A. Roginskij u.a. (Hrsg.): "Erschossen in Moskau ..."

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Titel
"Erschossen in Moskau ...". Die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje 1950-1953


Herausgeber
Roginskij, Arsenij; Rudolph, Jörg; Drauschke, Frank; Kaminsky, Anne
Erschienen
Berlin 2005: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Kaiser, Senatskommission Universitätsgeschichte, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die Verbrechen und die Opfer des Stalinismus waren schon häufig Thema publizistischer Agitation. An das „Schwarzbuch des Kommunismus“ soll an dieser Stelle ebenso nur erinnert werden wie an die unselige Diskussion um die Einmaligkeit und Vergleichbarkeit von Diktaturen. Von Anfang an war es erstaunlich, wenn mit konkreten Opferzahlen operiert wurde. Denn woher stammt dieses Wissen? Notwendig sind Informationen in zweierlei Hinsicht: zum einen für die Diskussion um den Charakter der Diktaturen, zum anderen aber auch, um einen würdigen und angemessenen Umgang mit den individuellen Opfern zu ermöglichen.

Es hat sich deshalb auch in der Zeitgeschichte das Genre der Totenbücher herausgebildet. So erschien etwa für das Lager Buchenwald vor Jahren eine Dokumentation, die erstmals die Opfer des Sowjetischen Speziallagers Nr. 2 namentlich benannte. Diese sei, wie es der Direktor der Gedenkstätte Volkhard Knigge ausdrückte, „in erster Linie den Angehörigen gewidmet, die nur zu häufig Jahrzehnte auf konkrete Auskunft warten mussten.“1 Denn in der Tat wurde das Schicksal der Opfer des Stalinismus bis zum Untergang der DDR und der Sowjetunion verschwiegen.

Das gilt auch für die deutschen Opfer des Stalinismus auf dem Moskauer Friedhof Donskoje. Dort wurden Opfer der Sowjetischen Militärtribunale verbrannt und ihre Asche in anonymen Massengräbern verscharrt. Obwohl die DDR als Staat bereits existierte, wurden die Betroffenen auf dem Gebiet der DDR nach sowjetischem Recht von der Sowjetischen Militärjustiz verurteilt. Die russische Menschenrechtsorganisation „Memorial“ und das private Berliner Historische Institut „Facts & Files“ haben hierzu ein gemeinsames Forschungsprojekt ins Leben gerufen. Mit der Unterstützung der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ ist es ihnen gelungen, bisher unbekannte und verschlossene Akten in russischen und deutschen Archiven einzusehen und auszuwerten. Zwischen 1950 und 1953 verhafteten die Geheimdienste rund 1000 Deutsche, vor allem politisch Andersdenkende, darunter auch Schüler, Studenten oder Hausfrauen. Vorgeworfen wurde ihnen Spionage, Bandenbildung, Vaterlandsverrat oder sogar Vorbereitung zum bewaffneten Aufstand.

Andreas Hilger, der beste Kenner des Systems der Sowjetischen Militärtribunale, erklärt zusammen mit Nikita Petrus in einem einleitenden Beitrag zunächst das Phänomen. Über 1000 Todesurteile der Sowjetischen Militärtribunale gegen Deutsche sind bekannt. Eine Systematik ist nicht zu erkennen. Die beiden Autoren stellen fest: „Die Praxis der Urteilsfindung und -vollstreckung weist in allen Fällen auf systemimmanente Gewalt und Terrorelemente des Stalinismus hin“ (S. 30).

Die letzten Dokumente der 1950 bis 1953 in Moskau Erschossenen werden von Arsenij Roginskij ausgewertet. Dieser Beitrag basiert auf bisher unzugänglichen russischen Akten und bietet durchweg neue Informationen. Sehr detailliert kann die Bürokratie und Verwaltung der Vernichtung als eine erschreckend gut funktionierende Maschinerie nachvollzogen werden. Dennoch bleiben viele Fragen unbeantwortet. Das zeigen etwa die Akten der Gnadengesuche, ohne Zweifel eine besondere Quelle. Deren Bewilligung oder Ablehnung erscheint nach wie vor unsystematisch und willkürlich.

Viele Angehörige wussten über das Verbleiben der Vermissten nichts. Erst durch die Recherche zu diesem Buch erhielten sie Gewissheit. Diesen quälenden Prozess dokumentiert Jörg Rudolph in einem eigenen Beitrag. Er erzählt die Geschichte des Aufdeckens und Aufklärens bis hin zur Errichtung würdiger Mahnmale auf dem Friedhof Donskoje.

Es fanden sich bis jetzt Belege für 923 Personen, die aus Deutschland verschleppt und deren Todesurteil in Moskau vollstreckt wurde. Vier Personen starben schon vor ihrem Hinrichtungstermin an den unmenschlichen Haftbedingungen. Den Kern des Buches machen Kurzbiografien dieser Opfer aus. Sie werden mit Namen, Berufszugehörigkeit, Geburtsdatum und Geburtsort sowie dem Hinrichtungsdatum vorgestellt. Zu jeder Person wird zudem ein kurzer Lebenslauf geliefert, der insbesondere die Umstände der Haft benennt. Hierzu mussten die sich teilweise widersprechenden und von den Geheimdiensten verfälschten Angaben geprüft werden. Zudem wird, wo immer es möglich war, ein Foto des Getöteten präsentiert. Den verscharrten und anonymisierten Opfern wird – im wahrsten Sinne des Wortes – wieder ein Gesicht gegeben, ihre Schicksale werden nachvollziehbar. Die Leistung der enormen Recherchearbeit kann nicht genug unterstrichen werden. Sie ist ebenso hervorzuheben wie die angemessene und würdige Darstellung und Dokumentation. Erst jetzt können die Familien der Opfer wirklich Abschied nehmen von ihren Angehörigen.

Insgesamt bestätigen Recherchen, dass es sich bei den Maßnahmen der Stalinzeit um unsystematische Terrormaßnahmen gehandelt hat, die jeden treffen konnten – insbesondere auch die bisherigen Mitstreiter. Unberechenbarkeit, ständige Angst und eine permanente Präsenz der Gewalt machen den Kern der Maßnahmen aus, die der Einschüchterung dienten, der Stabilisierung einer auf Gewalt aufgebauten Herrschaft.

Die Opfer sollten nicht einer publizistischen Aufrechnung von Opferzahlen oder zu einer politischen Instrumentalisierung dienen. Dieser Versuchung erliegt die Publikation nicht. Sie liefert konkrete Informationen und ist somit – wie die gleichzeitig erstellte Ausstellung auch – zu allererst ein würdiges Mahnmal für die Opfer und ein Musterbeispiel des Genres der zeitgeschichtlichen „Totenbücher“ geworden.

Anmerkungen:

1 Volkhard Knigge: Vorwort, in: ders./Bodo Ritscher: Totenbuch Speziallager Buchenwald 1945 bis 1950, Weimar 2003, S. 8.

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