Titel
Aus der Geschichte lernen. Über die Rolle der Erziehung in der bundesdeutschen Erinnerungskultur


Autor(en)
Meseth, Wolfgang
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian P. Gudehus, Center for Interdisciplinary Memory Research, Kulturwissenschaftliches Institut Essen

In seiner Dissertation will Wolfgang Meseth die Bedeutung des Erziehungsparadigmas in der Ver- und Bearbeitung von Nationalsozialismus und Holocaust bestimmen. Der Hauptgegenstand ist dementsprechend nicht die tatsächliche pädagogische Arbeit, etwa in Schulen oder Gedenkstätten. Diese Arbeit wurde und wird von einer Gruppe Frankfurter Erziehungswissenschaftler/innen, der Meseth angehört, schon seit einigen Jahren in beispielhaften qualitativen Studien untersucht.1 In der neuen Studie geht es ihm „um die Frage, wie sich der deutsche Nationalstaat nach 1945 über die Geschichte des Nationalsozialismus seiner Einheit vergewissert hat und vergewissert und welche Rolle Erinnerung darin spielt“ (S. 21). Meseth betrachtet Erziehung hier als Modus der Thematisierung einer negativen Vergangenheit – eine Perspektive, die auch für Kultur- und Geschichtswissenschaftler/innen interessant ist.

Auf dem Weg zu seiner zentralen These verbindet Meseth zunächst zwei Erklärungsstränge. Geschichte, vor allem Nationalgeschichte, war und ist nach Meseth ein Medium gesellschaftlicher Selbstvergewisserung (S. 44). Ein weiteres Medium ist Erziehung, mithin Pädagogik. Zusammengenommen wird daraus das Lernen aus der Geschichte, das – und hier beginnt der zweite Strang und die eigentlich originelle Einsicht Meseths – eine positive, eindeutige, sinnstiftende und Orientierung bereithaltende Möglichkeit der Thematisierung selbst von Völkermorden ermöglicht. Bezogen auf den deutschen Fall schreibt Meseth: „Erst durch seine Pädagogisierung gewinnt der Holocaust eine anschlussfähige Form für das Selbstvergewisserungsbemühen der Bundesrepublik. Eine Form, in der die historischen Ereignisse sinnstiftend umgedeutet und zu einem Lerngegenstand für folgende Generationen geworden sind, der weniger die Aporien der Moderne als vielmehr eine moralische Botschaft lehrt, die es erlauben soll, in uneindeutigen Zeiten eindeutige Entscheidungen zwischen Gut und Böse treffen zu können.“ (S. 158) Damit ist zugleich ein Problem angesprochen. Die ‚Aporien der Moderne’ oder die ‚Dialektik der Aufklärung’ werden im Modus einer sinnstiftenden Pädagogik invisibilisiert, unsichtbar gemacht. Die Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass es gerade die Äußerungen Adornos zu einer ‚Erziehung nach Auschwitz’ waren, die als zentraler Bezugspunkt einer schließlich weitgehend undialektisch daherkommenden Pädagogik dienten. Ausführlich entfaltet Meseth den vermeintlichen Widerspruch, dass Adorno einerseits überaus pessimistisch argumentierte, andererseits jedoch zumindest den Rahmen einer ihrer Natur nach immer optimistischen Erziehung entwarf. Er argumentiert, die diesbezüglichen Radiobeiträge Adornos seien „dialektisch zu begreifen […]: als Versuch aktiv einzugreifen, sowie als Ausdruck tiefster Resignation“ (S. 153).

Wichtiger als die etwas lang geratene Diskussion der Intentionen Adornos ist Meseths Rezeptionsanalyse der verhältnismäßig eingängigen Radiobeiträge Adornos. Nicht von ungefähr sind es ja wenige, genau genommen drei, Texte aus Adornos nicht eben kleinem Werk, die in Debatten um das ‚Lernen aus der Geschichte’ regelmäßig zitiert werden. Grund für ihre Popularität ist ihre Eignung im Diskurs, um den ‚richtigen’ Umgang mit der Vergangenheit zu bestehen. Meseth schreibt: „Gerade die Evidenz seines Imperativs, wenigstens dem Schlimmsten, nämlich einer Wiederholung von Auschwitz, entgegenzuarbeiten, ermöglichte es, Adorno auch ohne seine vertrackte Dialektik zu lesen und ihn praktisch zu wenden.“ (S. 79) Die solchermaßen vereindeutigten Bruchstücke aus Adornos Denken fügen sich in einen mitunter geradezu erlösenden Diskurs, der die Thematisierung der NS-Vergangenheit nicht nur ermöglicht, sondern gleichsam zum Paradigma hat werden lassen.

Neben der Möglichkeit der positiven Bezugnahme hat die Pädagogisierung der Geschichte einen weiteren funktionalen Vorteil. Meseth identifiziert drei „Wächter“, die jegliche Form des argumentativen Rückgriffs auf Nationalsozialismus und Holocaust regulieren. Es seien dies erstens die Rede von der Undarstellbarkeit des Geschehens, zweitens die Singularitätsthese sowie drittens der Instrumentalisierungsvorwurf (S. 122, 222). Genau diese Beschränkungen würden für die Pädagogik jedoch nicht gelten: „Erziehung sieht sich im Lichte der ihr zugeschriebenen Bedeutung für die moralische Integration der Gesellschaft allen Anforderungen an einen angemessenen Umgang mit der NS-Geschichte enthoben. […] Erziehung darf vereindeutigen, darf auch und gerade den Holocaust darstellen, darf ihn instrumentalisieren, wenn es dem Ziel der Zivilisierung nachfolgender Generationen dient.“ (S. 174) Damit ist keinesfalls gesagt, dass etwa Instrumentalisierung oder Fragen der Darstellung nicht Thema und Problem von Pädagogik wären. So erweisen sich gerade Schulen oder Gedenkstätten als Orte, an denen vorgeführt wird, wie die Vergangenheit zu thematisieren ist – vor allem nämlich als eine, aus der zu lernen sei. Das geschieht keinesfalls bruch- oder widerspruchslos oder gar überall gleich.2 Die Vorstellung jedoch, aus der Geschichte lasse sich insbesondere individuell lernen, sofern nur die richtigen didaktischen Maßnahmen ergriffen würden, ermöglicht nicht nur ein von diesen Regulationsmechanismen weit weniger bestimmtes Handeln. Vielmehr werden etwa Vergleiche, die jenseits des Erziehungssystems skandalisiert würden, unter dem Stichwort ‚Herstellen von Gegenwartsbezügen’ geradezu gefordert.

Mit der Zusammenfassung ihrer Kernthese sind lange nicht alle Aspekte der sehr gelungenen Studie angesprochen; daher will ich einige Weitere zumindest kurz erwähnen. Ihren theoretischen Rahmen bildet die mir offen gestanden suspekte Systemtheorie. Meseth liefert eine leicht verständliche Einführung in die für ihre Zugänglichkeit nicht gerade berühmte Gedankenwelt Luhmanns. Weiter gelingt es ihm, seine Beobachtungen und Thesen durchgehend daran zurückzubinden – was in Dissertationen nicht die Regel ist. Allerdings wären die Argumente ohne diesen Bezugsrahmen kaum weniger überzeugend. Der Hang zur theoretischen Überfrachtung scheint mir den Notwendigkeiten geschuldet zu sein, die eine Qualifikationsarbeit mit sich bringt. Gelungen und informativ ist auf jeden Fall die historische Herleitung eines Lernens aus Geschichte im Hinblick auf Nationalsozialismus und Holocaust. Beginnend mit der auf Einschätzungen amerikanischer, nicht selten deutschstämmiger, Wissenschaftler/innen beruhenden Reeducation über die schließlich scheiternden Versuche einer Wiederbelebung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bis hin zur Kritischen Theorie zeichnet Meseth diesen Verlauf überzeugend nach.

Aus der zentralen Erkenntnis der Studie – Erziehung als positiver Thematisierungsmodus der mörderischen Vergangenheit – erklärt sich auch der anhaltende Boom einer inzwischen zur Holocaust Education mutierten ‚Erziehung nach Auschwitz’: Pädagogik im Sinne des ‚Nie Wieder’ wird propagiert und gefördert, nicht etwa weil sie tatsächlich in diesem Sinne erfolgreich wäre oder auch nur sein könnte, sondern weil sie als Thematisierungsweise funktional war und ob ihrer Anpassungsfähigkeit auch bleiben wird.

Wolfgang Meseths Buch wird sich vermutlich bald häufig in den Fußnoten gerade auch kultur- und geschichtswissenschaftlicher Arbeiten finden. Die Rezeption seitens der durch das Buch besonders herausgeforderten Pädagogen in Schulen und nicht zuletzt in Gedenkstätten, sofern sie denn überhaupt stattfindet, darf mit Spannung erwartet werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hollstein, Oliver; Meseth, Wolfgang; Müller-Mahnkopp, Christine; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf, Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation. Bericht zu einer Pilotstudie, Frankfurt am Main 2002, online unter <http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/personen/radtke/Publikationen/Forschungsbericht_3_Nationalsozialismus_im_Geschichtsunterricht.pdf>; Meseth, Wolfgang; Proske, Matthias; Radtke, Frank-Olaf (Hgg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main 2004 (rezensiert von Zeno Ackermann: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-222>). Informationen zur laufenden Studie in Gedenkstätten finden sich unter <http://www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/forschung/paradoxien.html>.
2 Neben den obenstehenden Arbeiten vgl.: Gudehus, Christian, Dem Gedächtnis zuhören. Erzählungen über NS-Verbrechen und ihre Repräsentation in deutschen Gedenkstätten, Essen 2006 (rezensiert von Bert Pampel: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-096>).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension