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Titel
Our Knowledge of the Past. A Philosophy of Historiography


Autor(en)
Tucker, Avizier
Erschienen
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
$70.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carlos Spoerhase, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

1. Kontext

Während sich die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften als eigenständige Disziplin etabliert und institutionell durchgesetzt hat und die Wissenschaftstheorie der Textwissenschaften erfolgreich in den Philologien fortgeführt wird, ist es um die Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaften in den letzten Jahren merklich still geworden. Aviezer Tucker, der sich bereits vor gut drei Jahren über die Zukunft der Philosophie der Geschichtswissenschaften geäußert hat 1, legt mit „Our Knowledge of the Past“ nun eine umfassende Studie vor, die belegen soll, dass diese marginalisierte Teildisziplin tatsächlich eine Zukunft besitzt. Die Frage, ob denn die Philosophie der Historiografie überhaupt eine Zukunft habe, ist als Reaktion auf deren allgemeinen Geltungsverlust zu verstehen. Zwei Hauptursachen lassen sich für diesen Niedergang isolieren:

Einerseits erwies sich das in der Tradition des logischen Empirismus stehende Philosophieren über die Geschichtswissenschaften als unangemessen. So wurde Carl Gustav Hempels einflussreiche Logik der Erklärung („covering law model“) zunächst anhand der Naturwissenschaften ausgearbeitet und nur nachträglich auf die historischen Wissenschaften appliziert. 2 Da Hempel von der Einheit der wissenschaftlichen Methode, also von einem methodologischen Monismus ausging, schien ihm eine eigene Untersuchung der historiografischen Praxis und der in ihr impliziten Erklärungslogik nicht notwendig zu sein: Entweder die historiografische Praxis entsprach seinem „deduktiv-nomologischen Modell“ und erwies sich damit als wissenschaftlich, oder sie verfehlte dieses Modell und damit auch den Status der Wissenschaftlichkeit. Die Tendenz, Philosophie der Geschichtswissenschaften gewissermaßen a priori, also ohne Kontakt zur empirischen Geschichtsforschung zu betreiben, setzt sich in bestimmten Strängen der gegenwärtigen analytischen Philosophie fort.

Andererseits hat sich die Philosophie der Geschichtswissenschaften vorrangig an den Darstellungsformen historiografischer Texte abgearbeitet. Dieser Fokus auf die narrativen und rhetorischen Strukturen von Texten hat nicht zuletzt dazu geführt, dass das Ergebnis der historischen Forschung, das fertige Artefakt des historiografischen Texts, hauptsächlicher Untersuchungsgegenstand der philosophischen Reflexion geblieben ist. Diese Fokussierung auf die Darstellungsformen historischen Wissens, wie sie etwa bei Hayden White und Arthur C. Danto, aber auch in neueren poststrukturalistischen Ansätzen vorherrscht, geht an einer zentralen wissenschaftstheoretischen Fragestellung vorbei: Gegenstand einer Wissenschaftstheorie der Geschichtswissenschaften ist nicht allein die Form des Forschungsresultats, sondern auch und vor allem die Konstruktion und Evaluation von Hypothesen im Forschungsprozess.

2. Inhalt

Tuckers Studie zielt in erster Linie darauf ab, die beiden geschilderten ‚Hauptfehler‘ der bisherigen Philosophie der Geschichtswissenschaften zu vermeiden, in dem er sich erstens intensiv um eine Rekonstruktion der historiografischen Praxis und zweitens um die Steigerung der Aufmerksamkeit für den Prozess des Hypothesenbildung und Hypothesenbewertung bemüht. Zu diesem Zweck unterteilt er die Historiografie in Belege, Hypothesen und Theorien über die Informationsübermittlung. Historiografische Innovation finde auf drei Weisen statt: erstens über die Ausweitung der Belegbasis, zweitens über die Verbesserung der Hypothesen und drittens über neue Theorien hinsichtlich der Informationsübermittlung, die auf die Entdeckung von impliziten bzw. „verschachtelten“ („nested“) Informationen abzielen.

Die historiografische Relation, die im Zentrum von Tuckers Überlegungen steht, ist nicht diejenige zwischen dem Historiker und der historischen Wirklichkeit, sondern diejenige zwischen dem Historiker und den historischen Belegen. Gegenstand der historiografischen Erklärung sind somit historische Belege und nicht historische Ereignisse oder Beschreibungen von Ereignissen. In dem semiotischen Vokabular Carlo Ginzburgs ließe sich reformulieren, dass sich Tucker in erster Linie für den Historiker als „Spurensucher“ bzw. „Spurenauswerter“ interessiert. Die Frage, die ihm zufolge im Zentrum einer Philosophie der Geschichtswissenschaften steht, ist die nach dem Verhältnis der historiografisch relevanten Spuren zum Hypothesenapparat des Historikers. Die Untersuchung des Verhältnisses von Theorie und Indizien („theory and evidence“) zielt auf eine Theorie der geschichtswissenschaftlichen Erklärung bzw. auf eine geschichtswissenschaftliche Bestätigungstheorie: idealerweise bestätigen die Indizien die Theorie, während die Theorie das Auftreten der Indizien erklärt. Die Konstruktion einer historiografischen Theorie der Erklärung bzw. Bestätigung wird mit Hilfe des Instrumentariums der probabilistischen Bayesschen Bestätigungstheorie formuliert.

Der Untersuchungsgegenstand der Tuckerschen Studien beschränkt sich keineswegs auf die Geschichtswissenschaften im engeren Sinne, vertritt er doch die Auffassung, dass sich die Forschungslogik der historischen Wissenschaften in einem sehr heterogenen Ensemble von Disziplinen nachvollziehen lässt, denen man ihre methodologische Verwandtschaft nicht auf den ersten Blick ansieht. Als historische Wissenschaften isoliert er neben der Geschichtswissenschaft die historische Bibelkritik, die Quellenkritik der klassischen Philologie, die Vergleiche Sprachwissenschaft, die Evolutionsbiologie und die Archäologie. In allen diesen Disziplinen gehe es um die Rekonstruktion eines nicht mehr präsentierbaren Sachverhaltes – historische Ereignisse, textuelle Archetypen, ausgestorbene Ursprachen, ausgestorbene biologische Arten, verschwundene Siedlungsräume – anhand von gegenwärtigen „Zeugnissen“ und „Spuren“.

Die wissenschaftliche Logik, die diese Disziplinen teilen, erlaube es dem Forscher unter bestimmten Bedingungen, von Anwesendem auf Abwesendes zu schließen. Die historischen Wissenschaften basieren damit auf einer Logik des Testimoniums. Die epistemische Frage danach, wie festgestellt werden kann, ob Informationen von historischen Quellen über lange Zeiträume ohne Verlust transportiert wurden, ähnelt der, wie festgestellt werden kann, ob ein Zeuge Informationen ohne Verzerrungen übermittelt. Die Evaluation der Zuverlässigkeit („reliability“) der „Textzeugen“ ähnelt durchaus der Evaluation der Glaubwürdigkeit von Zeugen vor Gericht. Tucker bemüht sich in diesem Kontext vor allem darum, die Verfahren zu formalisieren, mit denen Historiker die differentielle Zuverlässigkeit ihrer Indizien bestimmten. Die Auseinandersetzung mit dem Problem, wie sich durch den Rekurs auf gegenwärtig vorhandene empirische Befunde anspruchsvolle Theorien über grundsätzlich abwesende Ereignisse, Prozesse, Artefakte und dergleichen bestätigen lassen, verweist auch auf eine allgemeine Theorie der Zeugenschaft. Wie lassen sich anhand von historiografischen Quellen komplexe Hypothesenzusammenhänge über die Vergangenheit bestätigen? Unter welchen Bedingungen lässt sich von gegenwärtig vorhandenen Indizien auf nicht präsente und nicht mehr präsentierbare „Sachverhalte“ schließen? Das Verfahren, dass Tucker als Antwort auf die letzte Frage vorschlägt, ist der auf Hans Reichenbach zurückgehende Schluss von Indizien auf eine gemeinsame Ursache („inference from evidence to a common cause“) 3; die historischen Fallbeispiele dienen der Plausibilisierung dieses Verfahrens. So lässt sich anhand der Quellenkritik, die einen Archetypen als Ursache der gegenwärtigen divergierenden Textzeugnisse konstruiert, deutlich machen, dass im Idealfall die präsenten ‚Textzeugen‘ die Hypothese eines Archetyps bestätigen, während dieser Archetyp als Ursache das Vorhandensein der überlieferten Texte erklärt.

3. Fazit

Ist es Tucker gelungen, die einleitend geschilderten „Hauptfehler“ der bisherigen Philosophie der Geschichtswissenschaften zu vermeiden?

Sicherlich ist es ihm gelungen, die philosophische Aufmerksamkeit auf den Prozess der Hypothesenbildung und Hypothesenbewertung zu lenken; vor allem die Erklärungsbeziehungen und Bestätigungsrelationen zwischen historiografischen Belegen („Quellen“) und der Hypothesenbildung des Historikers gewinnen in seiner Arbeit ein viel stärkeres Profil als in der bisherigen Forschung. Ob es ihm gelungen ist, die historiografische Praxis im Rahmen seiner forschungslogischen Studie stärker zu berücksichtigen, ist nicht einfach zu beantworten. Wie auch in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften üblich, dienen Tuckers wissenschaftshistorische Einschübe einerseits dem Auffinden von historischen Episoden, aus denen sich die Logik der Wissenschaften gewissermaßen rational „herauskonstruieren“ lässt, andererseits haben diese Einschübe auch eine bestätigende Funktion, sollen sie doch zeigen, dass die von ihm vertretene Logik tatsächlich in musterhaften wissenschaftshistorischen Episoden wie der Rankeschen Geschichtsforschung wirksam gewesen ist. Der Status der Wissenschaftsgeschichte ist auch im Rahmen dieser Studie insofern prekär, als sich der Eindruck nicht ausräumen lässt, die Fallbeispiele seien immer schon auf ihren wissenschaftstheoretischen Zweck hin präpariert.

Tuckers Studie zur Forschungslogik der historischen Wissenschaften verdient schon deshalb Interesse, weil sie sich darum bemüht, dass Feld der Wissenschaften von der Geschichte auf eine neue Weise zu begrenzen: Sein Entwurf eines inklusiveren Begriffs der Geschichtsforschung ist diskussionswürdig. Als fruchtbar könnten sich in Zukunft auch die Vorschläge erweisen, die Methodologie der Historiografie stärker an die gegenwärtige epistemologische Debatte zum Testimonium und an die aktuelle wissenschaftstheoretische Diskussion der Bestätigungstheorie anzuschließen. Ein detaillierteres Inhaltsverzeichnis hätte einen gezielteren Zugriff auf diese Vorschläge erlaubt.

Anmerkungen:
1 Tucker, Aviezer, The Future of the Philosophy of Historiography, History and Theory 40 (2001), S. 37-56.
2 Hempel, Carl Gustav, The Function of General Laws in History, Journal of Philosophy 39 (1942), S. 35- 48.
3 Reichenbach, Hans, The Direction of Time, Berkeley 1956.

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