B. Orland (Hrsg.): Artifizielle Körper - Lebendige Technik

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Titel
Artifizielle Körper - Lebendige Technik. Technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive


Herausgeber
Orland, Barbara
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 8
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Bergermann, Universität Paderborn

Dass nicht nur ‚die Technik’ eine Geschichte hat, sondern auch so etwas wie ‚der Körper’, ist nicht ganz neu, aber dieser Band bietet ein Spektrum ausdifferenzierter Forschungsarbeiten aus der komplexen Verschränkung beider. Barbara Orland, Technikhistorikerin am "Zentrum für die Geschichte des Wissens" der ETH Zürich, hat Autor/innen aus Geschichtswissenschaften, Soziologie, Wissenschaftsforschung und Science and Technology Studies rund um die Gesellschaft für Technikgeschichte versammelt, um "technische Modellierungen des Körpers in historischer Perspektive" aufzuarbeiten. Die Einleitung der Herausgeberin spannt dafür einen historiografischen und methodologischen Horizont auf. Dass Experimentalkulturen und Visualisierungstechniken seit dem 19. Jahrhundert das "Aussen und Innen" des Körpers umgestülpt haben, bietet eine Folie für heutige Bildproduktionen, aber auch auf die neue Verschränkung von "Technik und Leben" im 20. Jahrhundert, wo Organe und Gewebe im Genlabor selbst instrumentellen Charakter angenommen haben. Orland fokussiert die "disziplinäre Heterogenität" der beteiligten Wissensdiskurse und die "Schwierigkeiten" begrifflicher Präzisierungen, die doch gerade in ihrer Unschärfe produktiv sind. Wie es die Wissenschaftsgeschichte mit Normalisierung und Normalität zu tun bekommen hat, steht ebenfalls am Horizont der versammelten Arbeiten.

Anlässlich von Wortbildungen wie Medienkörper oder Bioengineering befragt Orland deren implizite Bipolarität. Dichotomes Denken sei ebenso unangemessen wie im Gegenzug die Feier von ‚Hybridität’. Daher arbeiteten die ausgewählten Beiträge kontextuell. Wie sich die chiastische Konstellation des Titels darin abbildet, ist jeweils im Einzelfall auszuloten. Orland interessiert sich vielmehr für Technologien im weiteren Sinne und fragt nach neuen Definitionen, wenn der Mensch sich neu zu sich selbst verhalten lernt: Körpertechnologische Möglichkeiten werden zu "Selbsttechnologien". Und so wirkt dieser Sammelband wie ein Wein oder ein Witz langsam, aber umso nachhaltiger: Ohne mit einer starken These aufzuwarten, die eine Neufassung von ‚Mensch und Technik’ postuliert, und ohne sich in vereinzelten Recherchen zu verlieren, lassen sich im Hin- und Herlesen zwischen den Texten unerwartete Anregungen finden.

Jakob Tanner plädiert für eine historische Anthropologie zur Betrachtung von "Leib-Arte-Fakten". Die "Verschiebung der Aufmerksamkeit von der körperlichen hardware zur kognitiv-imaginären software des Menschen (in Genen und Gehirn, U.B.) macht die Unterscheidung zwischen ‚artifiziellen Körpern’ und ‚lebendiger Technik’ nicht obsolet", argumentiert er, und wägt kulturwissenschaftliche und technologische Perspektiven ab: Die Natur-Kultur-Unterscheidung sei selbst eine kulturelle Leistung, aber eine Analyse müsse "sowohl die disparate Macht der Diskurse als auch die relative Eigenlogik der materiellen Veranstaltung, die wir ‚Technik’ nennen", berücksichtigen (S. 59).

Jessica Riskin untersucht den "Automatenbau des 18. Jahrhunderts und heute". In Simulationen avant la lettre habe die "experimentelle Verwendung von Maschinenmodellen zur Entschlüsselung spezifischer Vorgänge in der Natur" ihren Ursprung (S. 66). Auch wer bereits einiges über La Mettrie, Vaucanson oder Jacquet-Droz gelesen hat, findet hier noch ungewöhnliche Details sowie die Kontextualisierung mit Homöostase oder Kybernetik. Riskins These der Abfolge von "Perioden der Analogie" (im 17. und 19.) und der Simulation (im 18. und 20. Jahrhundert) mag zu polarisierend angelegt sein, bietet aber ein anregendes Gerüst zur Historisierung gegenwärtiger Körperbilder/techniken. Adelheid Voskuhls Beitrag zu "Musikandroiden im späten 18. Jahrhundert" rekonstruiert Begriffe der "Bewegung" und der "Rührung" als Schnittstellen zwischen neuer mechanischer Bewegtheit und kulturellen Diskursen der "Empfindsamkeit".

Christina Benninghaus diskutiert "Debatten über ‚künstliche Befruchtung’ um 1910". Dass der Samen des Ehemanns mittels einer Spritze in die Scheide oder Gebärmutter der Frau injiziert wird, erscheint zurzeit von In-vitro-Fertilisation und Klonen vergleichsweise untechnisch. Biologische, juristische und publizistische Dokumente illustrieren, dass diese Praxis als hochgradig artifiziell angesehen wurde. Am Kreuzungspunkt von Sexualität und Reproduktion, vor dem Hintergrund eugenischer Diskurse, Hygieneausstellungen, modernen Weiblichkeitsbildern und Weltkriegs-/Bevölkerungspolitik zeigt sich hier, welch umfassende Auswirkungen ein technologisches Denken auch ohne massive Apparaturen haben kann.

Silke Bellanger und Aline Steinbrechers Forschungsarbeit zur "Hirntoddiagnostik in der Schweiz 1960-2000" erweist sich als exemplarische Analyse für komplexe Verhältnisse von Technik und Leben und ihrer historischen Wandelbarkeit. Bevor man Organe verpflanzen konnte, gab es keinen "Hirntod" mit seiner maschinenbestimmten Grenzziehung. "Durch die Koppelung mit der Beatmungsmaschine wurde der Körper der Patienten nun jedoch zu einem Körper, der zwischen natürlichem und artifiziellem Leben stand." (S. 132) Technisch erzeugte Bilder werden kontextuell bedeutend, etwa die Nulllinie des EEG zu einem kulturell akzeptierten Symbol des Todes.

Heather R. Perry zeigt im "Recycling der Kriegskrüppel im Ersten Weltkrieg", wie die Kriegsfürsorge versehrter Soldaten zu teuer wurde und ihre Arbeitskraft wieder für Volksgemeinschaft und Arbeitsmarkt hergestellt werden sollte. Prothesenkunde und Rehabilitationstechnik gingen einher mit gesellschaftlicher Reorganisation und wirtschaftlicher Mobilmachung.

Cornelius Borck beschäftigt sich mit der Sinnesprothesenforschung am Beispiel von ‚künstlichen Augen’ zwischen Retina und neuronaler Reizverarbeitung. Detailliert seitens der Technikgeschichte wie aufmerksam gegenüber medialen Menschenbildern (von Raumschiff Enterprise bis zur Gesellschaft für Klinischen Neurophysiologie) diskutiert Borck Prothesen quer durch die Diskurse als Mimikry an biologische Optionen einerseits oder technische Überwindung der biologischen Grenzen andererseits. Mit Kapp, McLuhan und der Rekonstruktion deutscher Forschungen während des Zweiten Weltkriegs (aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv) werden Modelle von Ganzheitlichkeit und der Virtualisierung der Mensch-Maschine-Grenze kenntlich, und der Schlussblick auf dadaistische Visionen unterstreicht, dass sich auch Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft nicht immer sinnvoll aufrechthalten lassen.

Shelly McKellar rekonstruiert die medizintechnische und publizistische Geschichte des "künstlichen Herzens" in den USA, die Ende der 1980er-Jahre die entsprechenden Forschungsprogramme beendet hatte ("Dracula der Medizintechnik", New York Times). Gegen eine der häufigsten Todesursachen in den Industriegesellschaften eingesetzt, versprachen künstliche Herzen Lebensverlängerung; beständige Komplikationen warfen jedoch Debatten um die Lebensqualität der Patienten auf.

Markus Christen verfolgt die heikle Entwicklung der Prothetik in Richtung Gehirn bei Hörimplantaten. Mit der Erforschung elektrischer Stimulation des Hörnervs seit dem 19. Jahrhundert setzte eine Auseinandersetzung darüber ein, ob ‚exakte Information’ oder andere Modi des Verstehens ausschlaggebend seien, bis die "lebensweltlichen Informationen" der Patienten und vor allem die Kritik der Gehörlosengemeinschaft am CI (Cochlear Implantat) seit den 1960er-Jahren wichtig wurden.

Die drei letzten Beiträge fügen mit smart wearables, Schönheitschirurgie und Wellnesstechnologien Entwicklungen seit den 1980er-Jahren an, die die Debatte um Erweiterung, Verbesserung oder Veränderung des Menschen fortsetzen. Carmen Baumeler zeichnet die computerisierte Kleidung vor dem Hintergrund des "Electronic Soldier" nach. Die Schönheitschirurgie (Sabine Maasen) zeigt, wie wir in einer Verschränkung von Ästhetik und protestantischer Arbeitsethik an unserer Erscheinung und umfassender der "Gouvernementalisierung der Schönheit" arbeiten. Wellness wird von Stefanie Duttweiler in ihrem Anspruch der emotionalen und physischen Optimierung ebenfalls als modernes Selbstmanagement beschrieben. Insgesamt sind "Techniken" oder Technikgeschichte im engeren Sinne in diesen Beiträgen wenig präsent, was einen Anlass bietet, noch einmal über den Status des Begriffs "Technologien" zwischen sozialen und technischen Funktionsweisen nachzudenken.

Wer also der Körperdebatten und Cyborggeschichten müde ist, kann hier feststellen, dass es noch lange nicht vorbei ist, wenn eine technisch wie theoretisch informierte, historisch gründliche, gelegentlich gendersensibilisierte Zusammenstellung die Dinge auf den neusten Stand bringt. Dank der Einleitung ist der Band als Einführung in das Feld geeignet, liest sich aber auch für Fortgeschrittene informativ und lässt Weiterdenken: Dass etwa "Medien" einflussreich für und zwischen Konzepten, Experimenten, Techniken stehen, scheint klar, aber inwiefern sind sie "konstitutiv"? Wie positioniert sich das Feld zu "Wissen" und Epistemologie? Wo können historische Funde die eigenen theoretischen Vorannahmen verschieben?
Der Band hat dualistische Konzepte in weiten Teilen verlassen. Ob "Kontextualisierungen" geeignet sind, das mächtige alte Paradigma des Gegensatzpaares wirkungsvoll zu beerben und neu zu modellieren, ob der nächste Band ein Kompositum wie "Schaltgewebe" im Titel führen wird oder etwas fast unkenntlich Neues, das nicht mehr aus zweien oder vieren zusammengesetzt ist, wird spannend zu beobachten sein.

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