M. Raasch: Der Adel auf dem Feld der Politik

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Titel
Der Adel auf dem Feld der Politik. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära (1871–1890)


Autor(en)
Raasch, Markus
Reihe
Beiträge zur Geschiche des Parlamentarismus und der politischen Parteien 169
Erschienen
Düsseldorf 2015: Droste Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartwin Spenkuch, Berlin

Moderne deutsche Adelsgeschichte ist keine terra incognita mehr, denn in den letzten Jahren erschienen zahlreiche Arbeiten. Die an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt entstandene Habilitationsschrift von Markus Raasch kann sich darauf stützen, schöpft zudem aber lobenswerterweise insbesondere aus mehreren Dutzend Adelsnachlässen in Staats- und Familienarchiven von Katowice bis Speyer und Landshut. Zur lange vernachlässigten Zentrumspartei, der ersten (konfessionellen) Volkspartei, wird seit den Pionierwerken von Margaret Anderson (1981) und Wilfried Loth (1984) vermehrt geforscht. Karl Otmar von Aretins Biographie des Fraktionsvorsitzenden Georg v. Franckenstein (2003) verknüpfte Adels- und Parteigeschichte bereits partiell und Raaschs Studie folgt ihm, meist auch in der Beurteilung; sie ist freilich breiter angelegt und ergänzt um die Perspektive der Kulturgeschichte der Politik.1

Den konkreten Untersuchungsgegenstand bilden 114 Reichstagsabgeordnete, die einerseits Aristokraten waren und andererseits 1871–1890 der Fraktion der Deutschen Zentrumspartei angehörten. Es geht also weder um „den Adel“ noch die gesamte Kaiserzeit, sondern um die in Preußens Westen bzw. Schlesien und in Süddeutschland ansässige katholische Teilgruppe. Sie wird von der Forschung seit langem als nicht identisch mit dem quantitativ dominierenden protestantischen nordostdeutschen Land- und Militäradel betrachtet. Insbesondere Heinz Reif konstatierte frühzeitig eine aus reichsadeliger Tradition und Konfrontation mit dem Staat Preußen erwachsene politische Spaltung zwischen beiden Adelsformationen, die auch in Raaschs sozialgeschichtlich akzentuierter Untersuchung mehrfach aufscheint.

Die Arbeit ist in Einleitung, vier Kapitel mit konzisen Zusammenfassungen und eine Schlussbetrachtung gegliedert. Das Erkenntnisinteresse laute, die Positionierung von Adel und Zentrumspartei gegenüber den Modernisierungsprozessen der Epoche sowie die dabei debattierten Gestaltungsmöglichkeiten zu untersuchen (S. 21). Den „Adel per se ‚als Modernisierungs- und Parlamentarisierungsverhinderer‘ zu konturieren“ (S. 13), sei nicht länger zulässig. In der Tat wurden für andere adelige Teilgruppen, etwa Gutsbesitzer der Provinz Ostpreußen oder die von (schlesischen) Adeligen geführte Freikonservative Partei längst eine liberale bzw. reformkonservative Ausrichtung konstatiert. Freilich brach dieses Phänomen der 1860er- und 1870er-Jahre auch infolge von Bismarcks Rechtswendung seit 1878/79 weithin ab.2 Danach verhärteten sich unter (jüngeren) Adeligen die Positionen gegenüber weiterer Modernisierung und Demokratisierung. Bei der von Raasch als Zentrumsadelige bezeichneten Teilgruppe deutet sich diese Entwicklung in ähnlicher Weise an.

Im ersten Kapitel werden das ökonomische, soziale und kulturelle Kapitel der 92 Abgeordneten aus Schlesien, Westfalen, Rheinprovinz, Südwestdeutschland, Bayern-Franken sowie der 22 evangelischen Hospitanten aus dem 1866 annektierten Hannover detailliert analysiert. Diese Adeligen machten 61% (Westfalen) bis 29% (Rheinland), im Durchschnitt knapp 39% aller Reichsmandatsträger des Zentrums in diesen Regionen 1871–1890 aus. Als Ergebnis treten die meist solide finanzielle Situation, Kirchentreue und Heimatverwurzelung, Landorientierung und Gutsbesitzerstatus, adelig-verwandtschaftliche Binnenkohäsion und Repräsentationsbewusstsein sowie mit steigendem Professionalisierungsgrad sinkende Militäraffinität hervor.

Im „Mentalitäten“ betitelten zweiten Kapitel beschreibt Raasch die Gegnerschaft zu Liberalismus und Sozialdemokratie, Zentralismus und (preußischer) Staatsgläubigkeit sowie die organisch-ständische Weltsicht, die den Schulterschluss mit der ländlichen Bevölkerung ermöglichten. Raasch bestätigt damit Interpretationen Heinz Reifs bezüglich der Charakteristika und des Ideenhaushalts des katholischen Adels (S. 251, 404f.). Erkennbare antijüdische Aversionen blieben rechtsstaatlich eingehegt (S. 249). Im dritten Kapitel zur kulturellen Praxis geht es um die Wahrnehmung bzw. Stilisierung des Zentrumsadels als Bindeglied zwischen der Bevölkerung und den Mächtigen, um das alltägliche Verhalten im tendenziell ungeliebten Berliner Fraktions- und Parlamentsbetrieb sowie um das Verhältnis zur preußisch-deutschen Regierung. Dabei zeigt sich nach Raasch, dass adelige Zentrumsabgeordnete als Standesgenossen regierungsseitig bevorzugt kontaktiert wurden, um die Zentrumsfraktion gouvernemental zu stimmen. Bürgerliche Zentrumsabgeordnete unterhielten eher Kontakte zu liberalen, adelige mehr zu konservativen Parlamentskollegen. Als Spitzengruppe in der ländlich-katholischen Welt nahmen Zentrumsadelige auch wichtige Führungspositionen in Parteiorganisation und katholischen Laien- oder Bauernvereinen ein. In diesen zwei Kapiteln arbeitet Raasch in bisher ungekannter Quellendichte die weltanschaulichen und habituellen Zentralkoordinaten für die Zentrumsadeligen heraus und fasst dies unter dem Begriff der milites christiani. Zuweilen gibt Raasch zu viele Zitate als Belege für Schlussfolgerungen wieder, die heute kaum jemand anzweifelt.

Weniger tiefgründig fällt die Nachzeichnung der Rolle der Zentrumsfraktion auf den Feldern von Wirtschafts- und Sozialpolitik im vierten Kapitel aus. In der Sozialpolitik übergeht Raasch die vielbändige Quellensammlung von Florian Tennstedt und die Arbeitsergebnisse von dessen Forschergruppe. Wolfgang Ayass erfährt wenig überzeugende Kritik (S. 374, 376), weil er Franz Hitze, nicht Georg Graf Hertling, für den bedeutendsten Sozialpolitiker der Partei (seit 1884) hält und den nur bezüglich Kinder- und Sonntagsarbeit in Fabriken konkreten Antrag Graf Galens von 1877 nicht als wesentliche Triebfeder legislativer Sozialpolitik der Bismarckzeit ansieht. Aus Raaschs Studie schließt der Rezensent, dass der sozialpolitischen Aufgeschlossenheit und der legitimen wirtschafts- und finanzpolitischen Klientelorientierung eine verfassungspolitische Zurückhaltung gerade des adelig dominierten rechten Parteiflügels gegenüberstand. Während Windthorst bevorzugt mit dem Linksliberalismus kooperierte, suchten die Zentrumsadeligen meist eine Anlehnung an die konservativen Parteien und die Regierung Bismarck. Nachdem der Kampf für die Kirche, das einigende Hauptanliegen der Partei in den 1870er-Jahren, seit 1886/87 abgeebbt war, brachen die interessenmäßigen und politischen Gegensätze zwischen den katholischen Sozialgruppen deutlicher auf. Unter dem Zwang des Austarierens im Zentrumsturm und konfrontiert mit den Drohungen und Lockungen der Regierung lavierte die Zentrumsfraktion und suchte möglichst Kompensationen zu erhalten. Jedoch auch nach 1890 stand das Zentrum in der Spannung zwischen Mitarbeit an einem Reformbündnis aus SPD, Freisinn und Minderheiten oder Kooperation mit der Regierung und Mehrheitsbeschaffung für Konservative und Nationalliberale. Den Schulterschluss nach links wagte die Reichstagsfraktion erst 1917.

In der Schlussbetrachtung werden die Faktoren aufgelistet, die den zahlenmäßigen Rückgang des Adels in der Zentrumsfraktion erklären: Abbruch des Kirchenkampfs und Pluralisierung der Strömungen im Zentrum, Ende der a priori Akzeptanz von adeliger Führung und Aufstieg von bürgerlichen Führungspersönlichkeiten. Diesen altbekannten Gründen fügt Raasch in einer unvermittelten Volte auf den letzten Seiten hinzu, zum Rückzug des Adels habe auch die „Dekonstruktion seines Männlichkeitskonzeptes“ (S. 411) beigetragen – wie hoch dieser kulturalistische Faktor vergleichsweise zu gewichten ist, bleibt unerklärt.

Wie bereits Karl Otmar von Aretin möchte Raasch die „Windthorstfixierung“ (S. 409) der Zentrumshistoriographie bei Margaret Anderson und anderen relativieren, und führt dies in separaten Aufsätzen weiter aus.3 Er hält die Charakterisierung des Zentrums als liberale Partei durch Anderson für zu weitgehend, und argumentiert, dass der ideell antimodern eingestellte Zentrumsadel mit seinem Engagement zur Integration der Katholiken in das Kaiserreich, ja quasi wider Willen, zur pluralistischen Moderne beitrug. Ähnlichen Linien folgt ein von Raasch mitherausgegebener neuer Tagungsband, der speziell regionale, transnationale und kulturalistische Aspekte thematisiert.4

Da Raasch sich bewusst auf die Jahre bis 1890 beschränkt (S. 20f.), fällt die weitere Entwicklung der Adelsgruppe in der Zentrumspartei aus seinem Zeitrahmen, speziell die drastische Schrumpfung bei den Mandatsträgern auf ca. 10% bis 1912. Dass sich seit dem Septennatsstreit 1886/87 die Distanz von Zentrumsadeligen zum „demokratischen Kurs“ der bürgerlichen Fraktionsgrößen von Windthorst über Lieber bis zu Trimborn und Erzberger vergrößerte, deutet Rasch mehrfach an (S. 218, 237, 263f., 300, 410). Zudem gab es aber von Aristokraten mitgetragene Abspaltungsversuche nach rechts im Umfeld der Heeresvorlage 1893 oder des Kolonialskandals 1906/07 und bis zum Reichskatholikenausschuß der DNVP ab 1920 reichend. In längerer Perspektive erscheint dem Rezensenten die Ära der Zentrumsadeligen als eine begrenzte Phase; nach 1893 habe keiner mehr eine führende Rolle gespielt, urteilte Wilfried Loth.5

Insgesamt kann das Werk mit reichhaltigen und dicht quellenbasierten Ergebnissen aufwarten. Es darf als nicht unkritische, insgesamt überzeugende Synthese zur (süd- und westdeutschen) politischen Sozialgeschichte des Zentrumsadels in der Bismarckzeit gelten. Raasch schließt damit partiell die Lücke, die Wilfried Loths Studie zur wilhelminischen Zeit gelassen hatte. Einige Einschätzungen zur legislativen Politikgeschichte teilt der Rezensent jedoch nicht.

Anmerkungen:
1 Margaret L. Anderson, Windthorst. Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks, Düsseldorf 1988 (engl. 1981); Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984; Karl Otmar von Aretin, Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003.
2 Herbert Obenaus, Gutsbesitzerliberalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 304–328; Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 172–192; Volker Stalmann, Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866–1890, Düsseldorf 2000.
3 Markus Raasch, Ludwig Windthorst und der Adel. Ein Blick in das Innenleben der Zentrumspartei, in: Historisch-politische Mitteilungen 22 (2015), S. 171–197; Ders., Der „Zentrumsadel“ und das Parlament. Ein Beitrag zur politischen Kulturgeschichte der Bismarckära, in: Archiv für Kulturgeschichte 97,2 (2015), S. 427–456.
4 Andreas Linsenmann / Markus Raasch (Hrsg.), Die Zentrumspartei im Kaiserreich. Bilanz und Perspektiven, Münster 2015.
5 Horst Gründer, Rechtskatholizismus im Kaiserreich und der Weimarer Republik unter besonderer Berücksichtigung der Rheinlande und Westfalens, in: Westfälische Zeitschrift 134 (1984), S. 102–155; Larry E. Jones, Catholic Conservatives in the Weimar Republic: The Politics of the Rhenish-Westphalian Aristocracy, 1918–1933, in: German History 18 (2000), S. 60–85; Loth, Katholiken im Kaiserreich, S. 53f.

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