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Titel
Technologisches Regieren. Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Foucault, Luhmann und die Kybernetik


Autor(en)
August, Vincent
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Land, Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt

Gegenstand von Vincent Augusts Technologisches Regieren ist der Aufstieg des Netzwerk- oder – wie August es in Abgrenzung zur Technokratie nennt – technologischen Denkens zum normativen Leitbild von Regierung im Allgemeinen und staatlicher Praxis im Besonderen seit Mitte der 1970er-Jahre. Damit ist Augusts Buch Teil eines aktuellen Trends der Historisierung der zumeist als neoliberal apostrophierte Epoche „nach dem Boom“, die – so scheint es zumindest – gegenwärtig an ihr Ende gelangt. Die Skepsis gegenüber einer universellen Erklärungskraft des Narrativs einer Neoliberalisierung hat August dazu bewogen, die Genese eines vermeintlich neoliberalen Regierungsdenkens zu rekonstruieren, das heute unter dem Begriff Governance zusammengefasst wird. Der Umschlag von „Government“ zu „Governance“ und die damit erfolgte Aufwertung nicht-hierarchischer, dezentraler Steuerungsformen erscheint in dieser Erzählung als die Konsequenz einer umfassenden Neoliberalisierung von Staat und Gesellschaft.1

August zufolge habe die Hegemonie des Narrativs der Neoliberalisierung bislang übersehen lassen, dass es neben der neoliberalen Herkunft von Governance noch „einen zweiten Reformstrang gegeben habe“ (S. 13), dessen „Leitmetaphorik nicht Märkte und Verträge, sondern Netzwerke und Systeme sind“ (S. 16). Allerdings habe die „historisch bedingte Konvergenz“ (S. 401) von Neoliberalismus und technologischem Netzwerkdenken bislang dazu geführt, die „grundlegenden Unterschiede dieser beiden Deutungsmuster“ (S. 401) zu erfassen. Eine genaue Rekonstruktion ihrer Entstehung zeige jedoch, dass das Regierungsdenken der Gegenwart von „zwei großen Paradigmen geprägt wird: dem Neoliberalismus und dem Netzwerk-Denken“ (S. 16).

Ausgangspunkt und Kontrastfolie für Augusts ideengeschichtliche Rekonstruktion eines eigenständigen Strangs des technologischen Regierungsdenkens ist das Paradigma der Souveränität, das das Denken zwischen 1945 und 1975 geprägt hat und sich als Fortsetzung des Projekts der europäischen Aufklärung verstand (Kapitel I). Seine praktische Entsprechung fand es im modernen Nationalstaat und seiner Regierung, die sich als die politische Steuerungszentrale des sozialen Fortschritts der Gesellschaft verstand.

In Kapitel II beschreibt August, wie das moderne Staats- bzw. souveräne Steuerungsdenken als Ausdruck eines technokratischen Denkens zunehmend in die Kritik geriet und damit den Aufstieg des Netzwerkdenkens ermöglichte. Eine Schlüsselrolle weist August hierbei der Kybernetik zu. Zunächst noch dem Anspruch einer „lineare[n], deterministische[n] Regulierungsform“ (S. 150) verhaftet, emanzipierten sich die second-order cybernetics vom souveränen Regierungsdenken. Zur Organisation komplexer, kontigenter und miteinander vernetzter (sozialer) Systeme, so ihre Einsicht, sei die Anwendung hierarchischer Techniken von Befehl und Gehorsam inadäquat. Mit der Aufgabe der Unterscheidung von Steuerungssubjekt und -objekt entwickelte sich das kybernetische schließlich zum technologischen Denken weiter.

Kapitel III behandelt den Umschlag vom Planungsoptimismus der 1960er- zum Steuerungspessimismus der 1970er-Jahre, womit die politische Implementierung kybernetischer Steuerungsformen ermöglicht wurde. „Nicht die Übermacht technokratischer Steuerung“, so August, „sondern der Verlust von Steuerungsfähigkeit standen fortan im Zentrum.“ (S. 127) Vier prominente Krisennarrative mit ihren jeweiligen Krisendiagnosen und Lösungsvorschlägen werden näher betrachtet. Während Konservative und Neomarxisten dem Paradigma der Souveränität verhaftet blieben, präsentierten neoliberale und technologische Ansätze progressive Krisenlösungsstrategien, die der zeitgenössischen Problemlage angemessen waren. An dieser Stelle wird ein zentrales Problem der Arbeit deutlich: August übernimmt die Perspektive der Vertreter des technologischen Regierungsdenkens als Grundlage für seine historische Rekonstruktion. So etwa, wenn er Michel Foucault darin folgt, dass weder der Marxismus noch der klassische Institutionalismus der Konservativen angesichts der Krise der 1970er-Jahre etwas Neues oder Interessantes hervorgebracht hätten (vgl. S. 210 und S. 273–274). Einzig das technologische Krisennarrativ habe die „wachsende Komplexität der Gesellschaft“ (S. 200) als die eigentliche Krisenursache erkannt. Da sich Komplexität, Interdependenz und Kontingenz nun nicht – wie noch vom Souveränitätsdenken vorgeschlagen – kontrollieren oder reduzieren lassen, brauche es ein neues Regierungsdenken, das „ein höheres Maß an Kooperation, Kommunikation, Aktivität und Flexibilität“ (S. 206) ermögliche „als es die alte Rationalität der Moderne zuließ“ (ebd.).

In den nächsten beiden Kapiteln wird die Entstehung des postsouveränen, technologischen Netzwerkdenken anhand von Fallstudien zu Michel Foucault und Niklas Luhmann nachvollzogen, die „als Vertreter einer breiten Strömung technologischer Antworten auf die Krise der Moderne“ (S. 378) aufgefasst werden. Ich werde im Folgenden nicht detailliert auf die im Wesentlichen chronologische Abhandlung der Theorien von Foucault und Luhmann vor dem Hintergrund der Einflüsse aus Informationstheorie und Kybernetik eingehen, die meines Erachtens keine neuen Einsichten formulieren, die eine grundlegend neue Interpretation ihrer Werke zur Folge hätte. So zeigt Augusts Rekonstruktion der „Einflüsse des kybernetischen Denkens auf Foucault“ (S. 221) zwar, dass sein „Netzwerkmodell der Macht einschließlich der ‚Technologien des Selbst‘ auf den kybernetischen Konzepten zirkulärer, reflexiver Regulation auf[baut]“ (S. 223), trägt darüber hinaus aber kaum etwas zum besseren Verständnis von Foucaults bisweilen kryptischen Formulierungen zur Macht bei. Der Nachweis kybernetischer Denkfiguren und Modelle (Schaltplan, Stromkreise, Relais, Zirkulation usw.) und der Verweis auf die „Metapher des Netzwerks“ (S. 251) bei Foucault machen weder Foucaults „recht abstrakte Rede von der Relationalität eines Systems besonders anschaulich“ (ebd.), noch werden „auf diese Weise die theoretischen Folgerungen von Foucaults Machtmodell [plausibilisiert]“ (ebd.), wie August behauptet.

Im Schlusskapitel wird die technologische Begriffs- und Wissensordnung als ein neues Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema bezeichnet, von dem das im Buch behandelte technologische Regierungsdenken nur einen kleinen Ausschnitt darstellt. Es erfolgte, so August, eine „grundsätzliche Neubestimmung von Politik und Gesellschaft in den Begriffen von Systemen und Netzwerken, von Komplexität und Diversität, von Experimentier- und Risikobereitschaft“ (S. 378–379). Hier ließe sich kritisch hinterfragen, ob August den Einfluss und die Reichweite kybernetischer Denkfiguren nicht überschätzt, wenn er das Netzwerk-Denken als ein eigenständiges „Muster der Weltwahrnehmung“ (S. 380) bezeichnet, das sich als „Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ (S. 378) durchgesetzt habe. Ganz am Ende kommt August auf die „blinde[n] Flecken“ (S. 405) des technologischen Regierens zu sprechen, die im Buch sonst kaum eine Rolle spielen. Augusts Kritik am Netzwerkdenken fällt überraschend knapp aus (S. 404–408): 1. Wo die Techniken der autonomen Selbstregierung bzw. dezentraler Systemregulierung selbst zur Norm werden, schlagen sie in Zwang um. 2. Da das technologische Regieren die alteuropäische Ausrichtung von Staat und Politik am Gemeinwohl hinter sich lässt, zeige es deutliche Defizite hinsichtlich der normativen und kollektiven Dimension menschlichen Zusammenlebens. Die „technologische“ Schlagseite der Post- oder Spätmoderne lasse sich aber, so Augusts Ausblick, durch eine wohldosierte Anwendung des Souveränitätsparadigmas ausgleichen, ohne deswegen zugleich zur unterkomplexen Regierungsrationalität der Moderne zurückzukehren.2

Wie ähnlich umfassend angelegte und daher stark synthetisierende Forschungsprojekte zeigt „Technologisches Regieren“ ebenso viel wie es verdeckt. Die Plausibilität der Behauptung allgemeiner Entwicklungstendenzen geht notwendig auf Kosten der Differenzierung im Einzelfall.3 Anstelle einer detaillierten Kritik einzelner Thesen oder Aussagen werde ich mich auf wenige methodologische Probleme konzentrieren.

Zunächst ließe sich fragen, ob tatsächlich von einem „epistemischen Bruch“ (S. 173) zwischen Souveränitäts- und Netzwerkdenken auszugehen ist oder ob nicht vielmehr die Übergänge, Kontinuitäten und Inkonsistenzen bei einem Prozess der Ergänzung des Souveränitäts- durch das Netzwerkdenken hervorzuheben wären.4 Hat man es nicht mit der Gleichzeitigkeit komplementärer Logiken zu tun, die je nach Bereich eine mal mehr, mal weniger hegemoniale Stellung einnehmen?5 Mit der begrifflichen Vorentscheidung einer antagonistischen Gegenüberstellung von souveränem und technologischem Regierungsdenken, die einander ausschließen, verbaut sich August die Möglichkeit, die Mischformen beider Regierungslogiken zu erfassen. Zwar präsentiert August mit der Kybernetik den „missing link“, der den Übergang von den modernen Souveränitäts- und Planungsvorstellungen zum spät- oder postmodernen Netzwerkdenken erklärt und damit das Bild einer allzu schroffen Zäsur relativiert. Fraglich bleibt aber, ob – nachdem man die Stufe zum technologischen Denken einmal erfolgreich erklommen hat – das nunmehr „veraltete“, weil unterkomplexes Denken der Souveränität in Theorie und Praxis seither keine Rolle mehr spielt, wie August wiederholt nahelegt.6 Der historischen Entwicklung angemessener wäre es, anstelle der dichotomen Konzeptualisierung von zwei gegensätzlichen Regierungspraktiken von einer mehr oder weniger dominanten Semantik der einen oder anderen Logik zu sprechen.

Der zuletzt genannte Punkt verweist erneut auf das zentrale Problem der Arbeit: August schließt aus der Konjunktur einer neuen Semantik auf die Etablierung einer neuen politischen Praxis – etwa wenn er davon ausgeht, dass die Gesellschaft „zu einem Netzwerk geworden“ (S. 11) ist und der Staat sich in eine „Vielzahl dezentraler Machtmechanismen“ (S. 395) aufgelöst hat. Auf diese Weise hypostasiert er die normativ motivierten Zeitdiagnosen der 1970er- und 1980er-Jahre zum strukturbildenden Ordnungsprinzip unserer Gegenwart. Zu fragen wäre allerdings, ob sich seit den 1970er-Jahren nicht vielleicht weniger die Regierungs- und Verwaltungspraxis als vielmehr die wissenschaftliche Perspektive darauf verändert hat. Überspitzt formuliert: Handelt es sich beim konstatierten „epistemischen Bruch“ zwischen Souveränitäts- und Netzwerkdenken am Ende nicht um eine „Wahrnehmungsrevolution“?7 Erfolgte in 1970er- und 1980er-Jahren nicht primär die diskursive Aufwertung von indirekten Steuerungsinstrumenten, informalen Verhandlungssystemen und Mechanismen der Selbstorganisation, die bereits lange zuvor praktiziert wurden, aber eben nicht im Fokus sozialwissenschaftlicher Theoriebildung standen? Erwähnt seien in diesem Zusammenhang nur Peter Collins Studien zur „regulierten Selbstregulierung“.8

Ein weiteres Problem, das sich aus Augusts Vermischung von zeitgenössischer Gegenwartsdiagnostik und historischer Entwicklung ergibt, ist die verzerrte Wahrnehmung der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft der 1970er- und 1980er-Jahre. Diese wird von August durch die Brille von Foucault bzw. Luhmann wahrgenommen. Die selektive Wahrnehmung alternativer Ansätze zur Krisenlösung macht aus Sicht der Selbstinszenierung von Foucault und Luhmann als Überwinder der Krise durchaus Sinn. Als Grundlage für die Rekonstruktion der Krisendebatte der 1970er-Jahre führt sie jedoch dazu, die Breite der sozialwissenschaftlichen Diskussionen und ihre vielen Einflüsse auf die Entstehung des Netzwerkdenken zu verkennen. In der Konsequenz erscheint bei August einzig die Kybernetik bzw. das technologische Denken als Quelle von Innovation, während allen übrigen Ansätzen lediglich Rezepte der Vergangenheit aufwärmen.

Anmerkungen:
1 So etwa Grégoire Chamayou, Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus, Berlin 2019.
2 Ähnliche Vorschläge auch bei Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Berlin 2019, S. 239ff.
3 Dementsprechend ließen sich viele der Kritikpunkte anbringen, wie sie etwa gegen Andreas Reckwitz‘ Arbeiten vorgebracht wurden, die einen ähnlich großangelegten Bogen von der Moderne zur Postmoderne schlagen. Zur Kritik an Reckwitz siehe ausführlich das Buchforum bei soziopolis.de: https://www.soziopolis.de/buchforum/reckwitz-buchforum.html (abgerufen am 31.08.2021). Zum Konflikt zwischen „theoretischer Eleganz“ und „empirischer Haltbarkeit“ zentraler Thesen bei Reckwitz zuletzt etwa Nils Kumkar / Uwe Schimank, Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’ Diagnose der „Spätmoderne“, in: Leviathan 49/1 (2021), S. 7–32.
4 Das Vorhandensein hierarchischer Rahmenbedingungen als Voraussetzung erfolgreicher Selbstkoordination etwa bei Tanja A. Börzel, Der „Schatten der Hierarchie“ – Ein Governance-Paradox?, in: Gunnar Folke Schuppert / Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden 2008, S. 118–131.
5 Diese Problematik wurde im Rahmen der Debatte um einen Wandel von Staatlichkeit breit diskutiert. Dazu hier lediglich Gunnar Folke Schuppert, Was ist und wie misst man Wandel von Staatlichkeit?, in: Der Staat 47/3 (2008), S. 325–358.
6 Dazu Markus Hilz, Governance in der Kritik, in: Katrin Möltgen-Sicking / Thorben Winter (Hrsg.), Governance. Eine Einführung in Grundlagen und Politikfelder, Wiesbaden 2019, S. 269–296.
7 Vgl. dazu die Diskussion bei Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968 – Eine Wahrnehmungsrevolution? Horizont-Verschiebungen des Politischen in den 1960er und 1970er Jahren, Berlin 2013.
8 Als Überblick lediglich Peter Collin, Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive. Studien und Materialien, in: Max Planck Institute for European Legal History Research Paper Series No. 2018/05.

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