R. van Dülmen u.a. (Hgg.): Macht des Wissens

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Titel
Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft


Herausgeber
van Dülmen, Richard; Rauschenbach, Sina
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
741 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Irrgang, Referentin Tönissteiner Kreis e.V., Berlin

Dass der humanistische Bildungsbegriff moderner denn je ist, hat kürzlich der Soziologe Ulrich Beck wieder eindringlich formuliert 1 - und nicht nur er. Fast alle Institutionen zur Bewältigung von individueller und sozialer Unsicherheit verlieren an identitätsstiftender und innovativer Kraft: Familie, Ehe, Geschlechterrollen, Klassen, Parteien, Kirchen und in jüngster Zeit auch der Sozialstaat. Einzig Bildung bleibt als conditio sine qua non eine Antwort auf soziale Unsicherheit. Gleichzeitig führt Wissen zu vermehrtem politischen Einfluss, zu sozialer und ökonomischer Macht und erleichtert die Partizipation an gesellschaftlichem Leben. Die Diskussionen um die Pisa Studien, die Bachelorstudiengänge, die Eliteuniversitäten, den Wunsch nach einer stärkeren Orientierung am finnischen Schulsystem oder um den Abbau von Investitionen in Kultur und Bildung zeugen täglich in den Feuilletons und auf wissenschaftspolitischer Bühne davon.

Vor diesem Hintergrund ist die Selbstvergewisserung des Gelehrten und der Wissenschaft selbst ein durchaus geeigneter Beitrag zu Reformanstrengungen, die zugleich ein argumentatives Fundament, gestalterisch und korrigierend in den Umgang mit Bildung einzugreifen schafft. Ohne Kenntnisse darüber, wie sich Wissenschaft und Wissen verändert haben und ohne Vorstellungen von ihrer Genese werden die Dringlichkeit von Bildungsförderung und die Verantwortung von Bildungspolitikern kaum postuliert werden können. Der Historiker ist gefragt, die Lebenswelten des Gelehrten zu konturieren.

Richard van Dülmen und Sina Rauschenbach haben eine facettenreiche Kulturgeschichte des Wissens vorgelegt, welche die Formierungsphase der modernen Wissenschaft anschaulich in die historische Perspektive einbettet. Der große Autorenkreis von 30 Wissenschaftlern spiegelt den interdisziplinären Ansatz des Sammelbandes wider. Dabei kommt die wissenschaftliche Praxis ebenso zur Geltung wie die Kunst, der sich ausdifferenzierende Fächerkanon oder die Gelehrtentopographie. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass die Frühe Neuzeit noch keine klare Trennung der Disziplinen kannte. Um das Thema dennoch zu strukturieren ohne nur auf wissenschaftsgeschichtliche Ereignisse zu verweisen, haben sich die Herausgeber zunächst zeitlich und räumlich begrenzt auf das 15. bis 19. Jahrhundert und auf das christliche Mittel- und Westeuropa. Den Beginn der tour d’horizon stellt die Renaissance und die Entwicklung des Buchdrucks, das Ende die Industrialisierung und die Gründung der Berliner Universität dar. Fünf Phasen können dabei identifiziert werden. Jeder Abschnitt wird durch fünf bis sechs Beiträge konturiert, welches das jeweilige Signum des Zeitalters illustriert. Stellvertretend sollen stets ein Autor jeder Phase näher dargestellt werden.

Das Zeitalter der Renaissance (1450-1580) widmet sich dem Buchdruck, dem Weltbild des Kopernikus, der Alchimie und der frühneuzeitlichen Medizin. Mit der einschneidenden Transformation der Klerikerkultur zu einer Laienkultur und der zunehmenden Unterscheidung zwischen Glauben und Wissen beschäftigt sich Hans-Jürgen Goertz. Er illustriert, wie die beiden Sphären weiterhin um Dominanz rangen, jedoch der eigentliche Aufstieg des säkularen Wissens erst 100 Jahre später geschah. Durch die Verdichtung von Universitätslandschaften, Urbanisierung und Kommunikation wurden wichtige strukturelle Grundlagen gelegt für die Emanzipation des Wissens vom Primat des Glaubens. Es wird deutlich, dass in dieser Entwicklung der Abgrenzung von der mittelalterlichen Rezeption die moderne Wissensgesellschaft ihre Geburtsstunde erlebt.

In den Jahrzehnten zwischen 1580 und 1660 revolutionierte sich das wissenschaftliche Erkenntnisstreben sowohl methodisch als auch inhaltlich. Logische Erkenntnis, Beweisführung, detaillierte Beobachtung und experimentelle Versuche formten für die Wissenschaft jenes moderne Ordnungssystem, das bis heute grundlegend ist. Überdies differenzierte sich das Fächerspektrum stetig aus. Diesen neuen Errungenschaften der Wissenschaft widmet sich Klaus Fischer und führt vor, wie die Wissenschaft systematisiert und neben die Theorie das beobachtende Element gesetzt wurde. Erkenntnis misst sich fortan an der Quantifizierbarkeit, aber auch an der Formulierung von Hypothesen. Weitere Themen sind die Astronomie, die Musik, die Architektur und Ingenieurkunst sowie die politische und kulturelle Faszination frühneuzeitlicher Bibliotheksgeschichte.

Als eine Epoche der Konsolidierung und Ordnung von Wissen werden die Jahrzehnte zwischen 1660 und 1730 begriffen. Immer klarer kristallisierten sich anerkannte Bildungsstrukturen heraus, die auch wesentlich institutionelle Entwicklungen prägten. An den Beispielen der Enzyklopädistik, der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Religion, den Universitäten Königsberg und Halle, gelehrter Korrespondenz, dem Disputationswesen und den praktischen Wissenschaften besonders der Mathematik wird deutlich, wie populär und vielgestaltig die aufkommende res publica litteraria war. Isabella von Treskow hat sich einleitend das barocke Wissensmodell von Hans von Gersdorff, einem universalgebildeten Adeligen aus Bautzen herausgegriffen. Mit Hilfe seiner umfangreichen Bibliothek und dessen eigens für wissenschaftliche Zwecke verfaßten Handbücher, lassen sich das Ordnungsstreben der Universalwissenschaftler als Mikrokosmos anschaulich erklären. Diese Lebenswelten beinhalteten die Lektüre, die Kommentierung von Texten und die Korrespondenz mit Gelehrten. Der Gelehrtenaustausch gewann an identitätsstiftender Relevanz. Wissen war dadurch nicht mehr nur Selbstzweck, sondern Grundlage für Kommunikation und gesellschaftliche Einflussnahme und emanzipierte sich von höfischem Gebaren.

Das Europa der Aufklärung 1730 bis 1780 fokussieren die Autoren als Epoche der Popularisierung von Wissen, als Chance, breite Schichten partizipieren zu lassen, Wissensvermittlung aus der Exklusivität zu lösen. Nicht nur der Kompilationsgedanke stand im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Erkentnisstrebens, sondern zunehmend die Frage praktischer Nutzanwendung und moralischer Implikation. So widmen sich die Beiträge den Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts, dem Unterhaltungswert von Wissen, Technik und „Volksaufklärung“ sowie der Wissensvermittlung in ländlichen Regionen. Voraussetzung für das Ausgreifen von Wissen auf die Gesellschaft war die Lese- und Schreibfähigkeit. Die Alphabetisierung niederer Bevölkerungsschichten beschreibt und interpretiert der Aufsatz von Ernst Hinrichs. Darin wird deutlich, dass die Lese- und Schreibfähigkeiten im ruralen Milieu regionalspezifisch blieben, aber zunehmend Einzug erhielten vor allem auch aufgrund der Professionalisierung des Schulwesens und der Lehrerausbildung.

Zum Schluß steht das Revolutionszeitalter im Zentrum der Betrachtung. Säkularisierung und Spezialisierung von Wissen sind die Charakteristika des Zeitalters. Die Biologie, die Medizin, Anthropologie und Ethnologie werden als Disziplinen vorgestellt. An den urbanen Wissenschaftszentren London, Paris und Berlin werden dann die unterschiedlichen Wissenschaftskonzeptionen vergleichend gegenübergestellt und das Verhältnis zwischen Stadt und Universität dargestellt. Wolfhard Weber schildert die großen technischen und industriellen Errungenschaften und damit die Institutionalisierung technischen Wissens, das unsere Wissensgesellschaft heute so maßgeblich konturiert.

Es handelt sich insgesamt um eine gelungene Aufarbeitung der Wissensgeschichte, die jedoch weniger eine Einführung denn eine geradezu umfassende Problematisierung dieses Aspekts der Kulturgeschichte darstellt. Künftige Darstellungen werden sich an ihr messen lassen. Auch vom äußerlichen Erscheinungsbild ist es eine ansprechende Einladung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das dargebotene Bildmaterial ist beeindruckend. Es bleibt, diesem facettenreichen und differenzierten Werk eine ebenso differenzierte Leserschaft zu wünschen.

Anmerkung:
1 Beck, Ulrich, Vorwärts zu Humboldt 2, in: DIE ZEIT Nr. 47 (11. November 2004), S. 15.

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