Ch. Cornelißen u.a. (Hgg.): Diktatur - Krieg - Vertreibung

Cover
Titel
Diktatur - Krieg - Vertreibung. Erinnerungskulturen in Tschechien, der Slowakei und Deutschland seit 1945


Herausgeber
Cornelißen, Christoph; Holec, Roman; Pešek, Jiř i
Reihe
Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission 13/Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 26
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Gregor, Expertenkommission "Aufarbeitung der SED-Diktatur", Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes von 1945 haben sich die ehemaligen Kriegsgegner europaweit im Großen und Ganzen einträchtig ihrer Opfer erinnert. Ein solch harmonisches Bild ist nicht selbstverständlich und auch nicht allerorts gegeben. Die neuerlichen Aufregungen rund um das geplante Zentrum gegen Vertreibung bestätigen, dass im erinnerungspolitischen Bereich zwischen der Bundesrepublik und ihren westeuropäischen Nachbarn noch immer mehr Gemeinsamkeiten bestehen als mit den Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas. Denn über die Frage der Massenverbrechen der Nationalsozialisten hinaus ist noch der Streitherd von ‚Flucht und Vertreibung’ zu klären. Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission hat es sich zur Aufgabe gesetzt, die strittigen Punkte im deutsch-tschechischen bzw. deutsch-slowakischen Verhältnis der letzten anderthalb Jahrhunderte zu erforschen – ihr verdanken wir den vorliegenden Sammelband. Die Herausgeber folgen dabei dem Programm einer ‚Europäisierung des historischen Gedächtnisses’, also der Erarbeitung einer Erinnerungslandschaft im europäischen Kontext. Durch weitere Aufklärung über die konkreten Entwicklungen und Schwierigkeiten innerhalb der Erinnerungsgeschichte der letzten 50 Jahre soll der Band dafür Grundlagen schaffen und „vorläufige Ergebnisse zu ausgewählten Forschungsthemen“ bieten (S. 16f.).

Der Leser findet ein ziemlich heterogenes Potpourri von insgesamt 21, zum Teil komparativen Einzeldarstellungen, die sich auf die Geschichte der unterschiedlichen Erinnerungskulturen seit 1945 in Tschechien, der Slowakei und dem geteilten bzw. wiedervereinigten Deutschland beziehen, ansatzweise auch noch die Länder Polen und Russland behandeln sowie zum Schluss einen transnationalen Blick auf die Debatte über die Vertreibungen in Zentraleuropa werfen. Eingeleitet wird der Band durch das orientierende Vorwort der Herausgeber und einen umrahmenden theoretischen Beitrag von Christoph Cornelißen „Zur Erforschung von Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa“. Dieser gibt einen informativen Abriss zur Begriffsgeschichte des Konzepts der Erinnerungskultur seit den 1990er-Jahren. Cornelißen streift auch einige Methoden und Fragestellungen dieses Forschungsparadigmas wie soziale Rahmenbedingungen, Generationen, Nation und Erinnerung, Glaube und Ideologien, Medien. Abschließend formuliert er aktuelle Desiderate für eine ‚Europäisierung des historischen Gedächtnisses’; er fordert die Untersuchung der Verschränkung von länderübergreifenden und länderinternen Erinnerungskulturen im Zusammenhang mit ihren jeweiligen Beziehungsgeschichten. Dieser Beitrag ist als Klammer des Sammelbands dringend nötig, weil die Aufsätze ansonsten einen etwas rhapsodischen Eindruck beim Leser hinterlassen würden. Weitere Orientierungshilfe verschafft die Gliederung des Bandes in sechs thematische Abschnitte, in denen jeweils drei bzw. vier Aufsätze gebündelt werden.

Der erste Themenabschnitt behandelt die Funktionsweisen der Geschichtswissenschaften im Prozess der öffentlichen Erinnerung. Vier Beiträge versuchen die Reichweite der Deutungsmacht der Fachhistoriografie in kommunistisch geprägten Ländern zu ermitteln. Die Deformationen einer in das ideologische Korsett des Kommunismus eingepassten Geschichtswissenschaft untersucht Martin Sabrow für die DDR an Widersprüchen im offiziell propagierten Geschichtsmodell. Ob man Sabrows optimistischer Einschätzung zustimmen kann, dass es hier „nicht um die bloße Unterdrückung individuellen Erlebens zugunsten eines oktroyierten Parteigedächtnisses ging, sondern um die Utopie einer nie ganz geglückten und doch als Projekt nie aufgegebenen Fusion von kommunikativer und kultureller Erinnerung im Konsens aller Beteiligten“ (S. 99), hängt wohl von der Frage ab, inwiefern ein solches Fusionsprojekt wirklich auf einem freiwilligen Konsens aller Beteiligten beruhte bzw. hätte beruhen können. Hervorzuheben ist auch der umfangreiche Aufsatz von Detlef Brandes über das „Bild der Kollaboration im ‚Protektorat Böhmen und Mähren’“. Brandes prüft die neueren Veröffentlichungen tschechischer Historiker auf der Basis eigener Quellenforschung und gibt einen tiefen Einblick in das schwierige Verhältnis zwischen tschechischen Regierungsstellen, Besatzungsmacht und Exilregierung. Er zeigt überzeugend, dass die Kooperation der tschechischen Stellen mit der deutschen Besatzungsmacht nicht einfach als ‚Staatskollaboration’ bezeichnet werden kann, sondern vor allem dem Ziel folgte, das kleinstmögliche Übel für das tschechische Volk zu erreichen.

Der zweite Themenblock beansprucht, den Leser über das Gedenken an Diktatur und Krieg in politischen Reden 1945-1995 zu informieren. Drei Untersuchungen verdeutlichen hier den Einfluss des offiziellen Diskurses in den östlichen ‚Volksdemokratien’ für die Formierung öffentlicher Gedächtnisse. Der Leser erfährt zwar, wie systematisch und konsequent die Erinnerungspolitik zur Etablierung und Behauptung eines politischen Führungsanspruchs genutzt wurde, doch viel Neues wird dabei nicht zu Tage gefördert.

Im dritten Abschnitt wurden vier Aufsätze gesammelt, die konkrete Orte der Erinnerung in ihrem historischen Kontext thematisieren. In facettenreichen Untersuchungen wird ausgelotet, inwiefern der sich in Denk- und Mahnmalen konkret sedimentierende Wandel von gesellschaftlichen und politischen Wertvorstellungen Aufschluss über die Entwicklung der Erinnerungskulturen des jeweiligen Landes gibt. Man kann resümieren, dass Gedenklandschaften valide Seismografen der politischen Kultur eines Landes sind.

Der vierte Themenabschnitt befasst sich mit Erinnerungsdiskursen, die durch Spiel- und Dokumentarfilme vermittelt werden. Jelena Paštéková versucht sich hier an der „Reflexion der moralischen Aspekte des Krieges im slowakischen Film“. In einem regelrechten Sturzflug werden auf gerade mal elf Seiten mehr als zwei Dutzend Filme von 1944 bis 1989 in ihren historischen Kontext eingeordnet. Da diese Filme zumeist nicht einmal durch eine wenigstens knappe Inhaltsangabe vorgestellt werden, müsste man sie schon selbst gesehen haben, um etwas damit anzufangen zu können. Dass eine eingehendere Darlegung der filmischen Kernaussagen und historischen Kontexte sinnvoller ist, zeigt das Beispiel des klaren und ergiebigen Aufsatzes von Sylvia Schraut über die Entwicklung des deutschen Nachkriegsfilms.

Im fünften Themenbündel wird die politisch-publizistische Debatte über die Vertreibungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit behandelt. Claudia Kraft erarbeitet anhand der Beispiele von Tschechien und Polen unterschiedliche Reaktionsweisen auf im Rahmen der Vertreibung der Deutschen entstandene Schuld. Wirklich Überraschendes bringt der Beitrag von Milan Drápala ans Licht, der an die Geschichte der nicht-sozialistischen Presse in den ersten drei Nachkriegsjahren erinnert. Die Wochenzeitschrift „Obzory“ trat als eine bemerkenswerte innertschechische Oppositionskraft auf, indem sie eine Mittelstellung einnahm zwischen der berechtigten Befürchtung, dass von Deutschland noch 1948 eine Gefahr ausgehen könne, und dem Ansinnen, diese Ängste politisch zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei zu instrumentalisieren.

Themenabschnitt sechs vermittelt dem Leser Einsichten in das aktuelle erinnerungspolitische Geschehen seit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ost- und Ostmitteleuropa. Andreas Langenohl berichtet von der allmählichen Veränderung der kulturellen Erinnerung an den ‚Großen Vaterländischen Krieg’. Die Regierung unter Putin ziele darauf ab, die sowjetischen Deutungskontinuitäten zugunsten einer ‚eurasischen Deutung’ zu modifizieren, bei der der Krieg vor dem Hindergrund von angeblich typisch eurasischen Kulturmerkmalen, Mentalitäten und vor allem spezifischen kollektiven Erfahrungen interpretiert wird. Der Beitrag von Bernd Faulenbach skizziert die Entwicklungen der gegenwärtigen deutschen Erinnerungslandschaft. Er betont die positiven Leistungen der bundesdeutschen Aufarbeitung der ‚doppelten’ Vergangenheit und zeigt, dass sich die Erinnerungen an die NS- und an die SED-Herrschaft allmählich in ein angemessenes Verhältnis fügen, mit einer Vorrangstellung der Erinnerung an die NS-Zeit.

Die meisten Beiträge sind informativ und lesenswert; insgesamt hält der Band, was er verspricht. Viele Aufsätze vor allem deutscher Provenienz sind klar strukturiert und schalten ihren Ausführungen methodische Überlegungen vor, während sich die Mehrzahl der östlichen Forscher noch auf die Ebene empirischer Bestandsaufnahmen beschränkt, um überhaupt ihr Feld zu erschließen. Dieser systematische Unterschied in der Herangehensweise mag dadurch zu erklären sein, dass Osteuropa das Forschungsgebiet der Erinnerungskultur erst seit kurzem für sich entdeckt hat. Auf der Ebene der Einzeldarstellungen gibt der Band Denkanstöße, geht – gemessen am Anspruch einer ‚Europäisierung des Gedenkens’ – über vorläufige Resultate aber nicht hinaus. Die systematische Erforschung von europäischen Erinnerungskulturen befindet sich noch in den Anfängen.