H. Schultz u.a. (Hrsg.): Die DDR im Rückblick

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Titel
Die DDR im Rückblick. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur


Herausgeber
Schultz, Helga; Wagener, Hans-Jürgen
Erschienen
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Prokop, Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg

Im Wintersemester 2004/05 bot die Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) das Thema DDR im Rahmen der fakultätsübergreifenden Montagsvorlesungen, in einer Art Studium generale, an. Das war zu einem Zeitpunkt, da dieses Thema bereits weitgehend aus dem Lehrbetrieb der Universitäten verschwunden war. Dennoch erwies sich das akademische Interesse der Studenten der Viadrina als begrenzt, während die Teilnahme von Bürgern der Stadt und der Umgebung beachtlich war. Von ihnen wurde schließlich der Wunsch geäußert, das Gehörte noch einmal in einem Buch nachlesen zu können. Es ging den Herausgebern von vornherein nicht darum, die Leser mit einem riesigen wissenschaftlichen Apparat zu behelligen. Nur Zitate sollten belegt werden und eine kurze Auswahlbibliographie Anregungen für weiterführende Lektüre bieten.

Konzentriert wurden die Vorträge auf die vier Schwerpunkte: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur.

Der Schwerpunkt Politik gliedert sich in die Themen „Macht und Herrschaft“ (Martin Sabrow), „Von der Mehrheits- zur Minderheitskirche (Detlef Polack), „Leben mit der Stasi (Stefan Wolle) und „Recht im Unrechtsstaat“ (Chris Mögelin). Im Rahmen dieser Besprechung kann nicht auf alle Beiträge im Detail eingegangen werden. Sabrow vermittelt einen präzisen Überblick über den Machtapparat der SED. Macht und Herrschaft bezieht Sabrow allerdings nur auf die SED. Die Blockparteien mit ihren circa 500.000 Mitgliedern und die Massenorganisationen werden aus der Betrachtung des politischen Systems der DDR ausgeklammert. Der antifaschistische Konsens, zu dem es nach Kriegsende zwischen der SED und der CDU und LDPD kam, erscheint lediglich als „Legitimationsantifaschismus“, wird nicht als bedeutsam für die sich neu etablierenden Macht und ihren Werdegang begriffen. Folglich spielt beim Ende der SED-Herrschaft die Volkskammertagung vom 13. November 1989, auf der es zum Eklat zwischen der SED und den Blockparteien kam, was den „Bruch des Nomenklatursystems“1 bedeutete, keine Rolle.

Zum Schwerpunkt Wirtschaft gehören die Themen „Dilemmata der Wirtschaft“ (Hans-Jürgen Wagener), „Möglichkeiten und Grenzen einer Planwirtschaft“ (André Steiner), „Zur Charakteristik der fünf Wirtschaftskrisen“ und „Das Verkehrswesen“ (Uwe Müller). Schlüssig weist Wagener nach, dass die sowjetische Besatzungszone und die DDR in jeder Etappe ihrer Entwicklung in der Arbeitsproduktivität im Vergleich mit Westdeutschland relativ zurückfiel und 1989 nur noch auf 45 bis 50 Prozent des Niveaus der Bundesrepublik kam. Allerdings hatte der holländische Wirtschaftshistoriker Jaap Sleifer, auf den sich der Verfasser stützt, nachgewiesen, dass der Rückfall schon im Jahrzehnt vor dem Kriegsende 1945, also noch im einheitlichen Deutschland, begonnen hatte und sich einige Jahre nach 1990 noch fortsetzte. Die Feststellung des Verfassers, dass die DDR erst ab 1958 Statistische Jahrbücher zu publizieren begann, ist nicht präzise. Das erste Statistische Jahrbuch der DDR erschien 1956.2 Roesler markiert die Einbuße der Weltmarktfähigkeit im Maschinenbau Mitte der 1970er-Jahre als eine wichtige Zäsur für die Wirtschaftsgeschichte der DDR. Günter Mittags Bemühungen um die Entwicklung der Mikroelektronik, eine äußerst kostenaufwendige Anstrengung, schlug fehl. Der Verfasser hätte hinzufügen können, dass das auch durch den Abbruch der Entwicklung der Mikroelektronik am Beginn der Ära Honecker mit verursacht wurde.

Dem Schwerpunkt Gesellschaft sind die Themen „Agrarwandel und ländliche Gesellschaft“ (Arnd Bauerkämper), „Die DDR und die Volksrepublik Polen im Vergleich“ (Helga Schultz) und „Auf den Spuren von 40 Jahren sozialistischer Gleichstellungspolitik“ (Heike Trappe) gewidmet. Der materialreiche und sehr akzentuiert formulierte Beitrag von Bauerkämper hätte ebenso in den Schwerpunkt Wirtschaft gepasst. Etwas überrascht seine Feststellung, dass der „sozialistische Frühling“ eine „Zwangskollektivierung“ war, existierten doch nach Abschluss des „sozialistischen Frühlings“ im April 1960 noch immer 18.821 Einzelbauern in der DDR; im Herbst 1960 noch 10.000.3 Dass die Vorgänge bis in das wiedervereinigte Deutschland hineinwirken, wird vom Verfasser bewiesen, hätte aber in der Bewertung durchaus positiv ausfallen können. Mit der großbetrieblichen Landwirtschaft in Ostdeutschland verfügt wenigstens dieser Teil des Landes über die modernste Agrarstruktur im EU-Rahmen. Wohl kaum dürfte damit „die SED ungewollt die Trennung fortgeschrieben“ (S. 222) haben, wie der Verfasser behauptet.

Der Vergleich von DDR und Volksrepublik Polen durch Helga Schultz ist außerordentlich anregend. Beide Länder hatten in nationalen Varianten das sowjetische Modell befolgt. In Polen wurde der Nationalkommunismus zum Bindeglied der Gesellschaft, während in dem deutschen Teilstaat DDR die nationale Tradition des sozialdemokratischen „Reformismus“ entschieden zurück gewiesen wurde. Doch in höherem Masse als offiziell bekundet und allgemein wahrgenommen stand die DDR in der Tradition des deutschen Sozialstaates. Sie hielt hin bis zu den Sonderversorgungssystemen der Funktionäre am Versicherungsprinzip bismarckscher Sozialgesetzgebung fest, und Honecker regierte zunehmend mit sogenannten sozialpolitischen Maßnahmen. Für den polnischen Weg seien hingegen Arbeiterräte, die Selbstverwaltung der Betriebe durch die Produzenten, charakteristisch gewesen, die im Oktober 1956 nach jugoslawischem Vorbild geschaffen wurden. Die Verfasserin fügt hinzu, dass der Einfluss der 6000 Räte aber schon 1958 „zurückgestutzt“ wurde. Hier hätte sich ein Vergleich mit der Episode der Arbeiterkomitees 1956/58 in der DDR angeboten.4

Dem vierten und letzten Schwerpunkt Kultur sind die Beiträge „Kunst und Weltanschauung“ (Heinz D. Kittsteiner), „Arbeiterbilder“ (Dietrich Mühlberg) und „Fragmentarisches zur Literatur“ (Simone Barck) gewidmet. Zurecht beklagt Kittsteiner, dass es so zu sein scheint, als ob die Deutschen auch im wiedervereinigten Deutschland noch im Kalten Krieg lebten. In einer Art „Kampf der Kulturen“ würden im Westen die „Freiheit“ der Kunst gegen die „Staatskunst“ im Osten ausgespielt und daraus auch gleich Forderungen und Folgerungen für die Qualität der Bilder gezogen. Der Verfasser plädiert unter anderem am Beispiel des Entstehens des Buchenwald-Denkmals von Fritz Cremer für einen anderen Zugang zum Thema. Es sei noch zu wenig untersucht worden, welche geheimen Widerstände es in der DDR gegen die Anerkennung der kulturellen Dominanz der Sowjetunion gab. Der Verfasser verweist zurecht auf Wolfgang Harich, Fred Oelßner und Karl Schirdewan im Jahre 1956, allerdings ohne deren Rückgriff auf das Ackermannsche Konzept eines „besonderen deutschen Weges zum Sozialismus“ von 1946 zu erwähnen.

Das Buch kann vor allem Historikern empfohlen werden, die Vorträge und Vorlesungen zur DDR-Geschichte halten. Sie werden darin viele Anregungen und Anknüpfungspunkte finden. Für die Forschung ist der Darstellungsansatz eines Rückblicks weniger produktiv, denn er verführt zu sehr zur längsschnittartigen Betrachtung. Wenn die Herausgeber sich dazu hätten entschließen können, neue Forschungsansätze ins Blickfeld zu rücken, wären sie vermutlich bei den Studenten auf mehr Resonanz gestoßen.

Anmerkungen:
1 Wagner, Matthias, Ab morgen bist du Direktor. Das System der Nomenklaturkader in der DDR, Berlin 1998, S. 126-129.
2 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1955. Herausgegeben von der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik. Erster Jahrgang, Berlin 1956.
3 Vgl. Prokop, Siegfried, Übergang zum Sozialismus in der DDR, Berlin 1986, S. 205.
4 Vgl. Czerny, Jochen, Die 29. ZK-Tagung, die Arbeiterkomitees und das Dilemma der Mitbestimmung, in: Gewerkschaften und Betriebsräte im Kampf um Mitbestimmung und Demokratie 1919–1994, Bonn 1994.

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