Cover
Titel
This Meager Nature. Landscape and National Identity in Imperial Russia


Autor(en)
Ely, Christopher
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
$39.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Osteuropäische Geschichte, Universität Leipzig

Christopher Ely beginnt sein Buch mit der Beobachtung eines merkwürdigen Umstandes: Warum, so fragt er, sind die auf russischen Gemälden abgebildeten Landschaften stets so grau, wüst, schlammig und düster? Welche Ästhetik, welches Selbstbild stecken hinter einer solchen Darstellung, wenn es doch um die Darstellung des „eigenen“ Landes geht. Dies zu erklären, ist das Ziel seines Buches. Dabei bezieht er sich in erster Linie auf den Ausgangspunkt seiner Überlegungen, auf die Malerei. Gleichberechtigt wird fiktionale Literatur hinzugezogen, weiterhin Reiseberichte und geografische sowie gartenarchitektonische Schriften. Dabei erscheinen diese Texte in einem Dialog von gegenseitigem Austausch, intertextueller Kommunikation.

Seit dem 18. Jahrhundert, kann Ely feststellen, wurde die russische Landschaft als düster und grau wahrgenommen und war diese Wahrnehmung ausgesprochen negativ konnotiert. Selbst ein Karamsin, immerhin der Urvater des russischen romantischen Nationalismus, befand die russische Landschaft als unschön; er und seine Zeitgenossen kontrastierten die russische Weite mit der pittoresken Vielfalt Westeuropas. Wie aber, diese Frage verfolgt das Buch, wurden diese „düsteren Landschaften“ Teil nicht nur eines nationalistischen Selbst- und Weltbildes, sondern auch Grundlage einer spezifischen nationalen Landschaftsästhetik?

„Kollektive Identitäten“, ob nationale wie in diesem Fall oder die von Geschlechtern, Generationen oder Kulturen, definieren sich selbst auch über eine gemeinsame Ästhetik, die Festlegung des Schönen und Hässlichen. Nur kurz, aber doch für die Einordnung ausreichend, weist Ely darauf hin, wie die englische Wahrnehmung des Lake District oder die amerikanische Sicht auf den Westen sich vom Topos der unwirtlichen, einsamen Wildnis zum Bild landschaftlicher Schönheit und Faszination wandelte, und macht damit deutlich, dass eine solche Selbstkonstruktion in Russland keine Ausnahme bildete. Es lag also keineswegs an einer besonderen Ödnis der russischen Landschaft, dass die bildenden und literarischen Künste sich auf die Konstruktion eines neuen Schönheitsideals konzentrierten.

Auf welche Weise haben sich Russen ihre Landschaft schöngeschrieben und -gemalt? Ely beginnt mit der Analyse des arkadischen Landschafts- und Weltbildes. In diesem Kontext lernten Russen nach westlichem Vorbild, Landschaft zu ästhetisieren. Darüber hinaus gab es aber durchaus innerhalb der russischen Kultur Ansätze, auf die sich diese neue Ästhetik berufen konnte, wie die traditionellen Klostergärten oder populäre Malereien. Doch die modischen Parks des Adels übten in Verbindung mit der westlichen Begeisterung für die „Natur“ einen größeren Einfluss auf die russische Landschaftsästhetik aus. „Konstruktion“ ist hier sehr wörtlich zu nehmen: Landschaft war ein Ideal, zusammengesetzt aus modernen und antiken Motiven, das mit einer geografisch verortbaren Gegend nur wenig zu tun hatte und keiner „realen“ Topografie zugeordnet war. Der Bildaufbau zeitgenössischer Gemälde entspricht dieser Naturvorstellung genauso wie die Mode, Natur künstlich optisch zu begrenzen oder als Idylle von Bauern auf einer Lichtung in Szene zu setzen. 1

Diese pastoralen Motive behielten das gesamte 19. Jahrhundert hindurch ihre kulturelle Bedeutung. Mit dem Aufkommen eines moderneren russischen Nationalismus nach den napoleonischen Kriegen entstand allerdings das Bedürfnis, die Ideale und Motive verortbar zu machen, sie im „wahren“ Russland wieder zu finden. Das Konzept des Nationalstaates verlangte auch nach einer topografischen Basis. Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts war somit davon bestimmt, dass Literaten, Poeten, Reiseschriftsteller und Maler nach einem visuellen Vokabular (a „pictorial vocabulary“, S. 61) suchten, mit dem man das bisher als hässlich, unwirtlich und öd bezeichnete Russland anders, schöner, der neuen Ästhetik und Politik entsprechend beschreiben konnte. Entscheidend war nun vor allem, das „Typische“, das „Russische“ herauszuarbeiten. Eine einfache Übernahme westlicher Ästhetiken war undenkbar, und so wurden verschiedene Ansätze entwickelt, mit denen man sich bemühte, Traditionen aufzugreifen und eine „eigene“ Landschaftsästhetik zu schaffen: die Beschreibung einzelner, als pittoresk begriffener Sehenswürdigkeiten wie beispielsweise Klöster, die Charakterisierung Russlands als Netz heiliger orthodoxer Orte oder die Konzentration auf einzelne Motive wie die in der russischen Folklore seit langem idealisierte Wolga.

Eine neue Entwicklung wurde von Puschkin eingeleitet. Ely zitiert den Literaturwissenschaftler Lichatschov mit der Aussage „Pushkin, the Columbus of Russian poetry, discovered the simple Russian landscape“ und stellt diese Aussage in mittlerweile bewährter dekonstruktivistischer Manier sogleich in Frage: Puschkin habe diese neue Landschaft nicht entdeckt, sondern vielmehr geschaffen. Innerhalb der hoch formalisierten poetischen Sprache gelang es ihm, neue Topoi und tatsächlich ein neues Vokabular für die Beschreibung von Landschaften, für die Beschreibung von „Russland“ zu entwerfen. Er verknüpfte Motive des westlichen pittoresken Landschaftsbildes mit neuen Aspekten, die man als „typisch russisch“ verstand: ein bewölkter Himmel, armselige Hütten, karge Vegetation. Obwohl diese neuen Motive sowohl dem romantischen als auch dem pastoralen Bild widersprachen, wurden sie als „schön“ präsentiert, als friedlich, einfach, mit einem nostalgischen Impetus.

Diese Nostalgie wurde in den folgenden Jahren zu einem wichtigen literarischen und ästhetischen Topos. Sie verknüpfte sich mit einem sehnsüchtigen und idealisierenden Bild des Volkes, das nun, im Rahmen der Entwicklung eines modernen Nationsbegriffes, mehr und mehr in das Bild Russlands einbezogen werden musste. Nicht zuletzt die Gleichsetzung von „Land“ und „Landschaft“ ermöglichte es, eine breite, umfassende Gemeinschaft zu denken. Anders als die Begrenzungen des 18. Jahrhunderts wurde nun zunehmend der Begriff des „prostor“ (Raum) zum entscheidenden Topos. Weite und Sehnsucht verbanden sich zu einer neuen Kultur selektiver Wahrnehmung. Das pastorale Ideal jedoch ließen weder Schriftsteller noch Maler vollkommen hinter sich; der Kindheitsmythos, den z.B. Wachtel und Durkin beschreiben, macht dies deutlich. 2 Doch konnte sich diese Sehnsucht nach der heilen Welt durchaus mit realistischen und kritischen Aspekten verbinden.

Hier wurde also auch auf einer sozialen Ebene ausgedrückt, was die Ästhetik entwickelt hatte, das Neben-, ja Miteinander von Schönem und Hässlichem, die Vereinigung von Fremdheit und Verlassenheit auf der einen Seite sowie Nähe, Vertrautheit und Identität auf der anderen. Russland wurde auch in dieser Hinsicht als „das Andere“ stilisiert; Dunkelheit wurde als tief empfunden und, so bei Herzen, gegen die italienische malerische, „oberflächliche“ Überschaubarkeit gestellt. Die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts folgenden Entwicklungen neuer künstlerischer Konzepte und Aussagen, ganz gleich ob sie realistisch und explizit kritisch gegen jede Idealisierung gerichtet oder ob sie auf neue Art nostalgisch und auf ein Ideal nationaler Identität bezogen waren, blieben doch dem im frühen Jahrhundert entwickelten Vokabular der Landschaftsdarstellung treu: die Unschärfe und Dunkelheit, die mit Tiefe und Wahrheit verbunden wurden, und die Betonung der emotionalen, ja instinktiven Liebe zu dieser harten Landschaft im Gegensatz zur leichten Bewunderung toskanischer Hügel.

Es sind verschiedene Forschungsrichtungen der letzten Jahre, die Christopher Ely in seinem Buch miteinander verknüpft. Obwohl er den Begriff nicht explizit benutzt, sind seine Ideen doch deutlich ein Teil der Rekonstruktion verschiedener „mental mappings“ des russischen 19. Jahrhunderts. Auch die verschiedenen Konzeptionen einer Umwelt- und Naturgeschichte finden Eingang in seine Darstellung, und schließlich ist der Trend insbesondere der amerikanischen Russlandforschung zu erkennen, Literatur und Malerei als zentrale Quelle für Geschichtsschreibung zu nutzen. All diese Ansätze und Quellen verbindet Ely zu einer gelungenen Synthese und rekonstruiert damit ein weiteres Detail des Nationalismus russischer Prägung.

1 Dazu z.B. Roosevelt, Pricilla R., Life on the Russian Country Estate. A Social and Cultural History, New Haven 1995.
2 Wachtel, Andrew, The Battle for Childhood. Creation of a Russian Myth, Stanford 1990; Durkin, Andrew, Sergei Aksakov and the Russian Pastoral, New Brunswick 1983.

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