Die englische Originalausgabe dieses Titels stammt aus dem Jahr 2021. Die deutsche Übersetzung erschien, kurz nachdem Russland seinen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 auf das ganze Land ausgeweitet hatte. Es handelt sich um einen Band, der bereits erschienene und neu geschriebene Texte vereint. In vier großen Abschnitten behandelt Serhii Plokhy nicht die gesamte Geschichte der Ukraine, sondern vier Zeitabschnitte: in Teil I die Geschichte der Kosakenukraine in der Frühen Neuzeit, vor allem im 17. Jahrhundert; in Teil II das kurze 20. Jahrhundert zwischen den Revolutionen von 1917/18 und dem Ende der Sowjetunion 1991; in Teil III die jüngste Zeitgeschichte der Ukraine seit 1991 sowie in Teil IV Perspektiven der Geschichtsschreibung in unserer Gegenwart. Diese Rahmenbedingungen könnten eine fragmentierte Lektüre womöglich unzusammenhängender Texte erwarten lassen. Es handelt sich jedoch um ein Buch, das klar erkennbar ein Fundament und einen roten Faden hat.
Das Fundament sind die Arbeitsschwerpunkte Plokhys, der zunächst mit Forschungen zur Kosakenukraine in der Frühen Neuzeit hervorgetreten war, bevor er sich in mehreren Publikationen der Geschichte des 20. Jahrhunderts zuwandte. Somit bewegt Plokhy sich in allen Texten dieses Bandes auf vertrautem Terrain und schöpft aus einem beeindruckenden Wissensfundus. Der rote Faden ist gekennzeichnet von übergreifenden Fragestellungen nach der Unabhängigkeit und Kohärenz von Staat und Nation in der Geschichte der Ukraine. Die Teile des Buches über die Frühe Neuzeit und das 20. Jahrhundert behandeln Epochen, in denen ukrainische Staatsgründungsversuche erfolglos blieben und Ukrainerinnen und Ukrainer sich in anderen Reichen und Staaten, vor allem im Zarenreich und der Sowjetunion, mit der Herrschaft einer Zentralregierung auseinandersetzen mussten. Teil III handelt von der Nationsbildung und außenpolitischen Ausrichtung der Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit von 1991 und führt direkt zu historischen Orientierungsfragen der Gegenwart in Teil IV des Buches. Hier schließt sich ein Kreis des Buches, denn bereits in Teil I nehmen wie in der Gegenwart Fragen nach dem ukrainischen Selbstverständnis in Europa und nach der Auseinandersetzung mit Moskau bedeutenden Raum ein.
Neben der konflikthaften Beziehung zu Russland arbeitet Plokhy in mehreren Beiträgen des Buches zwei wichtige Stränge der Geschichte der Ukraine heraus. (1.) Im Verhältnis von nationalen und transnationalen Perspektiven auf die Geschichte der Ukraine nimmt Plokhy einen Perspektivwechsel vor. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Vergangenheit der Ukraine in Historiographien außerhalb des Landes stark mit Blick auf ihre transnationalen Verflechtungen in Osteuropa untersucht worden. Die Beziehungsgeschichten zu Polen und Russland haben dabei breiten Raum eingenommen und die Ukraine als Transferregion, als Grenzland untersucht. Plokhy schaut nicht von außen aus polnischer oder russischer Perspektive auf diese Transfers, sondern schlägt vor, die ukrainische Binnenperspektive auszuleuchten. So entsteht das Bild einer offenen Nation, die Grenzen nicht militärisch-expansiv, sondern kulturell überschreitet. An der Schnittstelle von Imperien, Religionsgemeinschaften und Wirtschaftsräumen hat die Ukraine selbst Einflüsse aufgenommen. Sie gibt sich damit als offene, facettenreiche und vielfältige Nation zu erkennen. (2.) Ein zweiter zentraler Strang des Buches behandelt die Vergangenheit der Ukraine als europäische Geschichte. Immer wieder stellt Plokhy den engen Zusammenhang der ukrainischen Geschichte mit zentralen Aspekten europäischer Geschichte wie Freiheit, politischer Partizipation, Demokratie und Föderationsgedanken her.
Dabei gelingt Plokhy stets aufs Neue eine erhellende Tiefenschärfe, so beispielsweise auch in den beiden Texten des Bandes über den Holodomor. Ein kurzer Text fasst zunächst die Forschungsgeschichte zum Holodomor der letzten vierzig Jahre zusammen und geht dann auf die kontroverse Frage ein, ob der Holodomor als Genozid einzustufen sei. Hier bietet Plokhy wie auch in seiner Gesamtdarstellung der ukrainischen Geschichte The Gates of Europe (2015) eine kurze und bündige Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Argumente. Sein Stil ist dabei wissenschaftlich und reflektiert. In der Gesamtdarstellung hat Plokhy es noch dabei belassen, die kontroversen Argumente zur Genozidthese zu referieren.1 Im neuen Band ist zwischen den Zeilen erkennbar, dass er mittlerweile eher geneigt ist, von Genozid zu sprechen. Er drängt seine Einschätzung der Leserschaft jedoch nicht auf. Der zweite längere Text zum Holodomor macht deutlich, dass die Genozidfrage für die historische Forschung nicht die wichtigste ist. Plokhy schildert hier erste Ergebnisse eines Kartierungsprojekts zum Holodomor an der Harvard University – https://gis.huri.harvard.edu/great-famine-project – und zeigt, wie wichtig es ist, vorliegende Erkenntnisse zusammenzuführen und auszuwerten. Die Chronologie des Holodomor, die unterschiedlichen Regionen der Ukraine, von denen Kyïv und Charkiv am stärksten vom Hungermord betroffen waren, sowie die Handlungsmaximen der Unionszentrale in Moskau und der sowjetukrainischen Partei- und Republikführung in Charkiv nimmt der Text in den Blick. Dabei gleicht Plokhy die Erkenntnisse aus Akten und statistischen Daten immer wieder mit Schilderungen zeitgenössischer Selbstzeugnisse aus der Ukraine ab. So wird der Holodomor als nach wie vor dringendes Forschungsthema sichtbar.
Insgesamt lässt sich sagen, dass es für das allgemeine Lesepublikum sicherlich empfehlenswert ist, sich vor der Lektüre des Buches einen Überblick über die Geschichte der Ukraine zu verschaffen, wie Plokhy ihn selbst mit seinem Buch The Gates of Europe vorgelegt hat. Für das Fachpublikum lassen sich viele Texte als Einladung zur Beteiligung an Forschungsdiskussionen mit Gewinn lesen. Auch für die Lehre werden viele Kapitel hilfreich sein, da sie in ihrer Eigenart von Kürze und tiefschürfender Einführung in Forschungsfragen sich hervorragend für forschendes Lernen eignen.
Anmerkung:
1 Serhii Plokhy, The Gates of Europe. A History of Ukraine, London 2015, S. 249–254. Deutsche Ausgabe: Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine, Hamburg 2022.