Titel
Europa, ein Ausweg. Politische Eliten und europäische Identität in den 1950er Jahren


Autor(en)
Trunk, Achim
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 18
Erschienen
München 2007: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Regensburg

Die Geschichte der europäischen Integration ist bisher vor allem ideen-, wirtschafts-, (außen)politik- oder institutionengeschichtlich angegangen worden, mit dem Ergebnis, dass die einzelnen Deutungsansätze noch vielfach unverbunden nebeneinander stehen. Ein weiteres Charakteristikum der Forschungslage ist, dass die Geschichte der europäischen Integration oftmals als Aspekt der jeweiligen Nationalgeschichte der beteiligten Länder betrachtet wird. Erst jüngst sind Arbeiten entstanden, die die Geschichte der europäischen Integration von Europa her denken und die verschiedenen Forschungsstränge miteinander zu verbinden trachten. In diesen Zusammenhang ist Achim Trunks lesenswerte Kölner Dissertation zu stellen.

Die Studie analysiert die zwischen 1949 und 1957 zirkulierenden Identitätsvorstellungen von rund 600 Europapolitikern aus verschiedenen Ländern als Faktoren des europäischen Einigungsprozesses. Als Quellengrundlage dienen ihr Debatten der „europäischen Versammlungen“ (die Parlamente des Europarates, der Montanunion, der WEU sowie einiger ad-hoc-Versammlungen jener Jahre) sowie rund dreißig ausgewählte Politikernachlässe. Leitend für die Untersuchung sind die Fragen danach, inwieweit sich führende Europapolitiker in der Nachkriegszeit überhaupt als Europäer begriffen, woran sich ihr Europabewusstsein festmachte und welchen Einfluss diese Vorstellungen von europäischer Zusammengehörigkeit auf ihr Agieren im Integrationsprozess ausübten.

Zur Beantwortung dieser gewichtigen Fragen geht die Untersuchung in drei Schritten vor. Zunächst sucht sie in Kapitel II nach positiv begründeten Angeboten europäischer Identität, fragt dann im Kapitel III nach negativ, das heißt durch Abgrenzung von „significant others“ definierten Identitätskonzepten, um sich dann im Kapitel IV dem spannungsreichen Verhältnis von nationalen und europäischen Identitätsentwürfen in den untersuchten Debatten zuzuwenden. Dabei verliert die Studie kaum je einmal die Frage nach der Relevanz der Europadiskurse für das politische Handeln der Eliten aus dem Blick. Sie ist keine reine Diskursgeschichte; vielmehr werden die zirkulierenden Identitätsangebote stets in ihren Konsequenzen und Implikationen für den Prozess der europäischen Integration reflektiert. Damit ist die Arbeit insgesamt eine gelungene Verbindung von Kultur- und Politikgeschichte, die immer die Handlungsrelevanz von Sinnsystemen erörtert.

Wie erscheint nun der Prozess der europäischen Integration im Lichte dieser Studie? Als ein wesentliches Ergebnis wird man festhalten müssen, dass positiv, also aus der Wahrnehmung eigener Eigenschaften heraus begründete Angebote europäischer Identität, als Bezugspunkt für das Handeln der politischen Eliten zwischen 1949 und 1957 nur rudimentär entwickelt waren. Trunks problembewusste Diskussion möglicher „Anker“ europäischer Identität – Symbole, Sprache sowie die Vorstellung einer in gemeinsamen Werten gründenden „europäischen Zivilisation“ – führt zu einem ernüchternden Ergebnis: Es herrschte ein eklatanter Mangel an gemeinhin akzeptierten Europasymbolen, Sprache fiel angesichts der Sprachenvielfalt Europas als Identitätsstifter aus, und der Diskurs über die europäische Zivilisation offenbart, dass es zwar durchaus ein Ensemble von gemeinsamen Wertideen (Grundrechte, Demokratie, soziale Absicherung und Prosperität) gab. Allerdings war das auf die Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Zivilisation begründete Gemeinschaftsgefühl bei den politischen Eliten nur schwach entwickelt. Der Bezugsrahmen für die Garantie und Umsetzung dieser Wertideen sei weiterhin der Nationalstaat gewesen, stellt Trunk wiederholt fest und bilanziert: „Während jeder wußte, was er an seiner Nation hatte, blieb Europa ein diffuses Angebot.“ (S. 133)

Vorstellungen von europäischer Identität waren mithin – zu diesem Schluss kommt man nach der Lektüre dieses Buches – nicht bereits die Voraussetzung, sondern eher die Folge der zwischen 1949 und 1957 eingeleiteten Integration Europas. Von zentraler Bedeutung waren in diesem Zusammenhang zum einen negativ, das heißt „über den Kontrast zur Außenwelt“ (S. 140) begründete Identitätskonzepte und zum anderen die Diagnose des europäischen Niedergangs im Katastrophenzeitalter 20. Jahrhundert. Dies wird im Kapitel III sehr deutlich, in dem Trunk die Grenzen des politisch-geistigen Raums ‚Europa’, wie er zwischen 1949 und 1957 diskutiert wurde, präzise rekonstruiert. Demnach stand dem ‚freien Westeuropa’ ein von der Sowjetunion als dezidiert nicht-europäischer Macht unterdrücktes Osteuropa gegenüber. Binnengrenzen trennten die Subsysteme Skandinavien, das Baltikum und den Balkan von einem Kerneuropa ab, das mit Westeuropa identisch war. Diese Grenzziehung auf den mentalen Landkarten der führenden Europapolitiker ankerte in der Diagnose, dass sich Europa als ehemaliges Zentrum der Welt nach 1945 zwischen zwei neuen Supermächten an seiner ehemaligen Peripherie eingeklemmt sah. Konsequenterweise beschäftigt sich die Studie deshalb mit der Haltung der führenden Europapolitiker zu den beiden Supermächten des Kalten Krieges und kommt plausibel zu dem Schluss, dass europäische Identität in den 1950er-Jahren „sehr stark über die Kontrastbildung gegenüber [...] der Sowjetunion und den USA [...] definiert“ worden sei (S. 171). Die Bestrebungen zur Einigung Europas wurzelten deshalb wesentlich in einer gemeinsam geteilten Krisen- und Bedrohungsdiagnose. Trunk schreibt: „Man erkannte in der politischen Bedrohung und im ökonomischen Niedergang also zwei Gesichter eines Phänomens und dieses Phänomen zwang zur europäischen Einigung.“ (S. 211)

Die Entscheidung für Europa sei mithin eher „eine von außen erzwungene Notwendigkeit und nicht so sehr eine Herzensangelegenheit“ (S. 229) der führenden Politiker gewesen, kommentiert Trunk und beschäftigt sich im abschließenden Kapitel IV mit dem Verhältnis von nationalen und europäischen Identitätskonzepten in den 1950er-Jahren. Er umreißt zunächst die fortwirkend starke Bindekraft nationaler Symbole, untersucht die ungeklärte Zypern- und Irlandfragen als antagonistische Elemente am Rande Europas und rekonstruiert die vor allem bei den Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich breit diskutierten alternativen Modelle supranationaler politischer Ordnung. Das führt teilweise weit weg von der eigentlichen Fragestellung der Studie, die hier auszufasern droht. Dafür entschädigt die Untersuchung einer Reihe von politischen Problemen im deutsch-französischen Verhältnis (Saar, Rheinseitenkanal und Moselkanal), die in den 1950er-Jahren zu Lösung anstanden. Hier kann Trunk zeigen, wie in diesen Konflikten einerseits alte deutsch-französische Antagonismen fortwirkten und wie diese anderseits aber doch auch überwunden wurden, weil die Konstellationen des historischen Kontexts zu Verhandlungslösungen zwangen. In diesen Konflikten sei die entstehende deutsch-französische Zusammenarbeit zunehmend als ein „übergeordnetes Gut“ gesehen und das Moment der Kooperation wichtiger als die nationalistische Konkurrenz geworden (S. 289-290). Der „Schritt von konkurrenten zu kooperativen Handlungsweisen“ wurde, so Trunk, „durch die Perzeption der Gemeinsamkeit als machtloser und bedrohter Nationen erleichtert“ (S. 292-293). Europa sei damit zu einem „Ausweg für jene Nationen“ geworden, „die in den Augen ihrer politischen Eliten herabgesunken, schwach und einflußlos geworden waren. [...] Das Europa, das durch die Integration entstand, kann daher als ein Europa der machtlosen Nationen bezeichnet werden.“ (S. 314)

Insgesamt lässt diese Studie die Jahre von 1949 bis 1957 als die Phase in der Geschichte der europäischen Integration erscheinen, in der einerseits eine breite Vielfalt von Europakonzepten in einer historisch offenen Situation diskutiert wurde, die andererseits jedoch auch die „Zeit einer Weichenstellung“ war. In diesem von Trunk zu Recht als „experimentell“ deklarierten Zeitabschnitt wurden „verschiedene Formen der westeuropäischen Einigung nicht nur vorgeschlagen und diskutiert, sondern es wurden auch ernsthafte Versuche unternommen, sie in die Praxis umzusetzen.“ (S. 7) Damals setzte sich das „Prinzip einer im wesentlichen supranationalen und sachpolitischen Integration“ (S. 12), wie sie in den Römischen Verträgen von 1957 kulminierte, allmählich gegen konkurrierende Modelle der europäischen Einigung durch. Dabei fehlte eine gefühlsmäßige Bindung an Europa selbst bei vielen der führend an den Europadebatten beteiligten politischen Eliten. Sie betrachteten Europa vielfach rein funktionalistisch und hofften, über den „Ausweg Europa“ Probleme lösen können, die die Nationalstaaten nicht mehr zu lösen vermochten. Dies materialreich, problembewusst und auf hohem analytischen Niveau in Abhängigkeit von den zirkulierenden Konzepten europäischer Identität augenfällig demonstriert zu haben, ist das Verdienst dieser Studie, der viele Leser zu wünschen sind.

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