D. Blasius u.a. (Hrsg.): Tage deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert

Cover
Titel
Tage deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Blasius, Dirk; Loth, Wilfried
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
143 S.
Preis
€ 17,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Schmid, Clio & Co. Der Geschichtsservice, Hamburg

Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts als Katastrophe – das Cover des Buches legt ein solches Narrativ nahe: Eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Fotografie vom Mai 1945 zeigt das schwer beschädigte, von Kriegsschutt und Menschen umgebene Brandenburger Tor, im Hintergrund die dunkle, rauchverhangene Silhouette der zerstörten Reichshauptstadt Berlin. Diese gleichermaßen suggestive wie düstere Untergangsstimmung als visuelle Intonation zu bestimmen ist gut begründet, lässt sich die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts letztlich doch nur aus der Perspektive jenes geschichtskulturell beinahe archimedischen Punktes der beispiellosen Katastrophe nationalsozialistischer Herrschaft angemessen verstehen, deuten und erzählen. Freilich müsste sich der Rezensent eine derartige Interpretation der ja ohnehin meist als Verlagsdomäne behandelten Titelgestaltung untersagen, bildete sie nicht in gewisser Weise die in dem Band getroffene Auswahl der „Tage deutscher Geschichte“ ab.

Die Beiträge entstammen einer im Wintersemester 2005/06 an der Universität Duisburg-Essen gehaltenen Ringvorlesung gleichen Titels. Alle Autoren lehren dort Neuere und Neueste Geschichte. Das an herkömmlicher historiografischer Periodisierung orientierte Buch enthält jeweils einen Essay zum 4. August 1914 (Dirk Blasius), 9. November 1918 (Angela Schwarz), 30. Januar 1933 (Dirk Blasius), 20. Januar 1942 (Gerhard Th. Mollin), 8. Mai 1945 (Wilfried Loth), 17. Juni 1953 (Ewald Frie), 13. August 1961 (Peter Alter) und 9. November 1989 (Wilfried Loth). Die Auswahl ist vertretbar: Sämtliche Daten stehen für herausragende historische Ereignisse, zudem haben sie in der hiesigen Geschichtspolitik und -kultur ihren Platz, wenngleich sie in der Hierarchie öffentlicher Bedeutungen solcher Geschichtstage unterschiedliche Ränge einnehmen.

In den ansprechend und flüssig geschriebenen Texten werden die Geschehnisse zusätzlich mit diversen Abbildungen veranschaulicht; überdies ist jeweils eine kurze Bibliografie beigegeben. Die Autoren reflektieren den historischen Status der Ereignisse, gehen kurz auf damit verknüpfte Deutungskontroversen ein („steckengebliebene Revolution“, „Machtergreifung“, „Niederlage“ versus „Befreiung“, „faschistischer Putsch“ oder „Arbeiteraufstand“ etc.) und skizzieren Genese, Ablauf sowie Folgen des Geschehens. Mehrfach beziehen sie auch die europäischen Dimensionen der Vorgänge ein. Längere Ausführungen zum Forschungsstand oder zu fachlichen Detailfragen fehlen – wohl mit Blick auf den Adressatenkreis eines breiteren geschichtsinteressierten Publikums. Insgesamt ist so ein lesenswertes und überschaubares Buch entstanden, das Interessierten einen fundierten und kompakten Überblick zu zentralen Feldern deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts zu geben vermag und sich so in ähnliche Publikationen der letzten Jahre einreiht.1

Allerdings bedarf das positive Urteil einer Einschränkung: Kann man mit den acht ausgewählten Tagen deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts tatsächlich angemessen erzählen, und was für ein Geschichtsbild entsteht auf der Basis einer solchen Auswahl? Ein ereignisgeschichtlicher Zugang wirft die grundsätzliche Frage nach begründeter Periodisierung von Vergangenheit im Zuge der Konstruktion von „Geschichte“ auf. Zugleich ist damit das Problem der Repräsentativität der ausgewählten historischen Stichtage angesprochen. Leider geben die Herausgeber Blasius und Loth in ihrem knappen Vorwort keine nähere Begründung für die Auswahl: Die vorgestellten acht Tage deutscher Geschichte seien „wichtiger als andere“, entweder aufgrund besonders weitreichender Folgen oder weil sie „Symbolkraft für ein umfassenderes, komplexeres Geschehen“ entwickelten. „Aus der Verknüpfung dieser acht Tage und ihrer jeweiligen Kontexte ergibt sich ein Gesamtbild der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert“ – allerdings werde diese Verknüpfung nicht ausgeführt, da keine „Meistererzählung“ angestrebt worden sei. Die getroffene Schwerpunktsetzung sei ein Angebot „zur Orientierung in der Fülle des Geschehens“, um dem Bedürfnis Rechnung zu tragen, „Erinnerungen zu ordnen und sich über die Vergangenheit zu verständigen“ (alle Zitate S. 7f.).

Einerseits dominieren so die bekannten Kriegs-, Revolutions- und Diktaturdaten. Die beispielsweise für die Zeit des „Dritten Reiches“ ausgewählten Ereignisse stehen für die drei zentralen Themenfelder Herrschaftserrichtung, Völkermord und Krieg. Begrüßenswert ist es, mit der Wannsee-Konferenz ein Geschehen hervorzuheben, das – als einziges der in dem Band dargestellten Geschichtstage – zeitgenössisch keinerlei öffentliche Bedeutung hatte, vielmehr erst infolge der Rezeption zu einer symbolisch relevanten Begebenheit wurde; freilich besteht die Gefahr, mit dieser Hervorhebung gerade in einem ereignisgeschichtlich angelegten Band den von Gerhard Th. Mollin zu Recht monierten, in der öffentlichen Meinung seit langem kursierenden Mythos ungewollt zu bestätigen, am 20. Januar 1942 sei die Entscheidung über die „Endlösung“ getroffen worden.

Andererseits fallen besonders zwei markante Lücken ins Auge: Sowohl die erste als auch die zweite deutsche Republik sind nicht mit eigenen historischen Ereignissen vertreten. Haben „Weimar“ und „Bonn“ wirklich keine originären Ereignisse hervorgebracht, die im historischen Rückblick das Ganze symbolisieren können? Die Wahl alternativer methodischer Zugänge hätte ein differenzierteres Bild ergeben. Ein verfassungsgeschichtlich vergleichender Ansatz hätte etwa dazu führen können, den 11. August 1919, den 23. Mai 1949 und den 7. Oktober 1949 gemeinsam zu betrachten, denn die Daten der Unterzeichnung der Weimarer Reichsverfassung durch Reichspräsident Friedrich Ebert (zudem Nationalfeiertag der ersten Republik), der feierlichen Verkündung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat und des Inkrafttretens der DDR-Verfassung (gleichzeitig Nationalfeiertag des SED-Staates) sind in traditioneller Historiografie zwar eher Daten aus der „zweiten Reihe“, können aber Kontinuitäten und Brüche deutscher Geschichte, Fehler und Erfahrungen dreier politischer Systeme verdeutlichen. Eine solche vergleichende Sicht auf die Gründungsdaten zweier Demokratien und einer sozialistischen Parteidiktatur würde auch die Möglichkeit eröffnen, die wichtige Geschichte jenseits der Katastrophen zu erzählen. Denn der doch wohl nicht ganz unbedeutende und nicht ganz erfolglose zweite Versuch zur Demokratisierung deutscher Verhältnisse in der alten Bundesrepublik erfährt im vorliegenden Band keine Würdigung; er spiegelt sich nur indirekt-fragmentarisch durch das Prisma der anderen Geschichtstage. Dieses Manko fällt gerade auch mit Blick auf das avisierte breitere Publikum ins Gewicht.

„Kein Kalendertag verknüpft Stern und Unstern deutscher Geschichte so wie der 9. November.“2 Von einem solchen Geschichtsbewusstsein ist der Band weit entfernt. Obgleich zwei 9.-November-Daten in dem Band aufgegriffen werden, freilich separat von zwei verschiedenen Autoren abgehandelt, wird die multiple Dimension – und teilweise enge innere Verschränkung – des Ereignisfeldes „9. November“ nirgends angesprochen: von der Hinrichtung Robert Blums 1848 über die Novemberrevolution 1918 und den Hitler-Putsch in München 1923 über das Novemberpogrom 1938 und Georg Elsers Hitler-Attentat 1939 bis zur Maueröffnung 1989. Die komplexen Zusammenhänge von Revolution, Gegenrevolution, politischer Gewalt und Demokratisierung, die sich in diesem Kalenderblatt kaleidoskopartig bündeln, bleiben leider im Dunkeln.

Wohl der Hauptgrund für dieses Defizit liegt darin, dass die erinnerungskulturelle Perspektive keine leitende methodische Bedeutung hat; die Frage des geschichtskulturellen und -politischen Deutungs- und Formungsprozesse spielt in dem Band konzeptionell und darstellerisch keine Rolle – mit Ausnahme von Ewald Fries instruktivem Beitrag über den 17. Juni. So kommt es zu dem merkwürdigen Umstand, dass der 3. Oktober 1990 weder als historisches Ereignis noch als Nationalfeiertag der „Berliner Republik“ erwähnt wird, obwohl Wilfried Loth in seinem Beitrag zum 9. November 1989 letzteren ausdrücklich als nationalen Feiertag favorisiert, aber nicht reflektiert, ob die widersprüchliche historisch-politische Matrix des Datums dies so einfach ermöglichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa das mehrfach aufgelegte Buch: Stern, Carola; Winkler, Heinrich August (Hrsg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1848–1990, Frankfurt am Main 1979, zuletzt: Frankfurt am Main 2005; Papenfuß, Dietrich; Schieder, Wolfgang (Hrsg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln 2000; Conze, Eckart; Nicklas, Thomas (Hrsg.), Tage deutscher Geschichte. Von der Reformation bis zur Wiedervereinigung, Darmstadt 2004; Gallus, Alexander (Hrsg.), Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln 2006.
2 Demandt, Alexander, Sternstunden der Geschichte, München 2003, S. 299.

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