M. Witte: Die Griechen und der Vordere Orient

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Titel
Die Griechen und der Vordere Orient. Beiträge zum Kultur- und Religionskontakt zwischen Griechenland und dem Vorderen Orient im 1. Jahrtausend v. Chr.


Herausgeber
Witte, Markus; Alkier, Stefan
Reihe
Orbis biblicus et orientalis 191
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
X, 135 S.
Preis
€ 38,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Knippschild, Historisches Institut, Universität Potsdam

Der Band "Die Griechen und der Vordere Orient" geht aus einem interdisziplinären Symposion hervor, welches die Projektgruppe "Altorientalisch-hellenistische Religionsgeschichte" der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt am Main im April 2002 abgehalten hat (S. VII). Vier der Vorträge sind hier abgedruckt und von den Herausgebern, Markus Witte und Stefan Alkier, im Vorwort hilfreicherweise kurz zusammenfasst.

Peter Högemann ("Das ionische Griechentum und seine altanatolische Umwelt im Spiegel Homers", S. 1-24) eröffnet seinen etwas ungewöhnlichen Beitrag mit einem Abriss der Geschichte Athens vom 7. bis ins 4. Jahrhundert v.Chr., der Schwerpunkt liegt dabei auf der expansiven Außenpolitik. Es folgt eine Analyse der Rolle, welche der Stadt von der Forschung zugewiesen wird. Er kontrastiert ionisches und attisches Griechentum, wobei den Ioniern aufgrund der Vertragsterminologie in der Ilias das Bemühen um friedliche Koexistenz mit den Nachbarstaaten attestiert wird (S. 4). Ionien betrachtet Högemann vor allem im Kontext seiner vorderorientalischen Nachbarn. Der Autor sieht im kleinasiatischen Raum die kulturelle Blüte des Griechentums, bevor Milet bald nach 500 v.Chr. seine Rolle an Athen abtrete, welches in Abgrenzung von den Kulturen des Vorderen Orients den europäischen (sic!) Sonderweg anbahne (S. 5).

Der Beitrag trägt deutlich die Züge eines mündlichen Vortragsmanuskriptes. So erklärt Högemann, dass die Versuche ins Leere liefen, die Ilias bis ca. 650 v.Chr. herabzudatieren, ohne sich dazu zu äußern, worauf er sich hier bezieht (S. 21). Er sieht Homer das Epos zwischen 700 und 680 v.Chr. eigenhändig auf Leder schreiben (S. 21f.), auch hier ohne stützende Argumentation. Bemerkungen wie etwa die Aussage, dass Karisch die Gesichtszüge des Sprechenden zum Entgleisen bringe (S. 11f.), erklären sich wohl aus dem mündlichen Vortrag. Dies gilt vermutlich auch für die zuweilen fragwürdige Terminologie, etwa für die Bezeichnung "Polisstaaten" für Stadtstaaten im syro-luwischen bzw. syro-phoinikischen Raum (S. 13). Maßgebliche Literatur neueren Datums ignoriert der Autor, zum Beispiel im Falle der Kontakte zwischen dem Lyderkönig Gyges und Assurbanipal von Assur (S. 19).1

Veit Rosenberger ("Reisen zum Orakel. Griechen, Lyder und Perser als Klienten hellenistischer Orakelstätten", S. 25-58) deckt zunächst sein methodisches Vorgehen auf, was einen großen Bonus für den Leser darstellt (S. 26ff.). Er analysiert ausgewählte Orakelstätten in Bezug auf ihre jeweilige Weissagungstechnik und ihren Einzugsbereich. Des Weiteren betrachtet der Autor Rolle und Wertschätzung der einzelnen Orakel in der alten Welt. Die untersuchten Stätten sind Delphi, Dodona und Lebadeia im griechischen Mutterland sowie Didyma und Klaros in Kleinasien.

Besonders interessante Aspekte greift Rosenberger gezielt heraus. In Delphi analysiert er die Beeinflussung der Tagespolitik durch die pythischen Priester am Beispiel der Sizilischen Expedition Athens. In Dodona behandelt er Inschriften auf Orakeltäfelchen und vergleicht sie mit der literarischen Überlieferung. Im Fall von Didyma geht Rosenberger besonders auf die Geschichte des Orakels, seine Blüte vor der Perserzeit, die Zerstörung im Rahmen der Niederschlagung des Ionischen Aufstandes durch die Perser und sein erneutes Hervortreten seit der Alexanderzeit ein. Ihren Ruf verdanke die Orakelstätte mit vorwiegend lokalem Einzugsbereich vor allem Milet. Bei Klaros stellt Rosenberger einen weiteren Einzugsbereich als im Falle von Didyma fest: Auch aus dem Binnenland und aus Gebieten außerhalb Kleinasiens werden Anfragen an das Orakel gerichtet.

In einer Zwischenbilanz hält der Verfasser fest, dass Anfragen an griechische Orakel vorwiegend aus der griechischen Welt stammten, während Kleinasien weniger vertreten sei. Als nicht-griechisches Orakel spiele vor allem die Oase Siwa eine Rolle. Berichte über die Gründung von Orakeln oder über Orakelsprüche werden als Quelle für die Beziehungen zwischen Griechenland, dem Vorderen Orient und Ägypten untersucht. Interessanterweise findet Rosenberger zum Beispiel einen Mythos von der Gründung Dodonas durch Ägypten, aber keine Nachrichten über etwaige Orakelgründungen aus Kleinasien. Delphi wird als vom Gott Apollon höchstselbst gegründet angesehen. Lebadeia, Klaros und Didyma binden sich in ihren Gründungsmythen an Delphi. Der Autor interpretiert diese Nachrichten als Reflex der griechischen Vorstellung von der Kolonisation. Er sieht hier eine Selbstdefinition durch Absetzung und eine Identitätssicherung der Griechen unter persischer Oberhoheit. Anders liege der Fall bei Ägypten: Hier sei in Anbetracht der anders gearteten politischen Situation keine Abgrenzung nötig, während Hochachtung vor dem Alter der ägyptischen Kultur und der gute Ruf ägyptischer Orakel eine Gründung von dort attraktiv erschienen ließen.

In der Folge untersucht Rosenberger vergleichend die Orakeltests des Lyderkönigs Kroisos und des Perserkönigs Xerxes. Hinter den Berichten über Kroisos' Anfrage sieht er die Bestätigung der Verlässlichkeit von Delphi und Oropos durch eine externe Partei und somit eine Legitimierung der Orakelstätten durch neutrale Dritte. Xerxes' Anfragen wertet er als Kommunikation zwischen Großkönig und seinen griechischen Verbündeten auf religiöser Ebene.

Der Autor erinnert an alternative Divinationstechniken, betrachtet Legendenbildung und Wechselwirkung mit der Geschichte. Längere Reisen zu Orakeln würden eher von Gemeinwesen durchgeführt, während Privatpersonen Anfragen im Rahmen einer aus anderen Gründen unternommenen Reise einholten.

Rosenbergers spannender Beitrag ist anschaulich und klar strukturiert. Das Thema behandelt er systematisch und übersichtlich. Durch die Verwendung literarischer wie epigraphischer Quellen erreicht er große Breite. Der Beitrag ist mit 10 Karten und systematischen Literaturangaben zu den behandelten Orakeln versehen.

Der Raub griechischer Kultbilder durch den Perserkönig Xerxes und ihre Verbringung nach Susa, Ereignisse, von denen uns Pausanias berichtet, sind Gegenstand des Beitrags von Tanja Susanne Scheer ("Die geraubte Artemis. Griechen, Perser und die Kultbilder der Götter", S. 59-86). Scheer fragt, ob diese Behauptungen stimmen könnten, und was Xerxes zu diesem Raub veranlasst haben könne. Damit beschreitet sie mutig einen gefährlichen Weg, was den Leser mit Spannung die weitere Argumentation erwarten lässt.

Die Autorin verfolgt die Geschichte der Kultbilder der Artemis von Brauron und des Apollon von Didyma. Sie fragt, ob sich die Chronologie ihres Verschwindens mit Xerxes als Täter vereinbaren lässt. Im Anschluss untersucht sie die mythologische Bedeutung der beiden Bildnisse, die ihrer Ansicht nach zur Regierungszeit des Xerxes weder über eine besondere Berühmtheit noch über eine ungewöhnliche mythische Provenienz verfügten, welche die Mühe, sie zu rauben, rechtfertigen würden. Dies wirft nach Ansicht der Autorin Zweifel an der Überlieferung auf. Sie stellt nun die Frage, warum Pausanias von diesem Raub berichtet. Hierbei untersucht sie die Einstellung der Perser zur Unverletzbarkeit von Heiligtümern im Allgemeinen und von Kultstätten aufständischer Untertanen im Besonderen. Sie stellt Dareios I. und Xerxes gegenüber und beleuchtet die Deutung moderner Forscher, die Dareios oft als tolerant in religiösen Angelegenheiten und persönlich den griechischen Göttern verbunden sehen, seinen Nachfolger hingegen als intoleranten Götterfeind deuten. Anhand einer Untersuchung der hierfür gemeinhin herangezogenen Quellen belegt sie, dass beides nicht aufrechtzuerhalten sei. Im Anschluss geht sie auf antike Quellen ein, in denen sich dieser voreingenommene Blickwinkel bereits finde.

Die Verfasserin geht nun der Frage nach, wie antike Quellen die persischen Übergriffe auf griechische Heiligtümer begründen, und stößt auf drei Erklärungen: die Rache ihrer eigenen Götter (für das beim Ionischen Aufstand abgebrannte Kybele-Heiligtum von Sardeis), die Befreiung der in Tempel eingesperrten Götter und die Tatsache, dass die Perser gottlose Barbaren seien, von denen man nichts anderes erwarten könne. Diese Argumente entkräftet Scheer und macht deutlich, dass sich hier Ratlosigkeit angesichts des Verhaltens der Perser offenbare.

Scheer greift im folgenden die Frage nach den Motiven der Perser wieder auf. Aus heutiger Sicht richte sich religiöse Toleranz oder Intoleranz der Perser nach dem Verhalten der betreffenden Untertanen oder Fremdvölker: Gefügigkeit bedeute Duldung, Rebellion habe hartes Durchgreifen auch in Bezug auf Kultstätten zur Folge. Sie verweist auf die zahlreichen orientalischen Parallelen der Strategie, Gegner durch Eingriffe in ihre Religionsausübung zu schwächen. Diese im Orient übliche Praxis sei den Griechen unbekannt: Heiligtümer würden auch in Kriegszeiten in der Regel respektiert, um eine Rache der Götter zu vermeiden. Somit würden die Perser als Volk gesehen, welches den Zorn der Götter provoziere, ein Bild, das bis zur Alexanderzeit fortwirke.

Abschließend kehrt Scheer zu Pausanias und den beiden Kultbildern zurück. Sie geht davon aus, dass Pausanias die lokale Tradition betreffs der Kultbilder kannte und von der (vermeintlichen?) Auffindung der Bildnisse durch Seleukos I. Nikator wusste. Sie deutet Xerxes als Negativ-Vorbild, von dem man sich durch Wiedergutmachung der Frevel positiv absetzen könne, auch dies eine Strategie mit langer orientalischer Tradition. Zusammenfassend resümiert die Autorin die divergierenden Einstellungen von Griechen und Persern zur Rolle der Heiligtümer in Kriegszeiten und zum Weiterleben des darauf basierenden Perserbildes als Vorwand für Alexanders Eroberungszug.

Scheers Beitrag ist klar und in sich schlüssig. Die Einordnung des Verhaltens der Perser in seinen altorientalischen Rahmen halte ich für verdienstvoll, bleibt sie doch durch die Fächergrenzen oft unbeachtet. Durch ihre prononcierten Fragestellungen gelingt es der Autorin, den Leser mit Spaß bei der Sache zu halten.

Die Städte Athen und Jerusalem stehen in Otto Kaisers Beitrag ("Athen und Jerusalem. Die Begegnung des spätbiblischen Judentums mit dem griechischen Geist, ihre Voraussetzungen und ihre Folgen", S. 87-120) für Freiheit, Dichtung und Philosophie bzw. als Symbol für den Glauben an Gott. Der Autor behandelt die Auseinandersetzung des Judentums mit seiner hellenistischen Umwelt, wobei die namengebende Stadt Athen auf je eine kurze Erwähnung in Einleitung und Schluss beschränkt wird. Kaiser eröffnet seinen Diskurs mit Entsprechungen der Religionen und des Rechts bei Griechen und Juden. Es folgt ein Abriss der Kulturkontakte, den er mit dem Erscheinen griechischer Söldner in Judäa im frühen 6. Jahrhundert v.Chr. eröffnet, wobei die Rezeption griechischer Kunst hervorgehoben wird. Die Ausgangsbasis für die tatsächliche Begegnung von Judentum und Hellenismus sieht Kaiser in der Besetzung Palästinas durch Alexander. Es folgt ein historischer Abriss von der Diadochenzeit bis zum Ende des zweiten Jüdischen Aufstandes unter Bar Kochba 135 n.Chr. Das Verhältnis zwischen Herrscher und regiertem jüdischen Volk untersucht der Autor am Beispiel der Ptolemäer, wobei er auch auf die Sonderrolle des alexandrinischen Judentums eingeht. Die jüdische Literatur präsentiert er anhand verschiedener Beispiele als hellenistisch beeinflusst. Die Theologie befasst sich nach Kaiser vor allem mit der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, was auf den Einfluss griechischer Philosophie zurückgehe.

Der Autor betont in diesem Beitrag nachdrücklich die Beeinflussung des Judentums durch seine hellenistische Umwelt. Etwaige entgegengesetzte Fälle fehlen leider gänzlich. Absetzungen wären aber hilfreich, um das Bild zu vervollständigen und die Rolle griechischer Kultur im Judentum einzuschätzen. Es findet sich eine Reihe kleinerer Inkonsistenzen bei der Rechtschreibung von Fachbegriffen, z. B. Koele-Syrien (S. 95) bzw. Koile-Syrien (S. 96) oder Procuratoren (S. 100) bzw. Prokuratoren (S. 101).

Der Band enthält vier Abbildungen, welche den Kulturaustausch zwischen Griechen und Vorderem Orient verdeutlichen sollen (S. VII). Abbildungen 1 und 3 zeigen tatsächlich orientalische Motive. Bei Abbildungen 2 und 4 handelt es sich um attische rotfigurige Gefäße mit gut griechischen Motiven, deren Bezug zu den folgenden Artikeln eher als dünn zu bezeichnen ist. Bildunterschriften fehlen ganz, kurze Angaben zum Dargestellten finden sich im Abbildungsverzeichnis (S. 135). Abgeschlossen wird der Band durch eine Bibliografie (S. 122-134), welche eine Auswahl weiterführender Literatur beinhaltet.

Anmerkung:
1 Borger, Rykle, Beiträge zum Inschriftenwerk Assurbanipals, Wiesbaden 1996.

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