E. Otte: Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten

Cover
Titel
Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens, hrsg. v. Günter Vollmer und Horst Pietschmann


Autor(en)
Otte, Enrique
Reihe
Studien zur Modernen Geschichte 58
Erschienen
Stuttgart 2004: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Wiecker, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Wer eroberte Amerika? Wer diese Frage beantworten möchte, sollte das vorliegende Buch von Enrique Otte lesen. Otte, seit den 1960er-Jahren am Lateinamerika-Institut in Berlin tätig, galt zu Lebzeiten als einer der besten Kenner der Bestände zum 16. Jahrhundert im Archivo General de las Indias (Sevilla), wo er viele Jahre gelebt hat. Im September 2006 ist Otte in Berlin gestorben. Der vorliegende Band entstand bereits 2003, dem Jahr von Ottes achtzigstem Geburtstag.1 Günter Vollmer und Horst Pietschmann haben sieben deutschsprachige Texte Ottes aus den Jahren 1959 bis 1969 zusammengetragen und in neuem Drucksatz veröffentlicht. Bei älteren Aufsätzen wie im vorliegenden Fall stellt sich immer die Frage, womit sich ihre Neuveröffentlichung rechtfertigt. Die Herausgeber beantworten diese Frage, indem sie darauf verweisen, dass die Texte nach wie vor grundlegenden Charakter hätten, bislang aber nur verstreut zugänglich gewesen seien. Pietschmann stellt im Nachwort ferner die zentrale Rolle heraus, die Otte als einem der Gründerväter der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung in Europa zukommt. Der beste Grund für dieses Buch ist aber, dass es seinem Inhalt nach – wenn auch sicher nicht wegen seiner Sprache 2 – ausgesprochen aktuell ist. Die neuere "Atlantic History" konzentriert sich immer stärker auf Akteure und ihre internationalen Vernetzungen. Genauso geht Otte vor und belegt glänzend, dass die Eroberung, Besiedlung und vor allem die wirtschaftliche Erschließung Hispano-Amerikas ein europäisches Unternehmen war. Dabei bleibt Otte immer nah an den Quellen und schildert die Vorgänge präzise, weswegen sich das Buch auch Studienanfängern empfiehlt, die die großen Linien der Geschichtsschreibung verlassen und wissen möchten, wie sich Dinge im Detail zugetragen haben. Zwar ist Otte bei den Quellenangaben manchmal etwas lax, dafür liefert er viele der relevanten Quellen direkt im Anhang der Artikel in Transkription mit. Der Band enthält zudem eine launig geschriebene biografische Einführung, ein Verzeichnis der Werke und zwei unterhaltsame autobiografische Notizen. Einziges Manko ist das Fehlen jeglichen Hinweises auf neuere Literatur, die bei der Einordnung der abgedruckten Texte helfen könnte.

Im ersten Aufsatz behandelt Otte die Fahrt des in französischen Diensten stehenden Korsaren Diego Ingenios nach Cubagua, einer kleinen vor der Küste Venezuelas gelegenen Perlen-Insel. Otte analysiert nicht, sondern er erzählt die Geschichte dieser ersten Piratenunternehmung in der Neuen Welt so, wie sie sich ihm anhand der Quellen dargestellt hat. Der Text ist nach heutigen Standards der Quellenheuristik, Quellenkritik oder thesenzentrierten Untersuchung eines Gegenstandes nicht zu messen – dennoch ist er ungemein spannend zu lesen. Nicht zuletzt seine häufigen Tempuswechsel zwischen Präsens und Präteritum, die heute jede/n Proseminarleiter/in zur Verzweiflung treiben würden, dürften hieran ihren Anteil haben. En passant schafft es Otte, dem Leser eine Einführung in die Grundlagen des westeuropäischen Seehandels und in den Aufbau der spanischen Kolonialverwaltung zu geben. Die vielen Details, die Otte zu Tage fördert, bannen sofort jede Gefahr von Eindimensionalität. Es scheint, als sei keiner der beteiligten Akteure nur Beamter, Geschäftsmann, Schmuggler oder Pirat gewesen, sondern immer von allem ein wenig. Das Engagement der Welser in Venezuela ist seit dem 19. Jahrhundert ein Dauerbrenner der deutschen Historiografie.3 Zu diesem Themenkomplex gehört auch die Geschäftstätigkeit von Welser-Faktoren auf der Insel Santo Domingo, die dort ab 1526 im Zuckerhandel aktiv waren und den Sklavenhandel nach Hispanoamerika organisierten. Die Faktorei auf Santo Domingo diente später als Nachschubbasis für die Venezuela-Unternehmung der Welser, doch musste sie schon bald aufgrund des ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolgs abgewickelt werden. Ottes Aufsatz enthält eine ganze Reihe von Richtigstellungen gegenüber dem damaligen Forschungsstand und ist nach wie vor ein lesenswerter Einstieg in das Thema. Am Beispiel der deutschen Buchdrucker Cromberger in Sevilla und des in diese Familie einheiratenden Lazarus Nürnberger, die unter anderem als Faktoren der Welser in Spanien fungierten und als erste deutsche Kaufleute direkt im Amerikahandel tätig waren, zeigt Otte, wie die ganze Welt im 16. Jahrhundert zum Operationsfeld für risikobereite Geschäftsleute wurde. Der Verfasser enthüllt ein eindrucksvolles persönliches Netzwerk, das sich vom Zentrum Sevilla aus nach Nürnberg, Augsburg, Ulm, Antwerpen, Genua, Lissabon, Santo Domingo, Kuba, Mexiko oder Peru erstreckte. Darüber lief der Handel von Büchern, Tuchen, Zucker, Edelsteinen oder Sklaven, ebenso wie Kredite, Schiffsbeteiligungen oder Minenlizenzen.

Der Handel mit afrikanischen Sklaven scheint seinen Anfang in Spanien vor allem als Geldanlage für einige der Finanziers Karls V. genommen zu haben. Die erste große Lizenz an Laurent de Gorrevod von 1518 zum Sklavenhandel landete schließlich bei einem spanisch-genuesischen Handelskonsortium, deren Partner auf eine lange Tradition mit Geldgeschäften aller Art zurückblicken konnten. Im Licht der aktuellen Forschung erinnert dies daran, dass neben der immer wieder betonten Arbeitskräfte-Nachfrage in Amerika auch innerspanische Interessen die Sklaverei begünstigten. Geschäftspartnerschaften zwischen Spaniern und Genuesen waren in der Frühphase der spanischen Expansion unter den Katholischen Königen keine Seltenheit. Otte weist in einem weiteren Text nach, wie sehr gerade genuesisches Kapital den Erfolg der wirtschaftlichen Erschließung Amerikas sicherstellte.4 Meist basierten spanische Geschäftspartnerschaften auf der unternehmerischen Rechtsform der "compañía", die Otte anhand der Notariatsakten in Sevilla beschreibt. Bei diesen Gesellschaften brachten zwei oder mehr – meist verwandte – Kaufleute Kapital in ein gemeinsames Projekt ein, das häufig nur mündlich auf unbestimmte Dauer vereinbart wurde und eine Gewinnbeteiligung zu gleichen Teilen vorsah. Diese Rechtsform, erklärt Otte, habe über Sevilla den Weg nach Amerika gefunden und sei dort in allen Wirtschaftszweigen anzutreffen gewesen.

Ottes Berliner Probevorlesung aus dem Jahr 1967 behandelt kursorisch das Thema, das sich als eine zentrale Innovation der lateinamerikanischen Geschichtsschreibung herausstellen sollte. Anhand von 668 aus Amerika abgesandten Briefen beleuchtet er die Alltagswelt und Lebensbedingungen der europäischen Siedler in Hispanoamerika bis in das erste Drittel des 17. Jahrhunderts. Mit wenigen pointierten Zitaten macht Otte deutlich, wie sich den Zeitgenossen das Leben in der Neuen Welt gegenüber dem in der Alten darstellte. Auch dank der späteren Edition dieses Quellenmaterials konnte sich eine kulturgeschichtliche Sichtweise auf Lateinamerika in der Forschung etablieren 5 – der abgedruckte Vorlesungstext kennzeichnet den Übergang zu dieser neuen Perspektive, an dem Otte maßgeblichen Anteil hatte.

Anmerkungen:
1 Zum Wirken von Enrique Otte siehe auch den Nachruf von: Vila Vilar, Enriqueta, En la muerte de Enrique Otte, gran hispanista, in: ABC, 3.10.2006.
2 Die Leser/innen müssen einige von der Forschung überholte Perspektiven in Kauf nehmen, wenn Otte etwa den Konquistador Jacomé de Castellón als "Befreier Cumanás" (S. 47) bezeichnet. Vgl. hierzu: Avonto, Luigi, Mercaderes en la conquista de Tierra Firme, Caracas 1999.
3 Schmölz-Häberlein, Michaela, Kaufleute, Kolonisten, Forscher. Die Rezeption des Venezuela-Unternehmens der Welser in wissenschaftlichen und populären Darstellungen, in: Häberlein, Mark; Burkhardt, Johannes (Hgg.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses, Berlin 2002, S. 320-344; Denzer, Jörg, Die Konquista der Augsburger Welser-Gesellschaft in Südamerika (1528-1556). Historische Rekonstruktion, Historiografie und lokale Erinnerungskultur in Kolumbien und Venezuela, München 2005.
4 Zu ähnlichen Ergebnissen war schon Pike, Ruth, The Genoese in Seville and the Opening of the New World, in: The Journal of Economic History, 22 (1962), S. 348-378, gekommen, die von Otte aber nicht zitiert wird.
5 Lockhart, James; Otte, Enrique (Hgg.), Letters and People of the Spanish Indies. Sixteenth Century, Cambridge 1976; Otte, Enrique (Hg.), Cartas privadas de emigrantes a Indias, 1540-1616, Sevilla 1988.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension