M. Conway u.a. (Hrsg.): Europe's Postwar Periods

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Titel
Europe's Postwar Periods – 1989, 1945, 1918. Writing History Backwards


Herausgeber
Conway, Martin; Lagrou, Pieter; Rousso, Henry
Erschienen
London 2019: Bloomsbury
Anzahl Seiten
VIII, 236 S.
Preis
£ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Hamburger Institut für Sozialforschung

Wie lässt sich europäische Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts schreiben? Eine Erzählung, die sich an den Abläufen der Kriegszeiten orientiert, an periodischer Eskalation und anschließenden „lessons learned“, sei kaum mehr überzeugend, stellen die Herausgeber des Sammelbandes „Europe’s Postwar Periods“ fest. Die Nachkriegsphasen nach 1918/19, 1945 und 1989/90 blieben zwar Dreh- und Angelpunkte historisch maßgeblicher Konstellationen und ihrer Erklärungen, aber die Zäsuren könnten nicht mehr als Wegmarken überzeugen, an denen entlang eine zunehmende Europäisierung, Liberalisierung und/oder Pluralisierung Europas erzählt wird. Die Geschichte Europas aus den Gewalterfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heraus zu deuten, somit seine zweite Hälfte als hellen Gegenpart zur dunklen Vorgeschichte, werde nicht nur den jeweiligen Nachkriegsperioden kaum gerecht, sondern auf diese Weise werde auch eine zeithistorische Annäherung an die jüngste Vergangenheit seit den 1990er-Jahren verhindert.

Martin Conway, Pieter Lagrou und Henry Rousso stoßen ihre Leserinnen und Leser auf eine offenkundige Situation: Seit den transatlantischen Auswirkungen von „9/11“ sei die europäische Selbsterzählung stetiger Europäisierung löchrig geworden, und spätestens seit der Finanzkrise ab 2007/08 kursierten zunehmend jene europäischen Selbstdeutungen, die nach altem Muster der zyklischen Wiederholung oder des untergehenden Abendlandes gestrickt seien. Anstatt aber „1989“ als historische Wegscheide zwischen bekannter Vergangenheit und unkalkulierbarer Gegenwart zu instrumentalisieren, müsse eine historische Analyse die politische Dimension von „1989“ konsequent integrieren. Da der „turning point“ und „regime change“ von 1989/90 für Europa entscheidende Fluchtpunkte gegenwärtiger Debatten über Form und Inhalt der Europäischen Union und ihrer Position in der Welt bilden, müsse eine historische Erzählung umso mehr ihre Relevanz aus diesem Gegenwartsbezug ableiten und nicht mehr aus den Umbrüchen vor 30 Jahren (Pieter Lagrou, S. 104). Auf diesen Annahmen beruht das Konzept des Sammelbandes. Sie machen ihn nicht nur zu einem starken Plädoyer für eine gleichberechtigte Historisierung der drei europäischen Nachkriegszeiten, sondern auch zu einer politischen Intervention.

Die drei Herausgeber sind durch zahlreiche Arbeiten über europäische Kriegs- und vor allem Nachkriegszeiten mit dem Schwerpunkt auf Belgien und Frankreich als Europahistoriker bekannt. Sie verstehen das Konzept ihres Sammelbandes als perspektivisches Experiment oder auch kontra-linearen Vorschlag mit starken aktuellen Bezügen, um europäische Geschichte aus der zumindest im politischen Diskurs vorherrschenden Teleologie herauszuholen. Anstatt die drei zentralen Zäsuren 1918/19 – 1945 – 1989/90 als schmerzhafte, aber lehrreiche Stationen zunehmender Verdichtung und Verflechtung in Europa zu erzählen, an deren „Ende“ wahlweise der europäische Integrationsprozess oder der entfesselte Kapitalismus steht, verändern die Beiträge des Sammelbandes die Perspektive und vor allem die Argumentation, um zu erkennen, wie die Gegenwart entstanden ist. Aus dem Rückblick auf 1989 lasse sich europäische Geschichte nicht mehr als eine Folge von „danach“ erzählen, wie es noch für die Generationen im 20. Jahrhundert sinnvoll erschien, sondern historische Entwicklungen werden als eine Serie umständlicher, strittiger, widersprüchlicher und sogar planloser Transitionen erkennbar, deren Verlauf nicht nur unabsehbar war, sondern die erst in der Selbsterzählung sinnhaft zusammengefügt wurden – so Conway in seinem Beitrag über Demokratien (S. 122).

Das Narrativ von der Demokratie als Normalfall und vom Faschismus als Abweichung sei derart fest verankert, dass oftmals aus dem Blick gerate, dass es keine europäische Demokratie par excellence gebe, sondern höchstens ein europäisches Verständnis, die Demokratieform in den Mittelpunkt politischer und historischer Selbsterzählungen zu stellen. Als Ideal könne Demokratie die unterschiedlichen Traditionen, Grenzen, Sprachen binden und die trügerische Gewissheit nähren, ein universal gültiges Modell zu bieten. Die regressive Methode geht von diesem Befund aus; sie zeigt Diskontinuitäten und sprunghafte Entwicklungen, die erst nachträglich zusammengeführt wurden. Das ist inspirierend zu lesen, aber auch gewöhnungsbedürftig, mitunter chaotisch anmutend, denn alle Beiträge halten sich an das Konzept und arbeiten sich rückwärts vor, sodass kein angenehmer Erzählfluss entsteht, sondern eine bewusst disruptive Argumentation.

Die Texte des Bandes konzentrieren sich wenig experimentell auf klassische Zentraldimensionen europäischer Geschichte und setzen die drei Nachkriegsmomente als strukturbildende Klammer. Anders als die Kriegszeiten (der Kalte Krieg wird als strukturell vergleichbare Phase gezählt) hätten die Nachkriegszeiten sehr viel stärker politisch langfristige Entscheidungen und Machtkonstellationen innerhalb Europas bestimmt. Dauer und Zeitlichkeit dieser Nachkriegsphasen unterscheiden sich für die Autoren wiederum je nach thematischer Perspektive, sie bleiben aber insgesamt an einer eurozentrischen, wenngleich selbstkritischen Weltsicht orientiert. So beschäftigen sich die Beiträge „Demobilizations“ (John Horne), „Borders“ (Dariusz Stola), „Justice“ (die einzige der insgesamt neun Kapitelüberschriften, die im Singular steht; Guillaume Mouralis und Annette Weinke) sowie „Futures“ (Péter Apor) mit relativ kurzen Zeitabschnitten unmittelbar nach den Kriegsenden, als sich die „windows of opportunity“ öffneten. Anhand dieser vier Perspektiven wird besonders eindrücklich belegt, wie sehr die Nach-1989-Phase als Nachkriegszeit verstanden werden kann, als Menschen, Material, Grenzen und Rechtsverständnisse auf den Prüfstand gestellt und in Bewegung gesetzt wurden. Bis heute werde jedoch politisch verkannt, dass auch die zeitgenössische Konjunktur ethnonationaler Zugehörigkeitskonflikte nachhaltig wirke. Denn Ethnonationalismus habe nicht nur den Kommunismus überdauert und teils getragen und er sei nicht nur eine hilfreiche Erklärung der Jugoslawienkriege in den frühen 1990er-Jahren (S. 49). Vielmehr müsse er als ein zentrales Element europäischer Geschichte und Gegenwart anerkannt werden.

Die Aufsätze „States“ (Pieter Lagrou) und „Democracies“ weiten den zeitlichen Blick und machen im direkten Vergleich deutlich, wie staatliche Strukturen kontinuierlich vertieft wurden, aber demokratische Modelle eher vorübergehender Natur waren. Mehr noch: So gut wie nie verwiesen Krisendiagnosen der 1920er- und 1930er-Jahre auf staatliches Versagen, sondern meist auf die Demokratie als angeblich unzeitgemäße Herrschaftsform. Auch nach 1945 gingen keine Staaten unter, sondern faschistische Parteien und politische Eliten, die Krieg geführt hatten. Spaniens Diktatur etwa überdauerte die Zäsur, und so wäre es womöglich allen faschistischen Staaten gegangen, hätten sie sich aus dem Krieg mehr oder weniger herausgehalten. Solche mal kontrafaktischen, mal herausfordernden Thesen bilden den instruktiven Mehrwert der regressiven Methode, die gegenwärtig etablierte Deutungsmuster hinterfragt. In Lagrous Beitrag führt dies unter anderem zu der Frage, was nach den Krisen der 1970er- und 1980er-Jahre wohl aus dem westlichen Parteienstaat geworden wäre, hätte es nicht 1989 und die Möglichkeit des Modell-Exports nach Osten gegeben (S. 114). Der Band schließt mit drei Beiträgen, die die klassische Definition von Nachkriegszeiten endgültig entgrenzen. Die Aufsätze „Empires“ (Malika Rahal), „Markets“ (Paolo Capuzzo) und „Pasts“ (Péter Apor und Henry Rousso) zeigen, wie das eurozentrische Verständnis von Nachkriegszeiten geographisch, ökonomisch und zeitlich relativiert werden kann, ohne die Bedeutung der großen politischen Zäsuren zu negieren.

Die Beiträge setzen sich mit gut beforschten Themen der europäischen Geschichte auseinander. Sie legen einen erkennbaren Fokus auf mittel- und osteuropäische, stellenweise auch südeuropäische Länder und orientieren sich strikt am vorgegebenen Strukturelement der Nachkriegszeiten. Insofern bewegen sich Leserinnen und Leser auf vertrautem Terrain. Die Herausforderung liegt tatsächlich, wie von den Herausgebern angestrebt, in der Argumentationsrichtung der Beiträge, die gewohnte Erzählweisen aushebelt. Zwar verweisen alle Texte auf Pfadabhängigkeiten und politische Motive, die in der Rekonstruktion nach 1945 dazu beitragen sollten, die Fehler der Zwischenkriegszeit bloß nicht zu wiederholen. Zugleich dekonstruieren die Beiträge aber auch, wie spezifisch und heterogen zeitgenössische Entscheidungen ausfielen. So unterschied sich beispielsweise das Rechtsverständnis nach 1945 in den europäischen Staaten je nach der Art des vorangegangenen Gewaltkonfliktes, und außerdem knüpfte es an Vorkriegsdenkmodelle an, die nun verbessert zum Einsatz kommen sollten. In allen Nachkriegszeiten gingen Urteile zu Kriegs- oder Diktaturverbrechen schließlich über ihre juristische Funktion hinaus, da sie als historische Wahrheiten über Gewalt und Gewalterfahrungen gedeutet wurden, die wiederum das europäische Selbstverständnis nährten (S. 74).

Insofern formuliert Péter Apor in seinem Aufsatz „Futures“ eine paradigmatische Erkenntnis, die sich durch die regressive Methode einstellen kann: Nachkriegszeiten sind nur auf den ersten Blick Phasen, die sich vor allem durch ihren Vergangenheitsbezug erklären lassen, also durch das Bemühen, sich vom Geschehenen abzugrenzen und auf das Gelernte zu verweisen. Vielmehr ist die Erneuerung von Gesellschaften, Ökonomien, politischen Systemen und kultureller Kreativität, wie sie im Europa des 20. Jahrhunderts immer wieder betrieben wurde, eine Regeneration von Zeit und Sinn moderner Gesellschaften – letztlich stets ein Versuch, durch Interventionen neue Konstellationen zu etablieren und zu stabilisieren, um die eigene Zeit zu normalisieren (S. 97). Mit dieser Deutung lässt sich nicht nur die Zeitgeschichte nach 1989/90 an die vorherigen Epochen heranführen, sondern auch die politische Gegenwart zu einem inspirierenden Ausgangspunkt historischer Analyse machen.