G. Höschle: Die deutsche Textilindustrie

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Titel
Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität


Autor(en)
Höschle, Gerd
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte - Beihefte 174,1
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Obermüller, Bonn

Wer sich bisher mit der Textilindustrie im Dritten Reich beschäftigt hat, stellte schnell ernüchternd fest, dass dieser Industriezweig von der wirtschaftshistorischen Forschung – von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen – beinahe gänzlich ausgespart wurde.1 Eine Monografie zum Thema sucht man vergeblich, regionale Darstellungen und Aufsätze sind meist unbefriedigend. Gerd Höschle schickt sich an, mit seiner Dissertation, entstanden bei Christoph Buchheim in Mannheim, die deutlich klaffende Lücke der textilindustriellen Entwicklung zumindest für die Jahre 1933 bis 1939 zu schließen. Ohne ein Gesamturteil vorwegzunehmen: Der Versuch ist gelungen.

In drei Kapiteln – Staatsinterventionismus, Anreizsystem und unternehmerische Rationalität, Unternehmenserfolg – gelingt es Höschle einen konzisen und analytisch stringenten Überblick über die industriepolitischen Eingriffe innerhalb der Textilindustrie zu geben. Warum das NS-Regime gerade im Textilsektor frühzeitig intervenierte, wie es den Unternehmen gelang, trotz der mannigfaltigen Hindernisse erfolgreich zu wirtschaften und welche Auswirkungen die NS-Textilpolitik auf die Güterversorgung der Bevölkerung hatte, sind drei Leitfragen, die stets Berücksichtigung finden und einen immer nachvollziehbaren roten Faden erkennbar werden lassen.

Die negative Handels- und Zahlungsbilanz im Frühjahr 1934 veranlassten das NS-Regime zum Handeln. Mit einem Anteil von knapp zwanzig Prozent am Gesamtwarenimport stellte die Textilindustrie einen gewichtigen Posten in der Handelsbilanz dar. Ein drastisch verringerter Rohstoffverbrauch würde unweigerlich zu einer Entlastung der Zahlungsbilanz führen. Diesen taktischen Motiven folgten strategische Überlegungen: Langfristig sollte „durch den Einsatz heimischer Textilfasern, vor allem der chemisch gewonnen Zellwolle“ ein autarker Zustand hergestellt werden. (S. 29) In den Aufrüstungsplänen des NS-Regimes spielte die Textilindustrie als exponierter Vertreter der Konsumgüterindustrie zudem eine untergeordnete Rolle. Ausländische Zahlungsmittel sollten kriegswichtigen Rohstoffen vorbehalten sein. Vor diesem Hintergrund setzte mit der Faserstoffverordnung im Mai 1934 und dem Spinnstoffgesetz 1935 das umfassende „Interventionsprogramm“ ein. Institutionell wurde mit der Schaffung von drei Überwachungsstellen - Baumwolle, Wolle und andere Tierhaare sowie Bastfasern - bereits im März 1934 der Grundstein für eine umfassende Überwachung des Rohstoffverbrauchs gelegt. Rohstoffkontingentierungen, Preisfestsetzungen, Arbeitszeitverkürzungen und Investitionsverbote wurden als Instrumente eingesetzt, um die Pläne der NS-Textilpolitik praktisch umzusetzen. In kurzer Zeit wurde dem Regime allerdings vor Augen geführt, dass umfassende Eingriffe in die Textilindustrie u.a. aufgrund der starken Verästelung der Branche nicht die gewünschten Ergebnisse brachten. So reagierten die Unternehmen sehr flexibel auf die staatlich angeordnete Arbeitszeitverkürzung: In vielen Betrieben erhöhten sie die Tourenzahlen der Spindeln bzw. der Maschinen und/oder integrierten ältere Maschinen zusätzlich in den Produktionsprozess. Das vom NS-Regime angepeilte Ziel den Rohmaterialverbrauch über den Faktor Arbeitszeit zu drosseln, misslang. Die Einsicht, dass eine umfassende Lenkung nicht bloß durch „einfache“ Anordnungen umzusetzen war, führte zur Ausarbeitung eines komplexen Anreizsystems.

Im zweiten Kapitel geht Höschle der Frage nach, welche Faktoren zum Verpuffen der zahlreichen Regulierungsmaßnahmen führten. Lag es am Regime, dass nicht kompetent war die verordneten Maßnahmen durchzusetzen? Verstießen die Unternehmen bewusst oder unwissentlich gegen die Vorgaben? Gab es vielleicht andere Gründe? (S. 172) Es gelingt Höschle nachzuweisen, dass die strukturellen Ziele der NS-Textilpolitik des Regimes – Autarkie durch Zellwolleproduktion, Wiederherstellung einer aktiven Textilzahlungsbilanz – nicht alleine durch Überwachung und Kontrolle zu erreichen waren. Um möglichst alle Textilunternehmer im Sinne der NS-Textilpolitik einzubinden wurden zahlreiche Anreizmöglichkeiten geschaffen. So wurden im Bereich der Wollindustrie so genannte Wollprämien für jeden weiteren Exportauftrag ausgelobt. Wollte ein Betrieb mehrschichtig arbeiten, so war dies trotz der verfügten Beschränkungen in Faserstoffverordnung und Spinnstoffgesetz auf Antrag möglich. Ähnlich verhielt es sich beim „Anpassungspfad staatsnotwendiger Bedarf“ (S. 205). Somit schuf das NS-Regime zahlreiche Ausnahmeregelungen, die bei regimekonformen Verhalten den einzelnen Unternehmen größtenteils zu wirtschaftlicher Prosperität verhalfen.

Diesem Phänomen widmet sich Höschle ausgiebig im Dritten Kapitel. Dass viele Unternehmen gute wirtschaftliche Ergebnisse erzielten, war vor allem dem ab 1936 stark angestiegenen Rüstungsbedarf für Wehrmacht, DAF und Polizei aber auch für Post und Reichsbahn geschuldet. So werden auf gut einhundert Seiten Betriebe der wichtigsten Zweige in den Blick genommen (Woll-, Baumwoll-, Leinen-, Seiden- und Samtindustrie und sonstige Zweige). Nicht wenige Unternehmen, darunter die Tuchfabrik Johann Wülfing & Sohn Remscheid als einer der wichtigsten Vertreter der Textilindustrie in der Rheinprovinz konnten ihren Umsatz in Folge der Staats- und Parteinachfrage halten oder steigern. Da sich die Rohstoffversorgung bis 1937 immer noch ausreichend stabilisiert hatte, kam es bei der Zivilversorgung von Textilwaren und bei Wehrmachts- und Behördenbedarf zwangsläufig zu Engpässen. (S. 219) Die positive Reaktion der Unternehmer auf das geschaffene Anreizsystem ebnete den Weg für den Unternehmenserfolg. Trotz erhöhter Kosten gelang es gerade vielen Tuchfabriken und Streichgarnspinnereien erfolgreich zu wirtschaften. Dagegen hatten besonders die Kammgarnspinnereien unter den Autarkiebestrebungen des NS-Regimes im doppelten Sinne zu leiden: Einerseits führte die Konzentration auf robustes Garn für Wehrmacht und Behördenstoffe zu einer Vernachlässigung des für den Luxus und Privatkonsum produzierten Kammgarns. Anderseits erfolgte durch die Zwangseinführung der Zellwolle eine massive Qualitätsverschlechterung, die sich auch trotz steig steigender Materialverbesserungen nicht spürbar verminderte. Aufgrund der sinnvollen Differenzierung zwischen einzelnen Sparten der Textilindustrie (Woll-, Baumwoll-, Juteindustrie etc.) und der einzelnen Produktionsstufen kann der These Höschles, dass die Textilindustrie nicht generell als Verlierer der Rüstungspolitik angesehen werden kann, entsprochen werden. (S. 320) Die von Höschle nachgewiesene textile Minderversorgung der Bevölkerung belegen zudem die Schwächen und Trugschlüsse der NS-Textilpolitik.

Insgesamt betrachtet hat Höschle eine sehr überzeugende und zudem gut lesbare Untersuchung vorgelegt. Gerade die Auswahl der untersuchten Firmen, 99 an der Zahl, bilden eine mehr als zufriedenstellende Basis für die eingangs dargestellten Thesen. Es gelingt dem Autor die Rolle der Textilindustrie als Experimentierfeld der NS-Industriepolitik darzulegen und zu analysieren, wie es gelang zahlreiche Unternehmen für die Zwecke des Regimes zu instrumentalisieren. Zudem ist es Höschle gelungen eine differenziertere Bewertung der Textilindustrie in der NS-Wirtschaftspolitik vorzunehmen. So zählten die Unternehmen aufgrund ihrer meist geringen Rüstungsrelevanz nicht generell zu Verlierern des NS-Wirtschaftsaufschwungs. Es gab durchaus Unternehmensgruppen, die von der Rüstungskonjunktur profitierten und z.T. nicht weniger erfolgreich waren als Unternehmen der Produktionsgüterindustrie.

Trotz allen Lobes gibt es auch negative Kritik anzumerken: Das fehlende Register ist gerade für den wissenschaftlichen Gebrauch ein Ärgernis. Der viel zu hohe Preis wird den Leserkreis wohl leider auf wenige Personen dezimieren. Inhaltlich gibt es nur wenige Negativkritikpunkte. So wäre es sinnvoll gewesen, sog. Mischunternehmen stärker in den Blick zu nehmen und ihnen mehr Raum zu widmen. Gerade in Fragen unternehmerischen Verhaltens oder wirtschaftlicher Entwicklungen sind z.T. große Unterschiede zu erkennen. Da sich Gerd Höschle dazu entschieden hat, einen Gesamtüberblick der Textilindustrie 1933-1939 vorzulegen, fällt dieser Punkt sehr knapp aus. Insgesamt gesehen ist dies zu verschmerzen und schmälert die Leistungen des Autors in keiner Weise.

Anmerkung:
1 Lindner, Stephan, Den Faden verloren. Die westdeutsche und die französische Textilindustrie auf dem Rückzug (1930/45-1990), München 2001; Müller, Gisela, Die Entstehung und Entwicklung der Wiesentäler Textilindustrie bis zum Jahre 1945, Zürich 1965; Westerhoff, Eduard, Die Bocholter Textilindustrie. Unternehmer und Unternehmen, Bocholt 1984.

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