Titel
Lernen von Amerika?. Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen


Autor(en)
Latzin, Ellen
Reihe
Transatlantische Historische Studien 23
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhild Kreis, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das westdeutsche „Demokratiewunder“1 der Nachkriegszeit ist eines der interessantesten Phänomene der jüngeren deutschen Geschichte. Da die institutionelle Verankerung der Demokratie bereits gut erforscht ist, rücken seit einigen Jahren unter den Paradigmen Modernisierung, Westernisierung und Liberalisierung zunehmend politisch-kulturelle und mentalitätsgeschichtliche Erklärungsansätze in den Vordergrund.2 Wesentliche Einflüsse auf den Demokratisierungsprozess kamen von außen: Vor allem die USA suchten in ihrer Reeducation- bzw. Reorientation-Politik durch gezielte staatliche Maßnahmen eine Demokratisierung der Deutschen nach westlichen Vorbildern voranzutreiben. Unter transfer- und wahrnehmungsgeschichtlichen Vorzeichen kommt daher den Akteuren und Trägergruppen des Demokratisierungsprozesses besondere Bedeutung zu, die die Adaption und Verinnerlichung demokratischer Werte und Verhaltensweisen in der Bevölkerung maßgeblich beförderten.

Ellen Latzin untersucht am Beispiel Bayerns im Zeitraum 1947-1955/60 den Ansatz der USA, ausgewählten Führungskräften und Fachleuten eine meist mehrmonatige Reise nach Amerika zu ermöglichen. Primäres Ziel war nicht die Vermittlung von Fachwissen, sondern die Besucher sollten, angeregt durch das Beispiel Amerikas, an die deutsche Situation angepasste demokratische Reformen in Gang bringen. Im Gegensatz zu den traditionellen akademischen Austauschprogrammen war dieser Ansatz speziell auf die deutsche Nachkriegssituation zugeschnitten und diente als politisches Instrument zur Demokratisierung und Westbindung. Dementsprechend wurden die Reiseteilnehmer durch die Austauschabteilung bei OMGUS bzw. HICOG ausgewählt3, während dem Vorschlagsrecht deutscher Stellen nur eine geringe Bedeutung zukam. Nach 1955/60 ging das Programm im allgemeinen „International Visitors Program“ der USA auf. Durch Latzins Arbeit geraten Funktionseliten in den Blick, die als Multiplikatoren, so die Hoffnung der Amerikaner, ihre Erfahrungen und Anregungen an eine möglichst breite Öffentlichkeit weitergeben sollten. Die Eingrenzung auf Bayern reduziert die Zahl der untersuchten Teilnehmer/innen von deutschlandweit ca. 14.000 auf rund 1.300 und ermöglicht so eine eindringlichere Berücksichtigung der breiten Palette von Themen und Problemen, zu denen sich die Besucher informieren konnten.

Unter der Frage „Lernen von Amerika?“ untersucht Latzin somit die Reichweite und die Auswirkungen eines wichtigen Teilbereichs der Reorientation-Politik, der, so ihre These, „langfristig einer der Schlüssel für den erfolgreichen Lernprozess“ war und „in eine demokratisch orientierte politische Kultur in Deutschland mündete“ (S. 14). Im Zentrum der Untersuchung stehen nicht normative Zielvorgaben seitens der USA oder die organisatorische Ebene des Besuchsprogramms, sondern erstmals Verlauf und Inhalte der Reisen sowie die Biografien und Erfahrungen der Teilnehmer.4 Die Verknüpfung von gruppenbiografischem und transfergeschichtlichem Zugang, der die Trägergruppen des (möglichen) Transfers in den Mittelpunkt stellt, soll der „Analyse der gesellschaftlichen Verbreitungsmechanismen sowie der strategischen Anwendung des erworbenen Wissens“ (S. 23) nach der Rückkehr der Amerikareisenden dienen. Sowohl das Konzept des Besuchsprogramms als auch der Zuschnitt der vorliegenden Studie zeigen, dass es nicht um „Austausch“ im Sinne wechselseitiger Impulse ging, sondern um einseitige Anregungen, die von den USA nach Deutschland wandern sollten. Wenn sich auch zeitgenössisch der Terminus „Visitors Program“ nicht gegen das etablierte „Exchange Program“ durchsetzen konnte, gäbe der Begriff „Besuchsprogramm“ im Titel der Studie das treffendere Signal.

Nach Sachthemen wie Medien, Politik, Bildungswesen etc. gegliedert, werden die Reisen der bayerischen Teilnehmer in 13 Blöcken vorgestellt. Mit großer Sorgfalt hat Latzin die Daten von 1.017 bayerischen Amerikafahrern/innen des Programms ermittelt, d.h. von ca. 78 Prozent dieser Gruppe. Der Blick in die Biogramme im Anhang zeigt, dass die Amerikaner/innen großes Gespür bewiesen, zeitgenössische und zukünftige Funktionseliten verschiedenster Berufsfelder – vom Politiker bis zum Journalisten, von Vertretern/innen der Lehrerausbildung oder des Justizwesens bis zum Städtebau – für eine USA-Reise auszuwählen. Mehrheitlich waren dies „hochrangige Vertreter der demokratischen Eliten verschiedener Berufsfelder“ (S. 133), doch neben bayerischen Ministerpräsidenten, Abgeordneten, Chefredakteuren und Hochschulprofessoren reisten auch Verwaltungsbeamte, Kindergärtnerinnen und Grenzpolizisten in die USA. Das von Latzin ermittelte Teilnehmerprofil zeigt, wie konsequent die Amerikaner ihr Ziel umsetzten, möglichst viele Lebensbereiche zu erfassen. Über ihre Erfahrungen berichteten die Teilnehmer/innen an die amerikanischen Organisatoren der Reisen, vielfach aber auch nach ihrer Rückkehr in Zeitungen und Vorträgen. Dies war ganz im Sinne der Amerikaner, die eine möglichst breite Streuung positiver Informationen über die USA und daraus folgende Anregungen zur Reform der deutschen Verhältnisse anstrebten. Die Kapitel zur Nachbetreuung der Amerikafahrer in einem eigens entwickelten Follow-Up-Programm und zur US-geförderten Netzwerkbildung zählen daher auch zu den interessantesten der Studie.

Die Vielzahl der vorgestellten Themenbereiche, Reiseverläufe und Beobachtungen gibt präzise Einblicke in das daraus entstehende Transferpotenzial. Viele der Amerikareisenden sahen ihre Vorurteile widerlegt (andere natürlich auch bestätigt) und waren im Vergleich zu Bayern und Deutschland mit fundamental verschiedenen Strukturen und Mentalitäten konfrontiert, die sie interessiert aufnahmen und mit den heimischen Verhältnissen in Beziehung setzten. Der Ansatz, die gesamte Bandbreite an Berufsgruppen und Reiseteilnehmern/innen aus Bayern zu behandeln, hat jedoch zur Folge, dass Tiefenbohrungen in Form von darüber hinausführenden Transferanalysen kaum geleistet werden können. Dies liegt auch in der äußerst heterogenen Quellenlage zu den einzelnen Reiseteilnehmern/innen und ihrer späteren Tätigkeit begründet. So endet der Blick häufig bei Statements der Amerikafahrer/innen, in denen sie unmittelbar nach der Rückkehr das Erlebte und Gesehene bewerteten. Die Frage nach der Langzeitwirkung des Programms, die Latzin bis in die 1980er-Jahre hinein ansetzt, wird selten weiterverfolgt: Zwar werden Vorträge und Publikationen benannt, die aus den USA-Reise entstanden – aber oft würde man gern Genaueres über die konkreten Transferprozesse, die Einpassung neuer Ansätze und Ideen in die bayerische Lebenswirklichkeit, die Widerstände oder Förderungen durch Mitarbeiter/innen, Vorgesetzte, Familienangehörige, Behörden oder Parteifreunde erfahren. In dieser Hinsicht bleibt die Arbeit teilweise hinter den selbstgesteckten Zielen zurück.

Anhand von Fallbeispielen kann Latzin aber überzeugend zeigen, wie aufschlussreich eine intensivere Transferanalyse sein kann; beispielsweise im Kapitel zum Thema Medien, in dem unter anderem die Reise des Journalisten Werner Friedmann vorgestellt wird. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er nicht nur etliche Artikel, die einer breiten Öffentlichkeit Eindrücke von „Amerika“ vermittelten, sondern führte auch die amerikanischen Features – zum Beispiel die „Seite Drei“ – in der „Süddeutschen Zeitung“ ein und gründete nach dem Muster amerikanischer Journalistenschulen das Werner-Friedmann-Institut (S. 209-213). Ein anderes Beispiel ist die Bayerische Bäuerinnenschule Hartschimmelhof, die nach amerikanischem Vorbild von der bayerischen Landesbäuerin Marie Baur und dem Landwirtschaftsexperten Heinz Haushofer gegründet wurde, die beide am Besuchsprogramm teilgenommen hatten (S. 271f.). Die Probleme, mit denen die Reiseteilnehmer/innen nach ihrer Rückkehr konfrontiert werden konnten, zeigt etwa der Fall einer hessischen CDU-Angehörigen, die als „westzonale Aktivistin im amerikanischen Sold“ (S. 285) beschimpft wurde.

Aufschlussreich wäre hier eine Kontextualisierung über den Rahmen der Reeducation- bzw. Reorientation-Politik der USA hinaus gewesen. Neben dem weit verbreiteten grundsätzlichen Misstrauen gegenüber jeglicher „Umerziehung“ wurden in der deutschen Bevölkerung auch im Zusammenhang mit dem Besuchs-programm immer wieder Befürchtungen und Vorwürfe laut, den USA gehe es um eine „Amerikanisierung“ der Deutschen bzw. die Amerikarückkehrer seien „amerikanisiert“. Was jedoch diese abwehrenden Stimmen gegen Ende der 1940er- und in den 1950er-Jahren unter „Amerikanisierung“ verstanden und wie sich die Semantik dieses Schlagwortes innerhalb des Untersuchungszeitraums verschob, erwähnt Latzin ebensowenig wie den Demokratisierungsdiskurs innerhalb der deutschen Bevölkerung.

Die Reorientation-Politik und das Besuchsprogramm haben die Westdeutschen natürlich nicht über Nacht in eine aktive und informierte demokratische Gesellschaft verwandelt. Das Programm trug aber zur Anregung von demokratischen Reformen sowie zur Westbindung der Bundesrepublik bei und prägte das bayerische Amerikabild der 1950er-Jahre, so Latzin im Fazit. Der Wissens- und Methodentransfer von den USA nach Bayern konnte in den verschiedenen Personen- und Berufsgruppen höchst unterschiedlichen Ertrag zeigen und ist kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, heißt es weiter. Mit ihrer Studie hat Latzin die Ausmaße dieses Transferpotenzials aufgezeigt und Trägergruppen identifiziert. Damit ist der Grundstein gelegt für weitere Untersuchungen, die anhand von Fallstudien den Einfluss der USA auf die Wandlungsprozesse der Bundesrepublik bestimmen können.

Anmerkungen:
1 Bauerkämper, Arnd; Jarausch, Konrad H.; Payk, Marcus M. (Hgg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2005.
2 Schildt, Axel; Sywottek, Arnold (Hgg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998; Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Herbert, Ulrich (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002; Jarausch, Konrad H., Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004.
3 OMGUS = Office of Military Government for Germany, U.S.; HICOG = High Commission(er) for Germany.
4 Bisher wurde das Besuchsprogramm für Fach- und Führungskräfte nur innerhalb breiterer Studien zur Reeducation-Politik der USA oder zum deutsch-amerikanischen Kulturaustausch untersucht, so neuerdings in: Füssl, Karl-Heinz, Deutsch-amerikanischer Kulturaustausch im 20. Jahrhundert. Bildung – Wissenschaft – Politik, Frankfurt am Main 2004.

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