der Dialog mit Gegnern und Konkurrenten gesucht, wenn nicht gar institutionalisiert werden. Mochten Kritiker im In- und Ausland noch so sehr das Gespenst eines neuen „Appeasement“ an die Wand malen, der westdeutsche Außenminister blieb – mit Rückendeckung des Kanzleramtes – bei seiner Linie: Unterschiedliche Wertvorstellungen und scheinbar unvereinbare Interessen dürfen kein Hemmnis für Verhandlungen sein, regelmäßige Kontakte bringen in ruhigen Zeiten Bewegung in die Politik und beruhigen sie, sobald schwere Wetter aufziehen. Dies war kein opportunistisches Taktieren. Es ging vielmehr um die Produktivität von Entschleunigung. Wer sich zurückhält und dem Zweifel Raum lässt, gibt allen Beteiligten die Chance zur Selbstkorrektur und öffnet Handlungsspielräume – vorausgesetzt, das Gespräch reißt nicht ab.

Warum Kommunikation für Genscher ein Wert an sich war und mit welchem Aufwand er aus diesem Grundsatz politischen Gewinn erwirtschaftete, arbeitet Agnes von Bressensdorf mit Liebe zum Detail und klarem Blick für das Große und Ganze heraus. Dass Vertrauen, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit erst im dauerhaften Gespräch entstehen können, ist hinlänglich bekannt. Genscher wusste daraus Kapital zu schlagen, weil er zugleich den Grundregeln wetterfester Diplomatie folgte: Deutungsoffenheit, Formelkompromisse, Vertagung und Wiedervorlage. Man könnte auch von einer konsequenten Entideologisierung oder Entgiftung von Außenpolitik sprechen. Es war ein Balanceakt in einer Zeit, die unter übermäßigen Antipathien und einem extremen Mangel an Empathie litt. Gemeint ist der Unwillen, sich in die Lage der anderen Seite zu versetzen, aber auch das ignorante Pochen auf der Vorstellung, dass Gewinne für die eigene Seite stets auf Kosten der anderen Seite gehen müssen. Diesem Zeitgeist begegnete Genscher mit einem Beharren auf diplomatischen Minimalstandards: Differenzen diskutierbar zu machen und andere Interessen auch dann zu respektieren, wenn die Gegenseite von einer Kurskorrektur noch weit entfernt ist.

Das von der Autorin so genannte „System Genscher“ war auf die Umsetzung dieser Leitlinien zugeschnitten. Gemeint ist eine innovative Verbindung von vertraulicher Diplomatie einerseits und medialisierter Außenpolitik andererseits. Dass der Außenminister mehr als andere vor ihm Medienpräsenz suchte und die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit zu einer der wichtigsten Stabsstellen des Auswärtigen Amtes ausbaute, ist oft kommentiert, aber in seiner Tragweite selten verstanden worden. Agnes von Bressensdorf hingegen erfasst die Pointe: Obwohl auch innenpolitisch motiviert, war Genschers Auftreten in der Öffentlichkeit in erster Linie Bestandteil seiner Außenpolitik. Selbstredend konnte er die Medien nicht zum verlängerten Arm des Auswärtigen Amtes machen; aber wie man sie geschickt nutzt, wusste er allemal. Gerade weil er auf beiden Bühnen – im vertraulichen Dialog unter Diplomaten wie auch in öffentlicher Rede – stets ein- und dieselbe Botschaft lancierte, entzog Genscher Fehldeutungen und Missverständnissen den Boden, mehrte er das Vertrauen in seine Person und in die Verlässlichkeit der Bonner Außenpolitik.

Wie belastbar Genschers Strategie der kommunikativen Deeskalation war, schildert die Autorin am Beispiel der Doppelkrise um Afghanistan (1979/80) und Polen (1980–1982). Die westdeutsche Seite agierte in dieser Zeit unter denkbar schlechten Voraussetzungen: Für die amerikanische Administration ging es im Grunde nur noch darum, die ohnehin unbeliebte Entspannungspolitik endgültig ad acta zu legen, Franzosen und Briten rangelten hinter dem Rücken ihrer Bündnispartner um die außenpolitische Führungsrolle in Europa, Moskau pflegte seine traditionellen Einkreisungsängste. Zwar betonte das Auswärtige Amt dessen ungeachtet den Wert antizyklischer Initiativen: rhetorische Zurückhaltung, Gespräche mit Moskau, um den Sowjets einen gesichtswahrenden Rückzug aus Afghanistan zu ermöglichen, Werben für die Idee eines blockfreien Afghanistan. Wie zu erwarten, liefen diese Bemühungen um eine diplomatische Entkrampfung allerdings ins Leere. Nicht so im Falle Polens. Als die USA nach der Verhängung des Kriegsrechtes nicht nur mit Wirtschaftssanktionen reagierten, sondern alle Rüstungskontrollverhandlungen auf Eis legen wollten und am Ende gar die KSZE-Schlussakte zur Disposition stellten, konnte Genscher seiner Position Gehör verschaffen. Nicht zuletzt auf Drängen Bonns wurden die Gespräche über den Abbau von Mittelstreckenwaffen weitergeführt, hielten die KSZE-Staaten an ihrer Konferenz- und Gipfeldiplomatie fest, unterzeichneten die wichtigsten Gläubigerstaaten Polens im Frühjahr 1981 ein Umschuldungsabkommen – elementare Voraussetzungen zur Eindämmung einer Krise, die nach Meinung vieler Beobachter aus dem Ruder zu laufen drohte.

Den historischen Ort dieser Entspannungspolitik markiert Agnes von Bressensdorf mit einem ausgeprägten Gespür für Nuancen und Ambivalenzen, für Flüchtiges und Bleibendes. Im Tagesgeschäft war Hans-Dietrich Genscher in erster Linie mit Reparaturarbeiten und dem Abdichten von Deichen beschäftigt. Dass sein Werben um Vertrauen Resonanz fand, ist unbestritten; ebenso, dass er auf diese Weise an der folgenreichen Annäherung zwischen Ronald Reagan und Michael Gorbatschow Anteil hatte. Das Ende des Kalten Krieges indes und die deutsche Wiedervereinigung waren mit einer Politik der kleinen Schritte nicht auf den Weg zu bringen, dazu bedurfte es dramatischer, nicht kalkulierbarer Einschnitte – ein Punkt, den die Autorin bei aller Wertschätzung ihres Protagonisten klar benennt. Gleichwohl dachte Genscher weit über den Tag hinaus. Gerade im Vergleich zu seinen damaligen Kollegen aus den USA oder Großbritannien muss man ihm deutlich mehr Augenmaß und Weitsicht attestieren – die vorliegende Studie belegt es anhand zahlreicher Beispiele. So wäre Afghanistan und der Welt, um nur den gravierendsten Fall zu nennen, viel erspart geblieben, wenn man statt einer effekthaschenden „Politik der Stärke“ den Vorschlägen Genschers gefolgt wäre.

Spätestens an diesem Punkt zeigt sich die tagespolitische Brisanz des Buches. Zurückhaltend und dennoch prägnant verweist Agnes von Bressensdorf auf den Gestaltungsspielraum von Mittelmächten wie der Bundesrepublik: Eigenständige Initiativen müssen kein Gegensatz zu bündnispolitischer Verantwortung sein – im Gegenteil, sie können einem unbeweglich gewordenen Bündnis sogar neues Leben einhauchen. Dazu allerdings bedarf es geschickter Politiker der leisen Töne, solcher Politiker wie Hans-Dietrich Genscher, die Empathie über Ideologie stellen, weil sie wissen, wie schnell aus billiger Propagandamünze die große Währung im Kreislauf der Vorurteile, Affekte und Ressentiments werden kann. So gesehen handelt die Studie nicht allein von großer Diplomatie, sondern auch von Kulturgeschichte – ein gelungener Wurf nicht zuletzt deshalb, weil er zum Nachdenken über unsere eigene Zeit anregt.

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