Cover
Titel
Justizpolitik im SED-Staat. Anpassung und Wandel des Strafrechts während der Amtszeit Honeckers


Autor(en)
Raschka, Johannes
Reihe
Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 13
Erschienen
Köln 2000: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
DM 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hermann Wentker

Recht und Justiz der DDR, die schon in der Zeit der Zweistaatlichkeit vom Westen aus sorgfältig beobachtet wurden, sind auch nach der Vereinigung von 1990 zentrale Arbeitsgebiete der DDR-Forschung. Aufgrund der herrschaftssichernden Funktion des Rechts in der SED-Diktatur steht dabei vor allem der Zusammenhang von Justiz und Politik im Mittelpunkt des Interesses. Dabei galt die Hauptaufmerksamkeit bisher vor allem den Jahren des Umbruchs nach 1945 und der Errichtung des neuen Justizsystems, während die Zeit zwischen 1961 und 1989 trotz einzelner Veröffentlichungen, etwa zum Prozeß gegen Robert Havemann oder zum Einfluß des MfS auf die Justiz, weniger beachtet wurden. Johannes Raschka leistet einen wesentlichen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke mit dem vorliegenden Werk zur Justizpolitik in der Ära Honecker.

Der vorherrschende Eindruck, daß Honeckers Amtszeit zwar von einem umfassenden Ausbau des MfS, gleichzeitig aber von einem kontinuierlichen Abbau der Repression durch die Justiz geprägt war, wird durch Raschkas Studie, die auf einer umfassenden Auswertung der einschlägigen Bestände des Bundesarchivs, der Bestände der SED und des BStU beruhen, gründlich revidiert. Denn am Anfang der siebziger Jahre stand nicht nur eine weitgehende Amnestie, sondern auch ein härterer justizpolitischer Kurs, mit dem sich Honecker von der Praxis der vorangegangenen Jahre verabschiedete und der wachsenden Kriminalität begegnen wollte.

Mit der härteren Verfolgungspraxis und den Strafverschärfungen des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes (StÄG) von 1974 verfolgte die DDR-Führung vor allem das Ziel, bestimmte Straftaten binnen kurzem zu reduzieren und zu eliminieren. "Rechtssicherheit" sollte hergestellt werden, um auf diese Weise die Bürger vor Kriminalität zu schützen und zu deren Identifizierung mit der DDR beizutragen. Eine weitere Verschärfung des Strafrechts brachte das 2. StÄG von 1977, mit dem die DDR auf die Folgen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 reagierte. Einerseits wurden damit ohnehin obsolete Gesetze des politischen Strafrechts aus der Ära Ulbricht aufgehoben; andererseits schuf es verbesserte Möglichkeiten zur Bekämpfung des infolge der KSZE gestiegenen Ausreisedrangs.

Die Novellierung der entsprechenden Paragraphen des Strafgesetzbuches wirkte sich erkennbar auf die Urteilspraxis der Gerichte aus. Das 3. StÄG von 1979 schließlich sollte "die Strafrechtsprechung in die Lage versetzen, Ordnung und Disziplin auch im Krisenfall aufrecht zu erhalten" (S.179). Angesichts der sowjetischen Wahrnehmung der inneren und äußeren Lage schien es erforderlich, auch die Justiz auf diese Weise für den "Ernstfall" zu rüsten; in Friedenszeiten sollte das StÄG hingegen nicht strafverschärfend, sondern lediglich abschreckend wirken.

Dem bisherigen Kurs folgend, sollte in einer vierten Strafrechtsnovelle zu Beginn der achtziger Jahre das Wirtschaftsstrafrecht verschärft werden. Die SED-Spitze ließ die Arbeiten am 4. StÄG jedoch unvollendet und verabschiedete sich von der primär auf Repression und Abschreckung ausgerichteten Justizpolitik. Die Ursache dafür lag, wie Raschka überzeugend nachweist, nicht in der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte durch die DDR, sondern in der wirtschaftlichen Schwäche der Sowjetunion, die 1981 ihrem ostdeutschen Verbündeten ankündigte, ihre jährlichen Erdöllieferungen drastisch zu reduzieren. Die DDR sah sich dadurch in wachsende wirtschaftliche Abhängigkeit von der Bundesrepublik gedrängt. Mit dem Steigen ihrer Westverschuldung fand sich die DDR zu immer offeneren Zugeständnissen im humanitären Bereich bereit; ja, sie versuchte sogar mit Hilfe der "Ausreisewelle" von 1984 die Ausreiseproblematik zu lösen.

Die Justiz verlor unter diesen Bedingungen ihre abschreckende Wirkung und war immer weniger in der Lage, Flucht und Ausreise zu verhindern. Trotz dieses zunehmenden inneren Drucks blieb die DDR 1987 bei ihrer Politik der Lockerung der Repression und erließ eine große Amnestie, schaffte mit dem 4. StÄG die Todesstrafe ab und errichtete am Obersten Gericht eine zweite Kammer, die als Berufungsinstanz gegen erstinstanzliche Urteile des Obersten Gerichts dienen sollte. Diese Maßnahmen sind im Zusammenhang mit Honeckers Besuch in der Bundesrepublik zu sehen: Es handelte sich um Gastgeschenke, mit denen dieser 1987 "seine Gastgeber in Bonn zu beeindrucken suchte" (S.253). Der Straferlaß führte indes zu einem deutlichen Anstieg der Kriminalität und rief ökonomische und soziale Verwerfungen hervor, die Honecker, anders als zu Beginn seiner Amtszeit, ignorierte.

Auch die Änderungen des Rechtswesens aus dem Jahre 1988 - die Proklamation des "sozialistischen Rechtsstaats", das vor allem zur Reform des Wirtschaftsstrafrechts verabschiedete 5. StÄG und die Einführung einer stark eingeschränkten Verwaltungsgerichtsbarkeit infolge der Wiener KSZE-Konferenz - konnten dem Regime nicht mehr zu der erwünschten Legitimität und Stabilität verhelfen.

Raschkas Studie ist nicht nur deshalb von besonderem Wert, weil sie die Hintergründe der einzelnen justizpolitischen Schritte gründlich ausleuchtet und einen hervorragenden Einblick in die Entscheidungsprozesse verschafft. Sie verweist darüber hinaus auf drei weitere grundlegende Aspekte der DDR-Geschichte der siebziger und achtziger Jahre. Sie belegt, erstens, den außergewöhnlich großen Einfluß Honeckers in der Rechtspolitik, der seit 1976 das Politbüro sowie Teile des Justizapparats aus den Entscheidungsprozessen verdrängte und sich danach ausschließlich auf ihm ergebene Personen stützte. Ähnliches ist bereits für die Gebiete der Außen- und Sozialpolitik konstatiert worden, so daß mit einem gewissen Recht das Herrschaftssystem dieser Jahre als "Generalsekretär-System" (S.299) bezeichnet werden kann. Zweitens wird an verschiedenen Stellen deutlich, daß die Sowjetunion zwar noch einen gewissen Einfluß auf die Justizpolitik der DDR ausübte, der Generalsekretär jedoch hier - anders als etwa im Vorfeld des geplanten Bonn-Besuchs 1984 - keine direkten Eingriffe befürchten mußte.

So war einerseits die sogenannte "Asozialengesetzgebung" und die verstärkte strafrechtliche Verfolgung der "Asozialen" ohne das Muster der sowjetischen "Parasitengesetze" undenkbar; auch das 3. StÄG von 1979, das zu einer "Militarisierung" des Strafrechts führte, wurde aufgrund der damaligen sowjetischen Bedrohungsperzeption (die die SED teilte) verabschiedet. Andererseits griff die Sowjetunion in die Formulierung der Justizgesetze offensichtlich nicht ein und zog sich, insbesondere nach 1981, aus der DDR-Innenpolitik völlig zurück. Insofern ist Raschkas Aussage, derzufolge Honeckers Autorität "ihre Grenzen im sowjetischen Einfluß in der DDR" fand (S.299), zwar richtig; sie berücksichtigt jedoch nicht, daß die Sowjetunion damals auf direkte Einflußnahmen auf die Rechtspolitik der DDR verzichtete. Drittens schließlich verweist die Studie auf den engen Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik in der Ära Honecker. Die seit Anfang der siebziger Jahre forcierten Versuche, Legitimität und Stabilität des Regimes durch soziale Wohltaten zu sichern, überforderten binnen kurzem die Ressourcen der DDR und ihres sowjetischen Protektors.

Da Honecker aus innenpolitischen Gründen an diesem Kurs festhielt, begab er sich jedoch mehr und mehr in ökonomische Abhängigkeit vom Westen. Diese "außenpolitischen Veränderungen zu Beginn der achtziger Jahre hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Innen- und Rechtspolitik der DDR" (S.305). Unter den neuen Bedingungen verlor das politische Strafrecht seine herrschaftssichernde Funktion und wurde zunehmend ungeeignet, den Verfall des SED-Staats aufzuhalten.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension