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Titel
Das feldgraue Erbe. Die Wehrmachteinflüsse im Militär der SBZ/DDR


Autor(en)
Niemetz, Daniel
Erschienen
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
29,90 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Th. Müller, Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt, Hamburger Institut für Sozialforschung

In ihrem offiziellen Selbstbild hatten die Nationale Volksarmee der DDR und ihre Vorläuferorganisationen mit den „Armeen herrschender Ausbeuterklassen der deutschen Geschichte“ und insbesondere der „faschistischen Wehrmacht“ nichts gemein.1 Dieser Anspruch stand jedoch in deutlichem Kontrast zur öffentlichen Präsentation der Streitkräfte des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“, deren Zeremoniell offensichtlich an die aus der preußisch-deutschen Tradition bekannten Formen anknüpfte und die sich seit Gründung der NVA in einer Uniform zeigten, die jener der deutschen Wehrmacht fast zum Verwechseln ähnlich sah. Vor allem Letzteres ist für in- und ausländische Beobachter „bis zum heutigen Tage sichtbarster Beweis für eine vermeintliche Kontinuität von NS-Wehrmacht und DDR-Volksarmee, aber auch von Drittem Reich und SED-Staat“ (S. 1f.).

Folgerichtig bildete sie während des Kalten Krieges und darüber hinaus unter dem Motto „Aus Braun mach Rot“ 2 auch einen Ansatzpunkt für die propagandistisch-ideologische Auseinandersetzung mit dem SED-Regime, in dem sich traditioneller Militarismus mit kommunistischer Doktrin zu einer unheilvollen Mischung zusammengefunden hätten. Wie Daniel Niemetz einleitend hervorhebt, hatte dies unter anderem zur Folge, „dass sich bis heute Gerüchte und Phantasien über die Wehrmachteinflüsse im DDR-Militär halten konnten, die mit den tatsächlichen Realitäten oft wenig zu tun haben“ (S. 2). Das ist Grund genug, Art und Ausmaß des Wehrmachteinflusses auf die Entwicklung der DDR-Streitkräfte sowie den Umgang von SED und sowjetischer Führungsmacht mit diesem zwar ungeliebten, aber offenbar zunächst unverzichtbaren Erbe in einer eigenständigen Studie systematisch zu untersuchen. Das nun vorliegende Buch von Daniel Niemetz beruht auf dessen Leipziger Dissertation aus dem Jahr 2005.

Im Zentrum seiner, in vier chronologisch angeordnete Kapitel gegliederten Arbeit steht die Rolle vor allem ehemaliger Offiziere, aber auch der in hohe und höchste militärische Positionen gelangten Unteroffiziere und Mannschaften der deutschen Wehrmacht beim Aufbau der DDR-Streitkräfte sowie ihr, über die eigene Dienstzeit hinauswirkender, Einfluss auf die inneren Verhältnisse der NVA. Außerdem schildert Niemetz anschaulich die Debatten um Uniformierung, operativ-taktische Doktrin und die Gestaltung des Innendienstes im Spannungsfeld von deutscher Tradition und sowjetischem Vorbild. Ein gelungener Exkurs widmet sich außerdem der Rolle der „Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Offiziere“ (AeO), mit der ehemalige Wehrmachtoffiziere für die nationale Propaganda der SED in Westdeutschland – allerdings mit sehr begrenztem Erfolg – instrumentalisiert wurden. Als Quellengrundlage dienen dabei in erster Linie die Archivalien des Bundesarchiv-Militärarchivs, 16 Interviews mit zum Teil hochrangigen Zeitzeugen sowie die von Niemetz besonders akribisch ausgewerteten „Operativen Vorgänge“ und Ermittlungsakten des Ministeriums für Staatssicherheit zu nicht weniger als 335 ehemaligen Wehrmachtoffizieren.

Die zwischen kaderpolitischem Dogmatismus und pragmatischer Indienstnahme militärfachlicher Kompetenz schwankende Politik der SED gegenüber den ehemaligen Wehrmachtoffizieren stand maßgeblich unter dem Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht. Ähnlich wie beim Aufbau der Roten Armee sollte auch in der SBZ/DDR beim Aufbau paramilitärischer und militärischer Strukturen auf die aus gutem Grund für unverzichtbar gehaltene Expertise „bürgerlicher Militärspezialisten“ zurückgegriffen werden. Solange nicht selbst ausgebildete, gleichermaßen fachlich kompetente wie der SED gegenüber loyale Offiziere in ausreichender Zahl zur Verfügung standen, sollten jene, unter der aufmerksamen Kontrolle von Besatzungsmacht sowie SED und Staatssicherheit, zentrale Kommandeurs-, Stabs- und Spezialistenfunktionen einnehmen.

Die Auswahl der dafür in Frage kommenden vormaligen Wehrmachtoffiziere erfolgte frühzeitig durch die sowjetische Seite, so dass manche von ihnen unmittelbar im Anschluss an die Entlassung aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft die Uniform der neu aufgestellten kasernierten „Polizei“-Kräfte anzogen. Wie Niemetz im ersten Kapitel herausarbeitet, bildeten die Niederlage von Stalingrad, die Kriegsgefangenschaft und die Beteiligung am Nationalkomitee Freies Deutschland sowie dem Bund Deutscher Offiziere den Ausgangspunkt für einen politischen Wandlungsprozess ehemaliger Wehrmachtangehöriger, der sie schließlich in die Reihen der ersten „sozialistischen“ deutschen Armee führte. Politische Überzeugung oder ein spezifisches Patriotismusverständnis bildete jedoch nur ein Motiv, das durch den Wunsch nach Rückkehr in die Heimat, den Druck des sowjetischen Geheimdienstes, aber zum Teil auch durch eine Affinität zum militärischen Beruf oder gar Karrierismus ergänzt wurde. Bereits 1945/46 kehrten 300 ehemalige Wehrmachtangehörige, darunter auch Offiziere, die in sowjetischer Gefangenschaft Antifa-Schulen besucht hatten, in die SBZ zurück, wo sie – wie etwa der ehemalige Wehrmachtmajor Bernhard Bechler – für die Sowjetische Militäradministration arbeiteten oder in führende Polizei- und Verwaltungspositionen eingesetzt wurden. Ab 1948 wurde dann eine größere Zahl ehemaliger Kriegsgefangener für den Aufbau der kasernierten Bereitschaften rekrutiert.

In seinem zweiten Kapitel schildert Niemetz eindrucksvoll die Probleme beim Aufbau der Hauptverwaltung Ausbildung (HVA). Aufgrund der geringen Zahl kampferprobter Altkommunisten und Spanienkämpfer, die sich obendrein als militärisch wenig kompetent und nicht selten mit den ihnen anvertrauten Positionen intellektuell überfordert erwiesen (S. 51), prägten ehemalige Offiziere und Unteroffiziere der Wehrmacht die neue Truppe. Vor allem letztere setzten die während ihrer militärischen Sozialisation in der Wehrmacht kennengelernten „Barras“-Methoden fort. Diese prägten jedoch nicht allein den Führungsstil des Unteroffizierkorps, sondern fanden nun auch Eingang in das Auftreten von Stabsoffizieren und der Generalität. Die „komissmäßige“ Menschenführung (S. 81), mit „Betteneinreißen“ und rüdem Umgangston sowie das Abkanzeln von Offizieren und Unteroffizieren durch Vorgesetzte vor versammelter Mannschaft – wie sie auch in der Sowjetarmee und zum Befremden mancher ehemaliger Wehrmachtoffiziere selbst an sowjetischen Militärakademien praktiziert wurde – prägte künftig das Klima in den DDR-Streitkräften auf allen Dienstgradebenen und trug maßgeblich zur geringen Berufszufriedenheit der Berufs- und Zeitsoldaten bei.

Die Wehrmachteinflüsse wirkten jedoch nicht nur auf personeller Ebene. In aus heutiger Sicht überraschendem Umfang wurden in der HVA alte Dienstvorschriften der Wehrmacht weiter verwendet, weil eigene noch nicht erarbeitet und die sowjetischen Vorschriften nur zum Teil in übersetzter Form verfügbar waren.

Die „Erfahrungen der sowjetischen Freunde“ und „deutsche Mentalität“ führten schließlich, wie Niemetz im dritten Kapitel darstellt, zu handfesten Auseinandersetzungen um Form und operativ-taktische Ausrichtung der aufzubauenden „nationalen Streitkräfte“, die sich anhand solcher Themen wie Uniform, Unterbringung in Kompanieschlafsälen oder an der bereits 1950 in der HVA diskutierten „Feuerlinie“ (S. 76-78) in der Infanterietaktik entzündeten. Letzteres Beispiel zeigt auch, wie im kaiserlich-deutschen Heer entwickelte taktische Formen, die in Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg als unzweckmäßig verworfen und nicht mehr angewendet worden waren, vermittelt über die russische und die sowjetische Armee, nun als „Neuerung“ Einzug in die Streitkräfte der DDR hielten.

Das vierte Kapitel betrachtet schließlich die Wehrmachteinflüsse in der NVA seit 1956. Im Zentrum steht dabei der Umgang mit den ehemaligen Wehrmachtoffizieren, die von Partei und Staatssicherheit schon lange mit Argusaugen betrachtet und nach dem Ungarnaufstand bis 1960 in mehreren „Säuberungen“ zum größten Teil aus der NVA entlassen wurden. „Letzte Konzentrationen“ (S. 228) von ehemaligen Wehrmachtoffizieren verblieben bis in die siebziger Jahre lediglich an der Militärakademie „Friedrich Engels“ und dem Institut für Militärgeschichte der NVA. Besonders plastisch verdeutlicht Niemetz – vor allem gestützt auf die Aktenüberlieferung der Staatssicherheit – das von Überwachung, Denunziation und Karrieredenken geprägte Klima, in dem ehemalige Wehrmachtoffiziere als Täter wie als Opfer agierten.

Niemetz schließt mit seinem Buch eine Lücke in der Forschung zur Militärgeschichte der DDR. Dabei wird vor allem das ambivalente Verhältnis der DDR zum „feldgrauen Erbe“ verdeutlicht, das zwar unverzichtbar war, aber zu keinem Zeitpunkt Eingang in die militärischen Traditionen der DDR finden sollte. Auch daher war die NVA weder eine Neuauflage der Wehrmacht, noch stellte sie einen absoluten Neuanfang jenseits der deutschen Militärtradition dar. Obschon dies wohl kaum als grundsätzlich neue Erkenntnis angesehen werden kann, besteht das wesentliche Verdienst der vorliegenden Arbeit in der detaillierten, zum Teil akribischen Nachzeichnung von Entscheidungsprozessen, Spannungsfeldern und Konfliktlinien, die kennzeichnend für den Aufbau der DDR-Streitkräfte waren und diese bis zu ihrem Ende nachhaltig geprägt haben.

Anmerkungen:
1 Wörterbuch zur deutschen Militärgeschichte, Berlin 1985, S. 1095.
2 Aus Braun mach Rot, in: Focus, 1997, 10, S. 80.

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