V.-E. Hirschmann: Horrenda Secta

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Titel
Horrenda Secta. Untersuchungen zum frühchristlichen Montanismus und seinen Verbindungen zur paganen Religion Phrygiens


Autor(en)
Hirschmann, Vera-Elisabeth
Reihe
Historia-Einzelschriften 179
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
168 S.
Preis
€ 37,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Weiß, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die Erforschung des Montanismus, einer in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n.Chr. entstandenen religiösen Gruppierung mit christlichen Grundzügen und kräftiger prophetisch-ekstatischer Färbung, hat durch die jüngst gelungene Lokalisierung des Ortes Tymion, einer kleineren Stadt in Phrygien, die zusammen mit einer weiteren Kleinstadt namens Pepouza das Zentrum der Bewegung der Montanisten bildete, einen spektakulären Höhepunkt erlebt.1 Auch wenn der Grenzbereich zwischen den Altertumswissenschaften und der theologischen Wissenschaft von einigen Wagemutigen beschritten wird, so ist doch kaum jemand von althistorischer Seite in die Gefilde des Montanismus vorgedrungen. Vera-Elisabeth Hirschmanns bei Anthony Birley in Düsseldorf entstandene Dissertation wagt sich sehr tief hinein, und ihr ist für diesen Mut zu danken. Ein altes Dilemma im Zusammenhang mit der Entstehung des Montanismus, der kirchlicherseits relativ rasch das Etikett der Häresie erhielt, besteht in der Frage nach dessen religiösen Hintergründen. Willem Schepelern kam 1929 zu dem Ergebnis, der Montanismus sei in seinen Anfängen christlich-orthodox und erst im Laufe der Zeit stärker von paganen Elementen durchdrungen gewesen.2 Hirschmanns These richtet sich gegen diese seither verbreitete Ansicht. Ihr zufolge zieht der Montanismus bereits in den Anfängen seine Wurzeln aus der lokalen phrygischen Religion.

Nach einem einleitenden Gang durch die Forschungsgeschichte stellt Hirschmann im zweiten Kapitel zunächst die Quellenlage vor und untersucht in einem Exkurs den Montanismus Tertullians. Anschließend diskutiert sie das "Entstehungsdatum" des Montanismus. Hirschmann folgt der gängigen Frühdatierung, die mit Epiphanios von Salamis (pan. 48,1) das erste Auftreten des Montanus, des 'Gründers' der Bewegung, in das Jahr 157 setzt. "Möglicherweise", so Hirschmann, "agierten Montanus und seine Anhänger schon vor 157 in Phrygien" (S. 46). Damit bliebe das umstrittene Kapitel 4 des Martyrium Polycarpi (155/56) das früheste Zeugnis für den Montanismus oder, so Hirschmann, einen "Protomontanismus".3 Das Jahr 157 markiert dann nurmehr das erste wahrnehmbare öffentliche Auftreten der Bewegung. Es folgt die Vorstellung der Hauptfiguren der montanistischen Frühzeit, des Montanus selbst sowie der beiden Prophetinnen Maximilla und Priscilla. Die führende Rolle der Frauen ist eine Zielscheibe der kirchlichen Kritik am Montanismus. Eine weitere ist der übersteigerte Ekstatismus, der als manía und falsche Prophetie verdammt wird. Des Weiteren richtet sich die kirchliche Kritik gegen das Vorleben des Montanus, der vor seinem Übertritt zum Christentum Priester einer heidnischen Gottheit, entweder Apollons oder - Montanus wird von Hieronymus als semivir bezeichnet - der Kybele, gewesen sein soll.

Hirschmann legt die Aussagen der kirchlichen Literatur nicht einfach als Polemik zur Seite, sondern nimmt sie ernst und macht sich im dritten Kapitel auf die "Suche nach den Wurzeln" für die genannten Erscheinungen. Ob man für die Frage der nicht-christlichen Vorgeschichte des Montanus die Geschichte der beiden Gottheiten Apollon und Kybele so umfassend wie Hirschmann bieten muss, sei dahin gestellt. Wichtig sind vor allem zwei Befunde für den kaiserzeitlichen Kult der genannten Gottheiten im phrygisch-mysischen Raum. Zum einen, dass prophetische und ekstatische Elemente zum Kult der beiden Gottheiten gehören. Vor diesem Hintergrund ist es nach Hirschmann möglich, dass Montanus pagane Elemente aus seiner Zeit als heidnischer Priester in die "Neue Prophetie" eingebracht hat (S. 74, 99). Zum zweiten zeigt sich, dass Apollon und Kybele gemeinsam verehrt werden konnten. Dies könnte die auf den ersten Blick widersprüchlichen Angaben der Kirchenväter über die pagane Priesterschaft des Montanus erklären.

In einem nächsten Schritt vergleicht Hirschmann die montanistische Prophetie mit dem christlichen Verständnis von Prophetie, das sich im Alten und Neuen Testament niederschlägt. Sie zeigt gravierende Unterschiede auf. Für das christliche Verständnis sei die "bewusste Rede" (S. 140) kennzeichnend, trotz des vereinzelten jedoch immer untergeordneten Auftretens der Glossolalie. Christliche Prophetie enthalte zumeist ein rationales Element. Ekstatische Prophetie sei in der Bibel die Ausnahme. Für den Montanismus hingegen sei die Verbindung von Ekstase und Prophetie kennzeichnend, wovon insbesondere das bekannte 'Leier-Orakel' zeuge. Gott bedient sich nach Montanus seiner Propheten als willenloses Instrument; er spielt auf ihnen wie auf einer Leier. Hirschmann leitet solche Ideen - nach Ansicht des Rezensenten zu Recht - aus paganen Vorstellungen ab und schreibt konsequent: "Angesichts der Übereinstimmungen zwischen der paganen Auffassung von prophetischer Rede und dem dort vorausgesetzten Verhältnis zwischen Gott und Mensch einerseits und der montanistischen Prophetie andererseits liegt es näher, die Neue Prophetie in der vorchristlichen Tradition Phrygiens verwurzelt zu sehen als in der Tradition des Alten und Neuen Testamentes." (S. 99)

Die Rolle der Prophetinnen im Montanismus leitet Hirschmann ebenfalls aus nichtchristlichen Vorstellungen ab und vergleicht sie mit der einer "ekstatischen Kultprophetin" (S. 118) orientalischer Religionen. Die führende Position von Frauen, die innerhalb der montanistischen Gemeinden auch Ämter bekleideten, ergibt sich aus einer radikalen Umdeutung der biblischen Eva durch die Montanisten. Eva hätte durch ihren Griff nach der verbotenen Frucht nicht die Ursünde begangen, sondern die Erkenntnis in die Welt gebracht (S. 104). Hirschmann vermutet weiterhin, die Verwendung von Brot und Käse - statt Brot und Wein - für die Eucharistie sei nicht nur bei einer montanistischen Splittergruppe, den Artotyriten, aufgetreten, sondern sei in der gesamten Bewegung verbreitet gewesen. Sollte dies richtig sein, liegt wahrscheinlich auch hier eine Umdeutung vor: Das christliche Abendmahl wird nicht mehr als symbolische Darstellung von Leib und Blut Christi verstanden, sondern Grundnahrungsmittel werden als Opfergabe dargebracht. Auch hier wird die Verbindung zur paganen Kultpraxis gezeigt (S. 119ff., 142f.). Das Wenige, was man über die Struktur der montanistischen Gemeinden weiß, zeigt ebenfalls, dass hier andere Organisationsformen als die kirchlichen errichtet wurden. Allerdings findet sich die bei den Montanisten verbreitete 'Amtsbezeichnung' eines koinonós auch bei den paganen Kultvereinen nicht. Dass die Verwendung des Terminus durch die Montanisten "eine weitere Einbettung in die einheimische Tradition ihres Landes" (S. 144) zeige, erscheint dem Rezensenten daher nicht plausibel.

Hirschmann hat eine Reihe von Argumenten für ihre These einer paganen Beeinflussung des Montanismus bereits in seiner Frühzeit gesammelt. Insbesondere ihre Unterscheidung zwischen dem christlichen und dem montanistischen Prophetieverständnis erscheint überzeugend. Dem Argument, Montanus habe dem Montanismus Überzeugungen und Vorstellungen aus seiner Zeit als paganer Priester injiziert, wird man nur damit begegnen können, dass man die Aussagen der Kirchenväter über die Vergangenheit des Montanus als wertlose Polemik abtut. Hirschmanns methodische Prämisse ist, genau dies nicht zu tun, sondern die kirchlichen Aussagen beim Wort zu nehmen. Dieses Vorgehen ist sicher nicht grundsätzlich verwerflich, hätte jedoch argumentativ besser gestützt werden müssen.

Ist der Montanismus bereits in seiner Frühzeit kräftig pagan beeinflusst, ergibt sich die Frage nach einer Bewertung der Bewegung. Ist das Etikett "christlich" wirklich angemessen oder handelt es sich hier nicht vielmehr um eine der zahlreichen Spielarten des antiken Synkretismus, bei denen nun auch christliche Elemente als Beigaben auftreten können? Hirschmann konstatiert abschließend für den Montanismus die "Vermischung beider", das heißt christlicher und nicht-christlicher, "religiöser Strömungen" (S. 145). Dass sich im Montanismus allerdings auch die "Kompatibilität" (S. 145) der beiden Strömungen zeigen soll, erscheint dem Rezensenten verfehlt. Gerade Hirschmanns Grundthese zeigt doch, dass der Montanismus kein genuin christliches Produkt ist, sondern sich neben christlichen auch anderer Elemente bedient. Von daher wäre es nach Ansicht des Rezensenten konsequenter gewesen, im Untertitel des besprochenen Buches nicht vom "frühchristlichen", sondern vom "frühen" Montanismus zu sprechen.

Anmerkungen:
1 Die Inschrift, die zur Identifizierung geführt hat, ein Reskript von Septimius Severus und Caracalla an colonis Tymiorum et Simoen[tium], ist von Peter Lampe und William Tabbernee jetzt an drei unterschiedlichen Orten publiziert worden: Zeitschrift für Antikes Christentum 8 (2004), S. 498-512; Epigraphica Anatolica 37 (2004), S. 169-178; Lampe, Peter; Tabbernee, William, Pepouza and Tymion (in Vorb.). Aufgrund der Relevanz dieses Textes sowohl für die Altertumswissenschaft als auch für die Theologie ist diese Mehrfachpublikation zweifelsohne berechtigt. Bedauerlich ist, dass der ohnehin nicht immer einfache Dialog zwischen den beiden Wissenschaften durch die laut Lampe unautorisierte Edition des Textes von Tor Hauken et aliis in Epigraphica Anatolica 36 (2004) weiter gestört wurde.
2 Schepelern, Willem, Der Montanismus und die phrygischen Kulte, Tübingen 1929.
3 Zur Frage, ob Mart. Polycarpi 4 sich kritisch gegen das Martyriumsverhalten der Montanisten wendet, hat allerdings Boudewijn Dehandschutter jüngst ablehnend Stellung genommen: The Martyrdom of Polycarp and the outbreak of Montanism, Ephemerides Theologicae Lovanienses 75 (1999), S. 430-437; vgl. Dens. in: Vigiliae Christianae 55 (2001), S. 101-104.

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