Über Jahrzehnte hinweg hatte sich in der italienischen Öffentlichkeit das Selbstbild gehalten ‚Hitlers letztes Opfer‘ gewesen zu sein.1 Auch die Geschichtswissenschaft in Italien hat sich in ihrer Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit in den ersten vier Jahrzehnten der Republik nahezu ausschließlich auf den Widerstand gegen die Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland von 1943 bis 1945 konzentriert. Die einundzwanzigjährige faschistische Diktatur mit allen ihren brutalen Formen von Unterdrückung und physischer Gewalt und ihrer bestialischen Kriegsführung in Afrika ist demgegenüber eher außer Acht gelassen worden. Das Bild einer breite Schichten der italienischen Bevölkerung erfassenden Widerstandsbewegung wurde gleichsam zur Gründungslegende der italienischen Republik, die erst mit dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems seit den 1990er-Jahren zerstoben ist. Zu diesem alten Selbstbild gehörte die Ausblendung der Judenverfolgung seit Mitte der 1930er-Jahre ebenso wie die aktive Teilhabe von Italienern an der Deportation der Juden aus Italien in der Zeit der deutschen Okkupation. Für die Stadt Rom hat nun Frauke Wildvang in ihrer bei Bernd Weisbrod in Göttingen entstanden Dissertation die Partizipation der italienischen Bevölkerung und der städtischen Behörden an der Verfolgung der Juden von 1936 bis 1944 rekonstruiert.
Die Aufarbeitung dieses Kapitels der italienischen Vergangenheit ist nicht zuletzt durch das Werk des Historikers Renzo De Felice erschwert worden, der vor allem mit seiner monumentalen Biographie von Benito Mussolini das Feld lange dominierte. Obwohl er sich als einer der ersten Historiker mit der Lage der Juden im faschistischen Italien beschäftigt hatte, behinderte er die Auseinandersetzung über die Verstrickung der Italiener in die Judenverfolgung vor allem durch sein erklärtes Ziel, die historische Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus aus dem „sengenden Lichtkegel des Holocaust“ (S. 26) herauszuhalten.2 Dennoch ist durch die Arbeiten von anderen italienischen Historikerinnen und Historikern wie Enzo Colotti, Michele Sarfatti oder Liliana Picciotto mittlerweile dieses Selbstbild der italienischen Nachkriegsgesellschaft nachhaltig erschüttert worden. Schon der israelische Historiker Meir Michaelis hatte in seiner Arbeit von 1978 gezeigt, dass die Rassegesetze im Gegensatz sowohl zu den Einschätzungen zeitgenössischer, jüdischer wie nichtjüdischer Beobachter als auch geschichtswissenschaftlicher Darstellungen, in keiner Weise auf Druck des nationalsozialistischen Deutschland zustande gekommen waren. Anfang der 1990er-Jahre hat David Bidussa den seither immer wieder verwendeten (und fast schon überstrapazierten Terminus) von den ‚Italiani brava gente‘ geprägt, um das beschönigende Selbstbild der italienischen Nachkriegsgesellschaft zu kritisieren. Zuletzt ist Amedeo Osti Guerrazzi der Kollaboration der römischen Bevölkerung nachgegangen und hat die aktive Teilhabe derselben an der Verfolgung der Juden herausgearbeitet.3
Frauke Wildvang zeigt in ihrer Dissertation nach einer kurzen Rekapitulation über die Emanzipation der Juden in Italien und die Entstehung des vornehmlich von der katholischen Kirche propagierten Antisemitismus, was für einen tiefen Schock die Rassegesetze von 1938 unter den Juden in Italien hervorgerufen hatten. Das Entsetzen darüber war vor allem deswegen so groß, weil der Antisemitismus in den ersten Jahren des Faschismus „keine signifikante Rolle“ (S. 74) gespielt hat und Juden in großer Zahl aktiv an der faschistischen Bewegung teilgenommen hatten. Die antisemitischen Pressekampagnen der 1930er-Jahre haben daher zu einer Spaltung der jüdischen Gemeinde von Rom geführt, und profaschistische Juden Roms haben darauf mit einer noch stärkeren Anpassung an das Regime geantwortet. Detailliert geht Wildvang der Frage nach, wie die Bürger Roms und die katholische Kirche auf den mit den Rassegesetzen verordneten Ausschluss der Juden aus Schulen und Universitäten sowie auf die wirtschaftlichen Ausgrenzungen, Entlassungen, Berufsverbote und Enteignungen reagiert haben. Dem Jahr 1938 und dem Erlass der Rassegesetze folgte eine zunehmende Verschärfung der antijüdischen Verordnungen, Kampagnen und Aktionen, und die Juden Roms sahen sich zudem mit einer großen Zahl von Denunziationen konfrontiert. Mit dem Kriegseintritt Italiens im Juni 1940 verschlechterte sich die Lage der Juden weiter. Schon am Tag der Kriegserklärung war ein faschistisches Kommando in das Ghetto von Rom eingefallen und hatte dessen Bewohner schikaniert.
Im Unterschied zur üblichen Chronologie bilden der Sturz Mussolinis im Juli 1943 und der Beginn der deutschen Besetzung Italiens für Wildvang keine den Aufbau ihrer Studie strukturierende Zäsur. Der Beginn der deutschen Okkupation fällt vielmehr mitten in das Kapitel „Judenverfolgung im Zeichen der ‚Achse‘“. In diesem stellt Wildvang zunächst die Judenpolitik in den von Italien besetzten Gebieten Kroatiens, Griechenlands und Frankreichs dar – auch wenn dieser Aspekt nicht unmittelbar zum lokalen Schwerpunkt ihrer Studie gehört – und greift dabei die in der Literatur geführte Debatte über die Hilfe des italienischen Heeres und italienischer Diplomaten für die verfolgten Juden auf.
Ausführlich widmet sich Wildvang dem Aufbau des SS-Verfolgungsapparates und den antijüdischen Maßnahmen in Rom seit September 1943. Mit großer Präzision stellt sie vor allem die Razzia im Ghetto von Rom am 16. Oktober 1943 dar, beginnend mit den ersten Plänen des SS-Kommandos, über die Zusammenarbeit deutscher und italienischer Dienststellen bei der Erstellung der Listen der zu deportierenden Juden bis hin zur Durchführung der Aktion. Innerhalb weniger Stunden sind 1.250 Jüdinnen und Juden Roms verhaftet und etwa 1.030 nach Auschwitz deportiert worden, eine Zahl, die indes weit entfernt von den von Himmler geforderten 8.000 zu deportierenden Juden lag. Dass nicht wenige Juden durch die Hilfe und Unterstützung nichtjüdischer, zum Teil gar faschistischer Römer gerettet werden konnten, deutet Wildvang als Beleg dafür, dass der Antisemitismus nicht zu einem „elementaren Bestandteil der faschistischen Bewegung“ (S. 269) geworden war. Papst Pius XII., unter dessen Fenstern sich – so die vielzitierte Formulierung aus dem Bericht des deutschen Botschafters beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker – die Razzia vom 16. Oktober vollzogen hatte, hat hingegen geschwiegen, wie Wildvang mit großer Klarheit betont, und dies, obgleich er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schon eine Woche vorher über die Pläne informiert war.
Die 10.000 in Rom verbliebenen Juden mussten nun versuchen unterzutauchen oder die Stadt zu verlassen. Gleichzeitig bemühten sich sowohl die deutsche Besatzung als auch die republikanisch-faschistischen Dienststellen um die Ergreifung von Juden, wobei es immer wieder auch zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen beiden kam. Ein Ende war erst erreicht, als im Juni 1944 die Alliierten in Rom einmarschierten und die Stadt befreiten. Bis es soweit war – „Im Zerfall“, so der prägnante Untertitel des letzten Kapitels – kam es nochmals zu einer „Radikalisierung“ der Judenverfolgung. An dieser war nicht nur die römische Polizei maßgeblich beteiligt. Es trat in diesen Monaten zudem eine Reihe von faschistischen Banden hervor, die mit krimineller Energie und verlockt durch die von den Deutschen ausgesetzten Kopfgelder gnadenlos Jagd auf Juden machten und anschließend deren Wohnungen ausplünderten. Eine der berüchtigtsten und erschreckendsten Gestalten, die sich dabei hervorgetan hatte, war die 18-jährige, aus dem Ghetto von Rom stammende Jüdin Celeste di Porto, die eine große Zahl von Juden an die Deutschen verraten hat. Dabei hatte sie mit ihrer Gruppe, der „Banda Pantera Nera“, zusammengearbeitet, die gar über ein eigenes Büro im Gestapohauptquartier verfügte.
Auch die unbezweifelbar bewiesene Hilfe und Rettung von italienischen Juden in ihre Arbeit einbeziehend, hat Frauke Wildvang mit ihrer Dissertation am Beispiel der Stadt Rom einen grundlegenden Beitrag für die Aufarbeitung der Verstrickung der italienischen Bevölkerung in die Judenverfolgung in Italien geleistet. Auch wenn ihre Arbeit nicht als komparative Studie angelegt ist, macht Wildvang gleichwohl immer wieder auf den Unterschied des Antisemitismus im deutschen Nationalsozialismus und im italienischen Faschismus aufmerksam, und in ihrem Schlusswort betont sie noch einmal die besondere Rolle der Juden im faschistischen Italien. Antisemitismus, so Wildvangs treffende Bemerkung, war im italienischen Faschismus „eine sekundäre ideologische Disposition“ (S. 363), die es bis mindestens Mitte der 1930er-Jahre einer großen Zahl von italienischen Juden erlaubt hat, „sich als Faschisten zu betrachten“ (S. 369). Auch zeichnete sich der italienisch-faschistische Antisemitismus durch das, so Wildvang, „Fehlen einer exterminatorischen Konsequenz“ (S. 197) aus. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht jedoch nicht der Vergleich; Wildvang geht es vielmehr um die zentrale Rolle der Bürger Roms und der städtischen Behörden bei der Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung der Juden seit 1938. Aufgrund einer Fülle von Archivquellen hat Wildvang deutlich gemacht, wie sehr die Bevölkerung und insbesondere die Polizei zur Deportation und damit zum Mord an den Juden beigetragen haben. Zu kritisieren sind lediglich die Reihenherausgeber, die es versäumt haben, ein Register erstellen zu lassen. Durch diesen Mangel ist das wissenschaftliche Arbeiten mit dieser grundlegenden Studie nicht unerheblich beeinträchtigt.
Anmerkungen:
1 Siehe dazu den neuen Literaturbericht von Anke Silomon, Hitlers erstes und Hitlers letztes ‚Opfer‘: Vergangenheitspolitik in Österreich und Italien zwischen 1945 und 1989, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), H. 3, S. 439-466.
2 So seine Formulierung in einem Interview in der Zeitung Corriere della Sera vom 27. Dezember 1987; zur Bedeutung von De Felice vgl. Emilio Gentile, Renzo De Felice. Lo storico e il personaggio, Roma Bari 2003.
3 Amedeo Osti Guerrazzi, Caino a Roma. I complici romani della Shoah, Roma 2005; Ders., Kain in Rom. Judenverfolgung und Kollaboration unter deutscher Besatzung 1943/44, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), Nr. 2, S. 231-268.