Paolo Squatriti hat eine aufregende Pionierstudie über einen Gegenstand vorgelegt, den es in der Vormoderne (der Bezeichnung nach) nicht gab und über dessen Bestimmung die Meinungen bis heute auseinander gehen: über Unkraut in der Karolingerzeit. Während Unkraut heute entweder biologisch oder ökonomisch, zuweilen auch über den die Biodiversität bedrohenden invasiven Charakter von Pflanzen gefasst wird (S. 13), kennt das Frühmittelalter „nutzlose“ oder „schlechte“ Kräuter, deren Qualifizierung stets relational zum menschlichen Gegenüber erfolgt (S. 4–9). Das heißt zugleich, dass die solchermaßen negativ charakterisierten Pflanzen keine stabile Einheit bilden; ihre Klassifikation gestaltet sich dynamisch.
Fußend auf dokumentarischen, historiographischen, theologischen Texten, auf Bild- und Rechtsquellen belegt Squatriti, dass Unkraut in der Zeit von 750 bis 900 ubiquitär sprießt. Das erste Kapitel handelt von der durch die Karolinger angestoßenen „cerealization“ (S. 38) – eine von vielen wunderbaren Wortschöpfungen des Autors – und vom Austausch regionaler und überregionaler Landbesitzer, der zugleich mit einem intendierten wie unbeabsichtigten Austausch auch von Pflanzen einherging. Dem Dialog von Mediävistik und Archäobotanik gilt das zweite Kapitel – diesen angestoßen zu haben, ist eine der Stärken des Buchs. Squatriti kann zeigen, dass die unerwünschten Pflanzen der Poeten, Exegeten und Chronisten wenig mit jenen gemein haben, mit denen Menschen im täglichen Acker- und Gartenbau nachweislich rangen. Er erklärt den Befund mit Verweis auf die Tradition. Denkbar wäre indes auch, dass gegen die unerwünschten Kräuter der Texte und Bilder Gegenmittel gefunden worden sind oder dass archäobotanische Untersuchungen regionaler Differenzierung harren. Im dritten Kapitel zeigt Squatriti, wie karolingische Verfasser in Anlehnung an oder Abgrenzung von den Kirchenvätern den Ursprung von Unkraut durchaus kontrovers diskutierten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Beobachtung, dass nicht nur Kräuter, die am „falschen“ Ort, sondern auch solche, die zur „falschen“ Zeit wuchsen, zu „schlechten“ werden konnten (S. 74). Das vierte Kapitel widmet sich dem klassisch-biblischen Unkraut der Unkräuter: den Disteln und ihren Ursprüngen. Komplementär dazu wird auf Grundlage der illuminierten karolingischen Genesishandschriften im fünften Kapitel die Darstellung von paradiesischen Pflanzen untersucht. Im sechsten Kapitel wird eindrucksvoll die angesprochene Dynamik von Klassifikation belegt. So konnten aus „schlechten“ Kräutern „nützliche“ werden, in der Theologie, insbesondere aber im pharmazeutischen Diskurs, der über Heilwirkung verfügende Pflanzen rehabilitierte. Das abschließende siebte Kapitel gilt dem König, dem Abt und dem Bischof als planator und prudens agricola, die das Unkraut bei den Wurzeln packen und so die Schöpfung pflegen und erhalten. Der Epilog beschließt die Studie mit wichtigen systematisierenden Überlegungen zum Klassifizieren – zur grundlegenden Bedeutung der aristotelischen „Kategorien“ im Frühmittelalter ebenso wie zum Umstand, dass Klassifikationen niemals harmlos sind: Es ist aussagekräftig, dass es „Unkraut“ in der Karolingerzeit nicht gab und jede Pflanze potentiell zu einem „guten“ Kraut werden konnte.
Die Studie konturiert einen neuen Forschungsgegenstand auf wunderbar eloquente Weise. Zuweilen wäre eine noch stärkere Verortung der wichtigen Beobachtungen denkbar gewesen – in den aktuellen Debatten Latour’scher Prägung, zu der sie einen wichtigen Beitrag leisten, ebenso wie im Detail, im Kontext einzelner Werke bzw. im historischen Kontext. An der einen oder anderen Stelle hätte ich mir auch noch stärker synthetisierende Bemerkungen vorstellen können: Welche Antropomorphisierungen für Unkraut sind verbreitet, bzw. auf welche wird verzichtet? Wie verhält sich das Bild des Gärtners zum zeitgleich ebenfalls verbreiteten Bild des Arztes für den Bischof und König? Interessant wäre auch ein europäisch vergleichender Zugriff auf die Materie. Das hätte das Buch länger gemacht, aber ich hätte jede Seite gerne gelesen. Ein größeres Lob als den Wunsch, eine Studie sei ausführlicher geraten, kann man einem Buch kaum machen. Ich wünsche dieser wichtigen Pionierstudie eine große Leserschaft.