T. Mergel: Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne

Cover
Titel
Staat und Staatlichkeit in der europäischen Moderne.


Autor(en)
Mergel, Thomas
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Historisches Seminar, Universität Tübingen

Ein großes Thema auf knappem Raum, zumal „Moderne“ weit gefasst wird: die letzten 500 Jahre in Europa, aber auch ein Kapitel zu „Antike Staatlichkeit und Entstaatlichung im Mittelalter“. Weitere Kapitel sind der Frühen Neuzeit und dem Absolutismus gewidmet. Am ausführlichsten werden das 19. und 20. Jahrhundert behandelt. Das Buch endet mit je einem Kapitel zur europäischen Integration und zur offenen Frage „Staatlichkeit in der Krise?“ Im Mittelpunkt stehen Deutschland, Großbritannien und Frankreich, Vergleichsblicke richten sich vor allen auf die USA, auch auf Lateinamerika, die europäischen Kolonialreiche und den bolschewistischen Staat. Gefragt wird stets, was bedeuteten Staat und Staatlichkeit, wie entwickelten sie sich. Es geht um Historisierung. Allerdings werden immer wieder mehrere Jahrhunderte im Zeitraffer überblickt, wenn etwa die Methoden der Gesellschaftsbeobachtung und der politischen Handlungsanleitungen, die daraus abgeleitet wurden, vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart resümiert werden (S. 149) oder wenn auf je drei Seiten zwischen „Top-down oder Bottom up?“ (Kapitel 6.3) in der „Geschichte von Staatlichkeit“ abgewogen wird und „Kolonialreiche und kolonialer Staat“ (Kapitel 5.3) betrachtet werden. Gedacht ist das Buch als „einführende Synthese für Studierende und Forschende“ (S. 28). Man muss einiges Wissen mitbringen, wenn man sich solche langen Linien veranschaulichen will. Aber das ist bei einer solchen Synthese wohl nicht zu vermeiden. Thomas Mergel verlangt Studierenden einiges ab. Und Forschenden auch.

„Staat und Staatlichkeit“, diese Doppelung als Leitlinie seiner Darstellung unterstreicht Mergels Historisierungskonzept. Als Staatlichkeit definiert er „das Bündel an Funktionen, das […] einen Staat ausmachen kann“, das aber auch unvollständig auftreten kann. In allen Kapiteln fragt er, welche Art von Staat und welche Staatlichkeitsfunktionen festzustellen sind. „Staat“ soll also nicht als statische Größe und auch nicht als vermeintlich geschichtsnotwendige Organisationsform erscheinen. Lateinamerikanischen Ranchern und Großgrundbesitzern schreibt er eine „vegetative Staatsfeindlichkeit“ zu (S. 95).

Das Buch ist zwar chronologisch aufgebaut – von der Antike bis zur Gegenwart mit Zukunftsblicken –, doch es als eine historische Überblicksdarstellung zu lesen, hieße, die Konzeption misszuverstehen. Stets geht es darum zu erörtern, was „Staat“ in dem jeweiligen Umfeld ausgemacht hat, welche Funktionen von Staatlichkeit vorhanden waren. Für die Frühe Neuzeit konzentriert sich Mergel auf die zentrale Rolle des Krieges für Staatsbildung und auch für die Staatstheorie, die Lernerfahrungen aus dem Bellizismus dieser Epoche formuliert. An der Zeit des Absolutismus interessiert ihn vor allem, wie Staatsaufgaben erweitert wurden, welche Grenzen dabei gezogen blieben. Vom Leviathan zum „Dienstleister“ (S. 77), zumindest in Ansätzen und als Programm. Das Revolutionskapitel weitet den Blick auf die USA und Lateinamerika. Diese Ära habe trotz aller Widersprüche zweierlei in die Zukunft von Staat und Staatlichkeit eingeschrieben: den Willen zur Mitsprache und die Vorstellung, der Nationalstaat stehe für die Zukunft des Staates. Das anschließende Kapitel 5 „Staatlichkeit zwischen Nation und Imperium“ setzt viel Vorwissen voraus oder erfordert vertiefende Lektüre. Hier wird Theodor Schieders Typisierung von Nationalstaatsbildungen vorgestellt und die koloniale Expansion europäischer Staaten wird sehr knapp unter dem Aspekt von Staatlichkeit angesprochen. Auch der Hinweis auf die „Nationalisierung der Monarchie“ (S. 105), ein außerordentlich folgenreicher Prozess, erfordert weitere Lektüre.

Ein weites Feld öffnet Kapitel 6 „Staat nach innen, Staat nach außen“ mit Schwerpunkt auf die innere Staatsbildung. Man wird es als den Mittelpunkt des Buches bezeichnen dürfen. Hier wird konkretisiert, was mit dem „Bündel an Funktionen“, die Staatlichkeit genannt werden, gemeint ist und was im 19. Jahrhundert an Neuem erreicht und angestrebt worden ist. Neun Funktionsbereiche werden thematisiert: Verfassung und Recht, Verwaltung, Steuern und Schulden, Polizei, Militär und Wehrpflicht, Staat und Kirche, Bildung, Beobachtung der Gesellschaft und Wohlfahrt. Abgeschlossen wird dieser Teil durch die schon erwähnte Abwägung zwischen Top-down und Bottom-up. Dazu wäre im einzelnen viel zu sagen. Nur ein kleiner Widerspruch: Die Einheit von Forschung und Lehre zeigt zwar, dass die Universität weniger verstaatlicht war als andere Bildungsbereiche. Doch dieses Einheitspostulat bildete den Kern des deutschen Universitätsmodells – die Universität als Bildungsinstitution, weil dort geforscht wird. Dies war das Besondere an jener Universität, wie sie im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum entstanden ist.

Ein weiteres Kernkapitel, wenngleich erheblich kürzer, schließt sich an: „Staat und politische Partizipation“ im langen 19. Jahrhundert. „Irgendwer konnte immer mitsprechen.“ (S. 154) Mit Blick darauf bestimmt Mergel das 19. Jahrhundert als „eine Zeit der – höchst konflikthaften – Experimente mit unterschiedlichen Modellen von Partizipation“ (S. 155). Hier werden unterschiedliche Formen von Monarchie vorgestellt mit dem monarchischen Konstitutionalismus als „Normalfall“ (ebd.). Ein Fazit der Betrachtungen lautet: Demokratie im heutigen Verständnis habe es im 19. Jahrhundert nicht gegeben, wohl aber „Demokratisierung“ als beständigen Kampf (S. 159). Erläutert wird das an Parlamenten und Parteien, an denen sich „Staat als Mitwirkungskultur“ (S. 162) zeige, am Wählen und sehr summarisch an sozialen Bewegungen von der Arbeiterbewegung bis zu den Gelbwesten in Frankreich.

Für den Übergang in die Gegenwart ist Kapitel 8 zuständig: „Erster Weltkrieg, Bolschewismus und Nationalsozialismus“. Den Weltkrieg begreift Mergel als grundlegend für die Veränderung von Staatlichkeit. Das Politische wurde militarisiert, Krieg und Politik analogisiert, der Sozialstaat ausgebaut, die Auflösung der Kolonialreiche habe eingesetzt (wenngleich die Sieger ihre zunächst erweiterten). „Bolschewismus und Nationalsozialismus waren die extremsten Ausprägungen einer Form von Staatlichkeit, die als Mittel, um Homogenität und Eindeutigkeit herzustellen, zu äußerster Gewalt bereit war.“ (S. 191). Doch Mergel thematisiert auch „Fließende Übergänge“ (S. 191–196), in denen „Grenzen zum demokratischen Gegenentwurf“ (S. 192) verschwimmen, und er zieht die „Kultur der allseitigen Kontrolle“ bis zum „‘digitalen Leninismus‘“, in dem „vielleicht“ eine „Homogenitätsutopie neuen Typs“ sichtbar werde (S. 196).

Die letzten drei Kapitel skizzieren die neuen Steuerungsinstrumente im Interventionsstaat mit den unterschiedlichen Typen von „‘Wohlfahrtskapitalismus‘“ und der „sehr viel intensiveren Beobachtung und Durchleuchtung von Bürgern und Gesellschaft“ (S. 212). Und es wird gefragt, ob die europäische Integration eine neue Form von supranationaler Staatlichkeit hervorbringe. Hier bleibt Mergel in der Einschätzung zurückhaltend: „Momente einer europäischen Staatsbürgerlichkeit“ seien „in nuce sichtbar“ (S. 223), und die EU als „Sehnsuchtsort“ sorge für „Demokratisierung“ und Stabilisierung von Staaten (S. 233), doch die „nationalstaatliche Verfasstheit der EU“ erscheine „schwer überwindbar“ (S. 239). Ob die EU als „Modell von koordinierter Staatlichkeit“ (S. 241) eine Antwort sein könne für die Krise von Staatlichkeit, auf die er im Schlusskapitel blickt, bleibt offen.

Ein anspruchsvolles Buch. Thomas Mergel entwirft seine Geschichte von Staat und Staatlichkeit nicht als eine Fortschrittsgeschichte, aber doch als eine Geschichte, in der schubweise neue Funktionen von Staatlichkeit entstehen und sich deshalb der Staat verändert. Die Entwicklungsrichtung, die er nachzeichnet, verläuft in Richtung mehr Mitwirkung und mehr soziale Sicherheit. Dass daraus kein historisch verbürgter Fortschrittsoptimismus abgeleitet werden sollte, hält Mergel seinen Leserinnen und Lesern mit dem Schlusssatz vor Augen: „Ob allerdings die historisch einzigartige Friedlichkeit, die den post-westfälischen Staat in Europa seit 70 Jahren auszeichnet, am Ende ein Zukunfts- oder ein Schwächemoment ist: Darüber verbieten sich für einen Historiker die Spekulationen.“

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension