L. Castagna (Hg.): Plinius der Jüngere und seine Zeit

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Titel
Plinius der Jüngere und seine Zeit.


Herausgeber
Castagna, Luigi; Lefèvre, Eckard
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 187
Erschienen
München 2003: K.G. Saur
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Krieckhaus, Prosopographia Imperii Romani, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissnschaften

Plinius der Jüngere und sein erhaltenes literarisches Œuvre, also die epistularum libri decem und der panegyricus auf Kaiser Trajan, stellen ein interdisziplinäres Forschungsgebiet par excellence dar: So war und ist dieser Autor, der die flavisch-trajanische Ära bewusst miterlebte, niemals nur Gegenstand althistorischer oder philologischer Forschung, sondern immer auch für Archäologen ("Villenbriefe"), Theologen ("Christenbriefe"), Juristen (Repetundenprozesse, Bürgerrechtsverleihungen usw.) und nicht zuletzt für Mediziner und Vulkanologen ("Vesuvbriefe") von großem Interesse gewesen. Das Hauptaugenmerk der Pliniusforschung richtete sich in den letzten Jahren primär auf die evidente Selbstdarstellung des Transpadaners in seinen Briefen; so verdanken wir Matthias Ludolph und Jan Radicke Studien, die aufzeigen, wie Plinius das Medium Brief gekonnt für die Entwicklung seines Selbstbildnisses instrumentalisierte.1 So intensiv man die Briefsammlung und den Panegyrikus unter einzelnen Aspekten untersucht hat, so schmerzlich vermisst man bis heute eine Synthese der aktuellen Forschungsergebnisse zu Plinius dem Jüngeren; der seinerzeit wegweisende Kommentar zu den Briefen von A. N. Sherwin-White ist nahezu 40 Jahre alt und in weiten Teilen veraltet.2 Der Titel des hier anzuzeigenden Buches suggeriert nun eine solche zusammenfassende Darstellung, doch wird der Leser diesbezüglich sehr schnell feststellen, dass dem nicht so ist. Dazu später mehr; zunächst zum Aufbau des Buches und den einzelnen Beiträgen.

Wie man dem Vorwort entnehmen kann, basiert die vorliegende Publikation auf den Vorträgen eines Kolloquiums, welches vom 29. Mai bis zum 1. Juni 2002 im deutsch-italienischen Zentrum Villa Vigoni am Comer See stattfand, also im Herzen von "Pliny Country", wie Sir Ronald Syme die Heimatregion des jüngeren Plinius genannt hat.3 Als Vortragende konnten deutsche und italienische Altphilologen und -historiker sowie Archäologen gewonnen werden, großenteils ausgewiesene Kenner der Materie. Die etwas diffuse Zielvorgabe des Kolloquiums findet der Leser im Vorwort; Plinius der Jüngere und sein Werk sollen in ihrer Mannigfaltigkeit unter "aspetti culturali, retorici, archeologici ed economici" behandelt werden, und zwar in insgesamt 21 Beiträgen - 11 deutschsprachigen und 10 italienischsprachigen -, die auf acht Themenbereiche aufgeteilt sind: "Literatur", "Rhetorik", "Werte", "Transpadana", "Trajan", "Geschichte und Wirtschaft", "Villen" und "Rezeption". Die Zuordnung der Aufsätze zu einzelnen dieser Überschriften wirkt bisweilen etwas konstruiert, ebenso die Überschriften selbst; so ist z.B. nicht einzusehen, warum ein Beitrag, der sich mit der Literatur in der Transpadana beschäftigt, nicht unter "Literatur" zu finden ist oder die Beiträge zu den Kaisern Trajan und Domitian nicht eine Sektion bilden. Die Kapitel "Villen" und "Rezeption" enthalten jeweils sogar nur einen Beitrag.

Man hätte m.E. gut daran getan, auf die gewählte Aufteilung zu verzichten, denn diese ist irritierend und verstärkt den Eindruck der Disparität. Dazu trägt auch bei, dass offenbar bei den Teilen des Buches, die nicht die Artikel selbst betreffen, keine Einigkeit in Bezug auf die Sprache erzielt werden konnte: So ist der Titel in Deutsch gehalten, das Vorwort in Italienisch, das Inhaltsverzeichnis und das Stellenregister wiederum in Deutsch. Als unökonomisch und uneinheitlich muss ebenfalls die Verfahrensweise bei den Bibliografien bezeichnet werden; zwei Drittel der Beiträge verfügen an ihrem Ende über eine solche Liste relevanter Literatur, doch macht es Sinn, wenn beispielsweise die Monografie von Matthias Ludolph in fünf verschiedenen bibliografischen Anhängen erscheint, der Kommentar von Sherwin-White sogar in deren zehn? Ein zentrales Literaturverzeichnis hätte hier Abhilfe schaffen können, um unnötige Mehrfachnennungen zu vermeiden und die Benutzbarkeit des vorliegenden Bandes zu erhöhen. Positiv anzumerken ist, dass das Stellenregister am Ende des Buches alle Stellen aus den Briefen und dem Panegyrikus verzeichnet, die behandelt werden, somit also einen gezielten Zugang zu den Beiträgen ermöglicht. Jedoch wäre m.E. zur besseren Texterschließung noch ein Namens- und Ortsregister wünschenswert gewesen.

Den Reigen der Beiträge zum Oberthema "Literatur" eröffnet Ulrike Auhagen mit ihren Überlegungen zu Plinius' Hendekasyllabi; sie sieht in ihm einen dichterischen Dilettanten. Während Gianna Petrone, ein wenig mit Fußnoten sparend, die Verbindung des jüngeren Plinius zum Theater analysiert, die über die Rhetorik stattfindet, widmet sich Jan Radicke, ausgehend von Brief 4,28, der Verbindung von privater und öffentlicher Kommunikation in den Pliniusbriefen. Meinholf Vielberg arbeitet nachfolgend Unterschiede zwischen den Sentenzen in den literarischen Briefen der Bücher 1-9 und dem Panegyrikus heraus, mit dem 10. Buch der Briefe sozusagen als Brücke; Gregor Vogt-Spira untersucht Plinius' Selbstinszenierung als Literat in den Briefen vor dem Hintergrund der imitatio. Thomas Baiers Ausführungen zu historischem und rhetorischem Stil bei Plinius, dargestellt anhand des vielfach behandelten Briefes 5,8, der als recusatio an die historische Gattung verstanden wird, leiten die Sektion "Rhetorik" ein. Pier Vincenzo Cova beleuchtet in seinem Beitrag Unterschiede zwischen Plinius und einem seiner Lehrer, dem Rhetorikprofessor Quintilian, die in den Werken beider zutage treten, Paolo Cugusi reflektiert mittels der Briefe 1,20 und 9,26 recht ausführlich über das plinianische Rhetorikbild und Roberto Gazich schreibt über Rhetorik in den exempla des jüngeren Plinius.

Unter dem Oberbegriff "Werte" werden drei Beiträge zusammengefasst: Luigi Castagna zeichnet ein erschöpfendes, aber keineswegs spektakuläres neues Bild der amicitia in den Pliniusbriefen; Giovanna Galimberti Biffino nutzt die literarischen Hinterlassenschaften des jüngeren Plinius, um sich zu temperamentum und "Idealmensch" zur Zeit Trajans zu äußern; Eckhard Lefèvre veranschaulicht dem Leser auf der Basis der Briefe 3,20 und 4,25, mit welcher Wehmut der als homo novus in den Senat gelangte Plinius den Verlust der dignitas dieser altehrwürdigen Institution sieht. Die Heimatregion des jüngeren Plinius, die "Transpadana", bezeichnet ein weiteres Themengebiet mit lediglich zwei Aufsätzen: Gesine Manuwald greift gekonnt einen besonderen Teilbereich seiner liberalitas heraus, der in Brief 4,13 thematisiert wird; nämlich ein Schulprojekt in der patria Comum. Sigrid Mratschek bettet Plinius in ihrem Beitrag, der auf einer älteren, aus dem Jahr 1984 stammenden Studie basiert 4, in das einzigartige kulturelle bzw. literarische Umfeld der Transpadana in der frühen Kaiserzeit ein.

Domenico Lassandro eröffnet die Sektion "Trajan" mit einer Diskussion des Ausdrucks concentus omnium laudum in Plinius' Panegyrikus auf Kaiser Trajan als ein Vorbild für die späteren pknegyrici latini; Giancarlo Mazzoli äußert sich zur Antwortpraxis des Princeps, indem er Verbindungen zwischen dem Panegyrikus und dem 10. Buch der Briefe herausstellt. Marta Sordi schließlich widmet den so genannten "Christenbriefen" 10,96 und 97 - natürlich ein "Muss" in einem Sammelband zu Plinius dem Jüngeren - eine wenig innovative Untersuchung, die sich zum einen, ausgehend vom trajanischen Panegyrikus, mit dem Spannungsfeld zwischen Christentum und Kaiserkult auseinandersetzt und zum anderen eine Diskussion des Begriffs sacramentum in Brief 10,96 bietet.

Unter der ein wenig konstruierten (s.o.) Überschrift "Geschichte und Wirtschaft" hat man zwei Beiträge subsumiert: Elio Lo Cascio beleuchtet im mit Abstand längsten Beitrag des Tagungsbandes (21 Seiten) auf der Grundlage zahlreicher Zeugnisse aus den Pliniusbriefen die Wirtschaft des römischen Italien; Karl Strobel greift eine alte Diskussion wieder auf, nämlich die Frage, inwieweit Plinius als "Wendehals" (S. 312) zu sehen ist, der zunächst als Günstling Domitians fungierte, um dann später Trajan gegenüber Loyalität zu demonstrieren. Strobel gelangt zu dem nicht überraschenden Schluss, dass Plinius wohl unter jedem Regime die ihm übertragenen Aufgaben zuverlässig und treu versehen hätte. Die letzten beiden Kapitel "Villen" und "Rezeption" enthalten jeweils nur einen (kurzen) Beitrag. Harald Mielsch, anerkannter Fachmann für die römische Villa, versucht, den Villenbreschreibungen des jüngeren Plinius neue Facetten abzugewinnen; Franz Römer, in der Vergangenheit durch einige Publikationen zu Plinius dem Jüngeren hervorgetreten, untersucht die Verwertung des Pliniusbriefes 3, 5 in der Dichtung des 16. Jahrhunderts.

Auf eine detaillierte Kritik der einzelnen Beiträge muss hier aus Platzgründen verzichtet werden; ihre Qualität variiert - wie es bei einem Tagungsband kaum anders zu erwarten ist und wie vielleicht schon hier und da deutlich wurde - recht stark, und nur wenige werden die Forschung entscheidend voranbringen. In einigen Fällen haben wir es ganz offensichtlich mit neuen Aufgüssen älterer Beiträge zu tun. So wird sich der interessierte Leser hier und da im Anschluss an die Lektüre die Frage stellen: "So what?"

Nun zurück zum Titel des Tagungsbandes. Dieser ist äußerst unglücklich gewählt, ja sogar irreführend und verspricht mehr als der oben kurz skizzierte Inhalt halten kann: Wer ein Werk "Plinius der Jüngere und seine Zeit" zur Hand nimmt, erwartet eine schwerpunktmäßige Behandlung (sozial-)historischer Fragestellungen, sozusagen eine Einordnung des Autors und des Werkes in die flavisch-trajanische Ära, also eine Art "A Life and Times" nach dem Muster einiger anglo-amerikanischer monografischer Untersuchungen zu Sallust, Tacitus, Plutarch, Fronto oder Cassius Dio.5 Dies vermag das vorliegende Buch aber nur bisweilen zu leisten, ist es doch in erster Linie philologisch orientiert - was nicht verwundert, wenn man berücksichtigt, welche Fächer die beiden Herausgeber vertreten.

Eine großangelegte Synthese zu Plinius dem Jüngeren bleibt also bis auf weiteres ein Desiderat der Forschung. Weder für Studierende noch für Gelehrte wird der im Übrigen sehr sorgsam edierte, aber unverhältnismäßig teure Band (89 Euro!) den ersten Zugriff darstellen, wenn sie sich mit dem Transpadaner auseinanderzusetzen haben; sie werden weiterhin zu Einzeluntersuchungen und dem Kommentar von Sherwin-White greifen müssen, zumal zahlreiche Aspekte des Themenkomplexes unberücksichtigt bleiben bzw. ungenügend abgehandelt werden (z.B. die so genannten "Vesuvbriefe", die Empfehlungsschreiben, die Repetundenprozesse usw.). Dessenungeachtet ist es natürlich zu begrüßen, dass mit der Tagung (m. W. der ersten zum Thema "Plinius") und dem daraus resultierenden Sammelwerk ein Schritt in die richtige Richtung unternommen wurde.

Anmerkungen:
1 Ludolph, Matthias, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den 'Paradebriefen' Plinius des Jüngeren, Tübingen 1997; Radicke, Jan, Die Selbstdarstellung des Plinius in seinen Briefen, Hermes 125 (1997), S. 447-469
2 Sherwin-White, Adrian N., The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, Oxford 1966 (später weitere, aber unveränderte Auflagen). Der mittlerweile nahezu unbrauchbar gewordene prosopografische Teil dieses Werkes wurde jüngst durch Birley, Anthony R., Onomasticon to the Younger Pliny. Letters and Panegyric, München 2000 auf den neuesten Stand gebracht.
3 Syme, Ronald, People in Pliny, JRS 58 (1968), S. 135 (Ders., Roman Papers, Bd. 2, Oxford 1979, S. 694).
4 Mratschek, Sigrid, Est enim flos Italiae. Literatur und Gesellschaft in der Transpadana, in: Athenaeum N. S. 62 (1984), S. 154-189.
5 Syme, Ronald, Sallust, Berkeley 1964 (deutsch Darmstadt 1975); Syme, Ronald, Tacitus, 2 Bde., Oxford 1958; Jones, Christopher P., Plutarch and Rome, Oxford 1972; Champlin, Edward, Fronto and Antonine Rome, Cambridge 1980; Millar, Fergus, A Study of Cassius Dio, Oxford 1964.