H.-R. Sandvoss: Die "andere" Reichshauptstadt

Titel
Die "andere" Reichshauptstadt. Widerstand aus der Arbeiterbewegung in Berlin von 1933 bis 1945


Autor(en)
Sandvoss, Hans-Rainer
Anzahl Seiten
668 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael F. Scholz, Gotland University

Eine umfassende Untersuchung zur „Rolle der Arbeiterschaft im Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur“ (S. 11) stand für Berlin bisher aus. Nicht nur die beschwerliche Quellenlage in der geteilten Stadt, sondern mehr noch die ideologische Auseinandersetzung im Zeichen des kalten Krieges und die daraus folgenden Behinderungen beim Zugang zu den relevanten Archivbeständen behinderten die Forschung. Im selben Maß, wie von der SED der Arbeiterwiderstand als heroische Tradition ihres „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ gefeiert wurde, war er in der eher bürgerlich-konservativen Bundesrepublik zu einem Schattendasein verdammt. Seit den 1980er-Jahren zeichneten sich hier Veränderungen ab, wenn auch weiterhin Tendenzen der Verengung auf jeweils genehme Kräfte des Widerstands bestimmend blieben. Mit dem Fall der Mauer und der Öffnung der Archive ergab sich für die Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand die Möglichkeit, ihre seit 1983 (bis 2003) erschienene und auf die politische Bildungsarbeit ausgerichtete Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945 nun frei von jeder Tendenz auch auf Ostberlin auszudehnen. Ihr Herausgeber Hans-Rainer Sandvoss, stellvertretender Leiter der Gedenkstätte, hat an diese Arbeiten anknüpfend nun die erste Gesamtdarstellung des Berliner antinazistischen Widerstands von 1933-1945 „aus der Tradition der Arbeiterbewegung“ vorgelegt. Dafür hat er Ermittlungsakten der Verfolgungsbehörden, wie der Gestapo und des Volksgerichtshofs, sowie Erinnerungsberichte, OdF- und Wiedergutmachungsakten minutiös ausgewertet und Hunderte von Befragungen durchgeführt.

Sandvoss’ Studie geht der Frage nach, „was sich an Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus der Tradition der früheren Arbeiterparteien KPD und SPD sowie zahlreicher kleine Zwischengruppen, die in diesen Zusammenhang gehören, zwischen 1933 und 1945 ereignet hat“. Seine Analyse fragt nach dem Verhältnis der Zahl der Aktiven im Arbeiterwiderstand zu ihrer früheren Mitgliedschaft oder Wählerschaft, und, ob es politisch organisierten Kadern gelang, dabei auf ein nachhaltiges Echo bei Arbeitern und Angestellten in Berliner Groß- und Mittelbetrieben zu stoßen (S. 23).

Zunächst handelt es sich also um eine notwendige Bestandsaufnahme, die bisher ein Forschungsdesiderat war. In seiner Analyse setzt sich Sandvoss nach einer sehr kritischen Betrachtung des Forschungsstandes mit verschiedenen Mythen zur Widerstandsgeschichte auseinander. Sie reichen von der euphorischen Beschreibung Berlins als „roter Stadt“ bis zur Einschätzung ihrer Bevölkerung als völlig korrumpiert.

Die Untersuchung ist in vier Kapitel gegliedert. Das erste behandelt den sozialdemokratischen Widerstand, das zweite ist den von SPD und KPD unabhängigen Gruppen gewidmet und das dritte und größte der KPD. Im vierten Kapitel untersucht Sandvoss in einem kombinierten analytischen Ansatz den Widerstand auf betrieblicher Ebene.

Als Hitler an die Macht kam, galt die mehr als vier Millionen Einwohner zählende deutsche Hauptstadt nicht ohne Grund als rot. Bei der Reichstagswahl im November 1932 hatten KPD (31 Prozent) und SPD (23,3 Prozent) in Berlin zusammen noch über die Hälfte aller Stimmen erhalten. Doch es war eine „zunehmend politisch auseinanderdriftende Arbeiterschaft“ (S. 48), die zwar eine antifaschistische, doch keine demokratische Mehrheit bildete. Drei Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft waren nach der Statistik der Berliner Zentralstelle für die Opfer des Faschismus gut 9200 Menschen als politisch verfolgt anerkannt worden. Von diesen rechnet Sandvoss 70 Prozent zur Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung (S. 21).

Die SPD war auf den ab 1933 staatlich sanktionierten NS-Terror „denkbar schlecht vorbereitet“. Massenaustritte und ein zahlreiches Überlaufen an der Basis waren die Folge. Die sozialdemokratische Widerstandstätigkeit verlief nach Sandvoss in zwei Wellen, eine stärkere 1933/34 und eine zweite 1936-38. In den Kriegsjahren reduzierte sich die oppositionelle Arbeit weitgehend auf informelle Zirkelarbeit. Nur wenige setzten sich der Gefahr des Untergrundkampfes aus. Doch das gegnerische Potenzial in der Partei lag um das Zwanzigfache höher (S. 609). Zu zahlreichen individuellen Akten der Gegnerschaft kam es im Sympathisanten-Umfeld der SPD. Als treibende Funktionäre innerhalb der illegalen SPD macht Sandvoss verdeckte Mitarbeiter des Geheimapparates der KPD aus, darunter Paul Laufer, der später als Führungsoffizier von Kanzleramtsspion Guillaume bekannt werden sollte. Doch ein „Rest sozialdemokratischer Anti-Nazi-Wertekultur“ verblieb (S. 166) und machte es der SPD 1945 möglich, in kurzer Zeit wieder zu einer starken Mitgliederpartei mit einem qualifizierten Funktionärsstamm zu werden.

Die kleinen Gruppen sozialistischer oder kommunistischer Orientierung zeichneten sich im Widerstand durch ein hohes Maß an individuellem Engagement aus. Da ihre ideologische Geschlossenheit und personelle Vertrautheit die konspirative Arbeit sicherten, waren die Zwischengruppen im Berliner Widerstand trotz ihrer geringen Zahl ein „sehr aktiver Faktor“ (S. 269).

Breiten Raum erhalten die kommunistischen Widerstandsgruppen mit ihren vielfältigen Aktivitäten. Dabei rückt Sandvoss vor allem dem Mythos von der zentralen Steuerung des kommunistischen Widerstands zu Leibe. Als Regimegegner und Widerstandskämpfer waren die Kommunisten jedoch weit geachtet. Ihr Verhältnis zur SPD blieb aber distanziert. Laut Sandvoss lag das aus sozialdemokratischer Sicht an der Leichtfertigkeit der KPD-Untergrundarbeit. Verheerende Wirkungen konstatiert er in Folge der zentral gelenkten illegalen Arbeit der KPD, vor allem hinsichtlich der geheimen, von der normalen Parteiarbeit abgekoppelten Aktivitäten. Sein hartes Urteil misst dem Wert nachrichtendienstlicher Arbeit für den Sieg der Alliierten (Betriebs-Berichterstattung, Rote Kapelle, Fallschirmspringer) dabei nur geringen Wert bei. Dies ist vielleicht auch eine Konsequenz aus seiner doch recht knappen Definition des Widerstandsbegriffs (S. 24). Pauschal spricht sie von „aktiven Umsturzvorbereitungen“, ohne zum Beispiel ausdrücklich den aktiven Kampf in den alliierten Armeen oder eine Tätigkeit für deren Geheim- und Nachrichtendienste zu nennen. So sind denn auch Überlegungen des Autors hinsichtlich politischer Motive und Verhaltensweisen für die Anerkennung von Opfern der NS-Justiz als „Widerstandskämpfer“ (S. 614f.) problematisch. Würde zum Beispiel die norwegische Geschichtsschreibung der von Sandvoss angedeuteten Einschränkung hinsichtlich eines „kalkulierten machtpolitischen Anspruchs kommunistischer Kreise“ folgen, bliebe der militärische Widerstand der Norweger gegen die deutsche Okkupation blutlos.

Sandvoss bemüht sich durch die Spiegelung von Verfolgungs- und Entschädigungsakten um eine ausgewogene Darstellung sowohl der Leistungen und Erfolge als auch der Niederlagen des Berliner Widerstands. Die faktenreiche Arbeit enthält eine Vielzahl von Beispielen, die von der Rettung von Menschenleben berichten, sowie auf eine Kriegsverkürzung durch Sabotage in der Produktion oder nachrichtendienstliche Informationen schließen lassen. In erster Linie erfährt der Leser aber von Niederlagen, Verhaftungen und Verrat. Der Widerstandkampf war in Berlin in mehreren Wellen verlaufen, doch mit abnehmender Tendenz. Inhaftierungen und Kriegsdienst hatten die Reihen der aktiven Antinazisten dezimiert und Hitlers anfängliche „Blitzsiege“ ein Übriges getan. Erst 1943 war der Widerstandsgeist wieder erwacht durch den umfassenden Bombenkrieg und die Einbindung von bis zu 400.000 ausländischen Arbeitern. Letztlich war es im Kampf um Berlin jedoch nicht zu einem Aufstand bzw. zu einer kampflosen Übergabe der Stadt gekommen und dem Berliner Arbeiterwiderstand die Ehrenrettung der Bevölkerung der Stadt nicht beschieden.
Nach zwölf Jahren Gewaltherrschaft und Krieg gehörte das „rote Berlin“ bei Kriegsende der Vergangenheit an (S. 615). Doch Sandvoss fand auch keine den Vorwurf der sozialen Korrumpierung der Berliner Bevölkerung durch die NS-Politik hinreichend stützenden Argumente (S. 619).

Das umfangreiche, gut gegliederte und mit 300 Abbildungen auch reich ausgestattete Buch verdient die Bewertung als Standardwerk nicht nur für die Regionalgeschichte, sondern für die Widerstandsforschung allgemein. Zu allererst hat Hans-Rainer Sandvoss mit seiner faktenreichen Arbeit aber den Berliner Widerstandskämpfern ein Denkmal gesetzt.

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