H. Schmid: Antifaschismus und Judenverfolgung

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Titel
Antifaschismus und Judenverfolgung. Die »Reichskristallnacht« als politischer Gedenktag in der DDR


Autor(en)
Schmid, Harald
Herausgeber
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
Reihe
Berichte und Studien 43
Erschienen
Göttingen 2004: V&R unipress
Anzahl Seiten
153 S.
Preis
€ 16,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Peter Rensmann, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft, Freie Universität Berlin

Zum komplizierten Dreiecksverhältnis von Antifaschismus, Antisemitismus und Antizionismus sowie zum politischen Gedenken in der DDR sind in den letzten Jahren einige bedeutende Forschungsarbeiten erschienen. Harald Schmid hat nun eine Studie vorgelegt, die sich in diesem doppelten Horizont bewegt und dennoch einen neuen Beitrag liefert. Präzise und kenntnisreich untersucht er den Gedenktag 9. November im Kontext der DDR-Geschichtspolitik und ihres Wandels.1 Damit trägt er zu einem erweiterten Verständnis der Bedingungen und Transformationen der „antifaschistischen“ DDR-Geschichtskultur bei. Schmids Studie besticht durch konzise historische Feinanalysen der offiziellen Gedenkpolitik und ihrer innen- wie außenpolitischen Einflüsse, Motive und Wandlungsprozesse. Die Arbeit nimmt aber auch „zivilgesellschaftliche“ Akteure und Gedenkaktivitäten in den Blick, die sich jenseits staatlicher Inszenierung und Funktionalisierung entwickelten und nicht ohne politische Wirkung blieben – „geschichtskulturelle Refugien“, die sich etwa in den jüdischen Gemeinden und insbesondere unter dem Dach der evangelischen Kirche seit den 1970er-Jahren auszuweiten begannen.

Schmid konturiert die Genese und Praxis des politischen Gedenkens zum 9./10. November 1938 vor dem Hintergrund von vier Koordinaten der geschichtspolitischen Entwicklung der DDR, die signifikante Unterschiede zur Bundesrepublik markieren. Neben der politisch-ideologischen Koppelung der DDR an den sowjetischen Machtbereich (gegenüber der demokratischen Westbindung der Bundesrepublik) hält Schmid die Größe und Stellung der jüdischen Gemeinden, scharf divergierende Prämissen im außenpolitischen Verhältnis zu Israel (im Fall der DDR überwiegend eine offene Konfrontationspolitik) sowie besonders ein systemspezifisch konträres politisches Selbstverständnis im Umgang mit der NS-Vergangenheit für maßgeblich.

In der DDR war ein offizieller „Antifaschismus“ prägend, dessen konkrete Definition durch die jeweils aktuelle SED-Parteilinie bestimmt wurde. Diesem Antifaschismus und seiner Ausprägung in Gedenktagen lag laut Schmid zentral, „aber nicht erschöpfend“ (S. 15) eine politisch-legitimatorische Herrschaftsfunktion zugrunde. Im Mittelpunkt dieser funktional bestimmten Geschichts- und Gedenkpolitik standen einerseits die Denunziation des Kapitalismus und der „faschistischen BRD“, andererseits die Heroisierung der „Opfer des Faschismus“, vor allem der „deutschen Arbeiterklasse“ und der „deutschen Kommunisten“. Dies spiegelte sich auch im Gedenken an die nationalsozialistische Judenverfolgung, das ohnehin weitgehend auf den 9. November beschränkt blieb. So war „die öffentliche Vergegenwärtigung der Pogrome von Anfang an ein primäres Medium der Anklage der Bundesrepublik“ (S. 40). Die Masse der ostdeutschen Bevölkerung wurde indessen „nie mit der Frage nach der eigenen Mitverantwortung an Aufstieg und Praxis des NS-Regimes konfrontiert“. Überdies blieb laut Schmid ein „adäquater Blick auf Ursachen und Gefahren des Antisemitismus verstellt, so dass der reale Antisemitismus in der DDR stets geleugnet oder über die Westgrenze gewissermaßen zur Bundesrepublik abgeschoben werden musste. Wo der Antifaschismus bereits an der Macht war, so die simple, aber attraktive Logik, konnten derlei Phänomene gar nicht existieren oder waren gleichsam Importe des Klassen- und Systemfeindes“ (S. 18). Zudem weist Schmid nach, dass das Gedenken an die Pogromnacht, das lange hinter dem Gedenken an den 9. November 1918 zurückstehen musste, innerhalb der Geschichtspolitik der DDR bis in die 1980er-Jahre ohnehin nur eine marginalisierte „Stellvertreterfunktion“ für die ansonsten ausgegrenzte Spezifik der Judenverfolgung und des Antisemitismus besaß.

Besonders überzeugt Schmids Strukturierung der unterschiedlichen Phasen im Umgang mit dem Gedenktag von der frühen „repressiven Duldung“ bis zur späten „geschichtspolitischen Expansion“ in den Staatsakten der 1980er- Jahre. In den 1950er-Jahren blieb das Gedenken an die „Reichskristallnacht“ demnach weitgehend auf die jüdischen Gemeinden beschränkt; offizielle Gedenkveranstaltungen waren direkt gegenwartspolitisierend oder wurden durch die heroisierte Geschichte von 1918 überlagert, teils auch von agitatorischen Angriffen auf Israel überschattet, dem „Werkzeug der Imperialisten“ (Neues Deutschland). Politisch und wissenschaftlich induzierte „geschichtskulturelle Lockerungen“ führten in den 1960er-Jahren zu einer etwas höheren Sensibilität im nie ganz integrierten Gedenken an die antijüdischen Pogrome. Diese Veränderung versickerte aber in einer konformistischen, diktatorisch überwachten politischen Ritualisierung. Die NS-Judenverfolgung blieb im geschichtspolitischen Narrativ ein inhaltlich sekundäres „Ableitungsphänomen“, das hauptsächlich für die Anklage der Bundesrepublik von Bedeutung war.

Bis 1978 folgten die offiziellen Gedenkveranstaltungen zur Pogromnacht weitgehend einem funktional bestimmten starren Muster. Gleichwohl signalisiert diese Periode laut Schmid einen Wandel: Insbesondere durch die evangelischen Kirchen entwickelte sich parallel ein zivilgesellschaftliches Handlungsmodell, wenn auch auf schmalem Niveau. So spiegelte sich die vielschichtigere DDR-Realität seit den 1970er-Jahren auch in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, obschon die SED die aufkeimende Erinnerungsopposition durch Staatsakte zu überformen suchte. Signifikant ist für Schmid schließlich die gedenktagsgeschichtliche Zäsur, die das Jahr 1978 markiert. In diesem Jahr sei dem Gedenken an die Pogromnacht erstmals eigenständige öffentliche Bedeutung zugekommen (obgleich auch hier nicht zuletzt aus politischer Konkurrenz mit der Bundesrepublik), was schließlich 1988 in einer Vielzahl von Gedenkveranstaltungen in West- und Ostdeutschland kulminierte. Obgleich im Jahr vor der Wende in der DDR deutliche geschichtskulturelle Zugeständnisse gemacht wurden, die einer „informellen Neudefinition des Antifaschismus-Konzeptes“ (S. 125) gleichkamen, war der Gedenktag in der DDR bis zuletzt durch Systemimperative überwölbt. Das Gedenken an die Pogromnacht inszenierte die SED als neue internationale Selbstdarstellungs-Kampagne, wobei der Blick auf die Geschichte der Judenverfolgung in der DDR weitgehend vermauert blieb.

Leider verzichtet Schmid auf ein genaueres politikwissenschaftliches Instrumentarium zur Analyse von Akteuren und Rahmenbedingungen der Gedenktagsgeschichte. Auch bleiben begrifflich-theoretische und methodische Reflexionen zu Funktion, Dynamik und Ideologie des antifaschistischen Selbstbildes respektive der „Antifaschismusdoktrin“ in der DDR-Geschichtspolitik äußerst dürftig. Vor allem aber wird ein konzeptionelles Defizit offenkundig, wenn Schmid die DDR ohne jede Diskussion als „totalitäres“ politisches System bezeichnet. Obgleich er Verschiebungen im DDR-Herrschaftssystem durchaus einbezieht, übernimmt er damit unreflektiert eine Minderheitenposition der Forschung: Heute finden sich nur noch wenige Totalitarismusforscher, die die post-stalinistische DDR-Diktatur wie Schmid als „totalitäres System“ mit „totalitärem Herrschaftsanspruch“ (S. 33) klassifizieren. Durch eine solche Einordnung ergeben sich fast notgedrungen Verzerrungen im Blick auf das politische System der DDR und seine Akteure, aber auch auf den von Schmid teilweise unternommenen Vergleich mit der Bundesrepublik.

Trotz dieser Schwächen ist die kleine Studie unzweifelhaft ein Gewinn für die politische Historiografie des Gedenkens in Deutschland. Schmid weist in beeindruckender Weise exemplarisch nach, dass der Umgang mit Nationalsozialismus, Pogrom und Judenverfolgung, aus welchem die DDR sich gerade in ihrer Spätphase zentral zu legitimieren suchte, überwiegend ein hohles, funktionales wie inhaltlich fragwürdiges antifaschistisches Selbstverständnis dokumentierte. Freilich erkennt Schmid auch in sich widersprüchliche Tendenzen der Erinnerungspraxis, einschließlich der subjektiv teils ernsthaften Motivation einer antifaschistischen Abkehr vom NS-Regime und erweiterten zivilgesellschaftlichen Handlungsräumen im Gedenken seit den 1970er-Jahren.

Schmid zeigt, dass das von politischen Interessen des autoritären DDR-Staates überwölbte Gedenken der Erinnerung an die jüdischen Opfer der NS-Verbrechen einer kritischen Selbstreflexion über gesellschaftliche Verantwortung durchweg sehr wenig Raum gelassen hat, ja dass die Verantwortung für den Holocaust bis zuletzt externalisiert wurde. Durch die Gedenkpolitik selbst perpetuierte sich ein erinnerungsabwehrendes Klima, das durchaus sozialpsychologischen Bedürfnissen entsprach und eine nicht geringe lebensweltliche Attraktivität besaß. Zudem konnte eine antisemitisch grundierte „antizionistische“ Position, die dem Opferstaat Israel bis zuletzt die diplomatische Anerkennung verweigerte, besonders unbekümmert und nachdrücklich im Rahmen internationaler sozialistischer Bündnispolitik vertreten werden. Das Erbe jener öffentlichen Verantwortungs- und Erinnerungsabwehr mag sich heute noch in der überdurchschnittlich hohen Identifikation ostdeutscher Jugendlicher mit antisemitischen und nazistischen Werten spiegeln. Auch darum ist dem kleinen Band nicht nur ein politik- und geschichtswissenschaftliches Fachpublikum zu wünschen.

Anmerkung:
1 Das Buch knüpft an Schmids Dissertation an, in der das DDR-Gedenken bereits vorkam, aber nicht so eingehend analysiert wurde: Erinnern an den „Tag der Schuld“. Das Novemberpogrom von 1938 in der deutschen Geschichtspolitik, Hamburg 2001.

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