M. Sieber: Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918

Cover
Titel
Schneller, weiter, billiger, mehr?. Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918


Autor(en)
Sieber, Markus
Reihe
Verkehrsgeschichte Schweiz (3)
Erschienen
Zürich 2022: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
360 S., 20 SW-Abb., 43 Grafiken, 28 Tabellen
Preis
€ 48,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Isabelle Fehlmann, Institut für Landschaft und Urbane Studien, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

1970 öffnete im aargauischen Spreitenbach das erste große Shoppingcenter der Schweiz seine Tore und die Besucherströme bezeugten, wie dieser neue Superlativ einer Einkaufs- und Erlebnislokalität den Nerv der Zeit traf. Die meisten Besucherinnen und Besucher reisten mit dem Automobil an, 1.550 Parkplätze boten dafür die passende Infrastruktur – zusammen mit dem 1972 fertiggestellten Autobahnanschluss.1 Ebenfalls Anfang der 1970er-Jahre monierte der Schriftsteller und Sprachkritiker Hans Weigel die unpräzise Benutzung des damals schon in Konjunktur stehenden Begriffs Mobilität.2 Ausgehend von Weigels Kritik beginnt Markus Sieber seine Publikation mit einer Analyse der Definition von Mobilität und Verkehr sowie des oft unbedachten synonymen Gebrauchs der beiden Begriffe. Die 1970er-Jahre liegen in der Mitte des großen zeitlichen Rahmens von 1918 bis 2015, in dem die Studie die Mobilitäts- und Verkehrsgeschichte im Kontext der Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte der Schweiz untersucht. Die in dieser Dekade liegenden Eröffnungen von Autobahnabschnitten und Shoppingcentern stehen dabei symptomatisch für eine Entwicklung, die der Autor bereits in seiner Titelwahl „Schneller, weiter, billiger, mehr?“ skizziert. Der springende Punkt ist dabei die Interpunktion: Das Fragezeichen vermittelt, dass diese gemeinhin als gültig wahrgenommene Entwicklung einer kritischen Betrachtung unterzogen werden soll. Die Hauptquellen dazu bilden die zeitgenössische Fachliteratur, statistische Erhebungen, Zeitschriften und Zeitungen.

In drei Hauptkapiteln nähert sich Sieber seinem Forschungsgegenstand von verschiedenen Seiten. Im ersten und umfassendsten Teil steht die Eruierung der Verkehrsentwicklung seit 1918 im Zentrum. Sieber wählt dabei eine chronologische Gliederung und blickt in allen Zeitabschnitten auf den Individualverkehr, den öffentlichen Verkehr und den Langsamverkehr. Von 1918 bis 1945 sind nicht nur die Geschichte des Fußverkehrs und der Verkehrserziehung Thema, sondern auch, wie bereits in der Verkehrsplanung der Zwischenkriegszeit Grundsteine für die Dynamiken der Nachkriegszeit gelegt wurden. Es folgt mit 1945 bis 1970 die Phase der Massenmotorisierung und der Ausbau der Infrastruktur, wobei Sieber ebenso auf den lokal organisierten Widerstand eingeht (S. 100ff.). Siedlungs- und Raumentwicklung sowie soziokulturelle und sozioökonomische Wirkungen der Massenmotorisierung werden aus der Perspektive der Verkehrsgeschichte beleuchtet. Dazu gehört ferner die Erkenntnis, dass die gängige Annahme des damals lahmgelegten öffentlichen Verkehrs und Langsamverkehrs relativiert werden muss. Der Autor argumentiert, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung bis in die 1960er-Jahre ganz ohne Auto auskam oder noch immer regelmäßig zu Fuß ging (S. 107ff., S. 118ff.). Der letzte Zeitabschnitt deckt die Jahre von 1970 bis in die jüngste, auf 2015 datierte Vergangenheit ab. Hier bespricht Sieber im Kontext der anhaltenden Dominanz des Personenkraftwagens auch dessen sozialen Einfluss auf Geschlechter- oder Generationendisparitäten. Die Förderung des öffentlichen Verkehrs im Zeichen des ökologischen Aufbruchs und des Langsamverkehrs im Aktionsradius der Stadtplanung bilden ebenfalls Inhalte dieses Abschnitts. Im Fazit und der internationalen Einordnung identifiziert der Autor den erfolglosen Fahrradlobbyismus in der Zwischenkriegszeit als Mitgrund für den hinsichtlich der Velofreundlichkeit bis in die Gegenwart reichenden Rückstand der Schweizer Städte (S. 88). Solche Rückschlüsse bietet das Buch in allen Themenbereichen und legt damit historiographische Bausteine zur Gegenwartsanalyse.

Das Übergangskapitel „Vom Verkehr zur Mobilität: Zeit für einen Perspektivenwechsel“ deutet an, dass im zweiten Teil verbreitete Annahmen zur Mobilitätsentwicklung durch den historischen Blick auf die Probe gestellt werden. Der Autor führt dazu beispielsweise aus, wie der stetigen Verbilligung der Mobilität die Erhöhung der Verkehrsausgaben der privaten wie staatlichen Haushalte gegenübersteht (S. 196f.). Mit dem Fokus auf „Mobilität und Arbeit“ zeichnet Sieber anschließend nach, wie die Mehrheit der Pendlerinnen und Pendler bis 1980 die Grenze der Gemeinde oder der Stadt nicht passierte, was aber erst ab den 1970er-Jahren ergänzend zum sogenannten Interkommunalen Pendeln in Statistiken erfasst wurde, und wie solche blinden Flecken der Erhebungen wiederum das Planungsverhalten der Wissenschaft und Politik prägten (S. 209f.). Nach Betrachtungen zur residenziellen Mobilität und „vernachlässigter Akteure“ stellt „Mobilität und Freizeit“ den zweiten Themenschwerpunkt dar. Einflüsse der Säkularisierung und Kommerzialisierung der Freizeit oder die Entstehung des „Weekends“ sind dabei ebenso Gegenstand wie die Verwurzelung des Spaziergangs in der Hygienebewegung des frühen 20. Jahrhunderts.

Im dritten Teil würdigt der Autor die Mobilität als sozialen Prozess und die Gestaltungskraft des Individuums in Bezug auf seine Lebenssituation und verortet diese im new mobilities paradigm. In einem Generationenvergleich befragte Sieber mit der Methode der oral history Rentnerinnen und Rentner, in den 1960er-Jahren geborene Babyboomer sowie Vertreterinnen und Vertreter der Generation Y mit Jahrgängen in den 1980ern zu ihren Mobilitätsbiografien. Auch wenn die Einblicke in die Lebensläufe als Schlaglichter anmuten, erlauben sie ergänzend zur gegenwartsbasierten Perspektive auf die Vergangenheit eine zeitgenössische Kontextualisierung des Themas.

Die dem Buch zugrunde liegende Dissertation entstand im Rahmen des an der Universität Bern durchgeführten Forschungsprojektes „Mobilität im schweizerischen Bundesstaat. Ein neuer Blick auf die Verkehrsgeschichte der Schweiz nach 1848“.3 Der Forschungsgegenstand wurde im Kontext sozialer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen untersucht und eröffnet dadurch die Tragweite der Wechselwirkungen, die die jeweiligen Dynamiken aufeinander hatten. Eingebettet in dieses umfassende Projekt knüpft Siebers Arbeit ebenso an die im Feld der Verkehrs- und Mobilitätsgeschichte erbrachten Leistungen des Historikers Christoph Maria Merki4 an. Die in der gegenwärtigen Forschung vermehrt geforderte Einordnung grenzüberschreitender Impulse thematisiert Sieber allerdings nur am Rande. Dennoch, für die Schweiz ist ihm die als Anspruch formulierte „nuancierte Betrachtungsweise“ der „These von der immer mobiler werdenden Gesellschaft“ (S. 188) gelungen. Zum einen vermag der Autor mit seinen Analysen an gängigen Postulaten der Mobilitätsgeschichte zu rütteln, indem er bisher im toten Winkel der Historiografie verbliebene Ansätze einbringt und neue Zusammenhänge aufzeigt. Zum anderen rückt er auch bisher wenig beachtete zeitliche Konstanten in den Blick – als ihrerseits nicht zu unterschätzende Komponenten, die im Zeichen des Klimawandels angestrebten Veränderungen in der Verkehrsentwicklung herbeizuführen. In einem eloquenten und flüssigen Stil verfasst, bietet Sieber hier ein Set an Forschungserkenntnissen, das gleichermaßen ein breites Publikum anzusprechen wie weitere Forschungsprojekte zu inspirieren vermag.

Anmerkungen:
1 Fabian Furter und Patrick Zehnder (Hrsg.), Zeitgeschichte Aargau 1950–2000, Zürich 2021.
2 Hans Weigel, Die Leiden der jungen Wörter. Ein Antiwörterbuch, Zürich 1974, S. 97.
3 Mobilität im schweizerischen Bundesstaat. Ein neuer Blick auf die Verkehrsgeschichte der Schweiz nach 1848, https://www.hist.unibe.ch/forschung/forschungsprojekte/mobilitaet_im_schweizerischen_bundesstaat/projektinfo/index_ger.html (31.10.2022). Aus diesem Forschungsprojekt hervorgegangen sind auch: Benjamin Spielmann, „Im Übrigen ging man zu Fuss“. Alltagsmobilität in der Schweiz von 1848 bis 1939, Basel 2020; Ueli Haefeli, Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert. Unterwegs sein können, wollen und müssen, Verkehrsgeschichte Schweiz 4, Zürich 2022.
4 Christoph Maria Merki, Verkehrsgeschichte und Mobilität, Stuttgart 2008; ders., Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Strassenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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