Titel
Die "begeisterten Mägde". Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts


Autor(en)
Wustmann, Claudia
Erschienen
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Eißner, Leipzig

Im Zentrum der hier zu besprechenden Publikation stehen mit den „begeisterten Mägden“ Mitteldeutschlands nicht nur protestantische Laien, sondern zudem noch Frauen, die von Teilen der entstehenden pietistischen Szene als Prophetinnen angesehen wurden. Dieses religionswissenschaftliche Projekt stellt eine Kärrnerarbeit dar, denn der Forschungsgegenstand siedelt sich an der Schnittstelle vieler aktueller Forschungsfragen und wissenschaftlicher Diskurse an, die in ihrer Fülle nicht allesamt bedient werden können. Somit galt es, Prioritäten zu setzen – vor dem Hintergrund einer schwierigen Quellensituation keine einfache Aufgabe. Da zudem das Offenbarungserlebnis als Kern des Prophetie-Diskurses wissenschaftlich nicht zugänglich ist, richtet Claudia Wustmann ihr Augenmerk auf die „sozialen Rahmenbedingungen der Prophetie im Pietismus“, die exemplarisch anhand der Wirksamkeitsgeschichte einiger prophetischer Frauen untersucht werden (S. 11).

Zur Bewältigung dieses anspruchsvollen Vorhabens wurde das Buch in sieben Kapitel gegliedert: Nach einer Einleitung, die den Leser über Begriffe, Forschungsstand, Quellenlage und Methoden aufklärt, folgt im ersten Kapitel eine Schilderung der historischen sozio-ökonomischen Bedingungen des prophetischen Phänomens am Ende des 17. Jahrhunderts, bevor dann Kapitel 2 in die Materie „Pietismus“ einführt. Auf den folgenden 37 Seiten werden in einem „Gewaltmarsch“ die unterschiedlichsten Aspekte der bedeutendsten protestantischen Erneuerungsbewegung seit der Reformation behandelt; die Spanne reicht von den pietistischen Hauptinhalten über das pietistische Frauenbild bis hin zu Speners Beitrag zum Entstehen des separatistischen Pietismus. Das sich anschließende kurze dritte Kapitel wendet sich nun explizit dem pietistischen Prophetiebegriff zu, wobei das pietistische Offenbarungserlebnis als Einfallstor für die unmittelbare Geisteinwirkung identifiziert wird. Hier habe früh eine Heraushebung der persönlichen Offenbarung im Vergleich zur überindividuellen, durch die Bibel gegebenen Raum gegriffen und sich in Absetzung gegen den Rationalismus der lutherischen Orthodoxie gleichsam zur conditio sine qua non für eine Aufnahme in den Kreis der Gläubigen entwickelt (S. 90). Claudia Wustmann nutzt diese Seiten auch für die notwendige begriffliche Präzisierung religionssoziologischen Vokabulars (Prophet, Charisma etc.) und veranschaulicht ferner die Dialektik zwischen Öffentlichkeit und Offenbarung.

Das vierte Kapitel „Wegbreiter des radikalen Pietismus“ (S. 97-110) widmet sich einer kurzen Vorstellung Johann Arndts, Jakob Böhmes, Jane Leads, Jean de Labadies, Johann Georg Gichtels, Gottfried Arnolds und Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau. Diese recht unvermittelt einsetzende Präsentation von Personen verschiedenster Abschnitte des 17. Jahrhunderts steht trotz ihres informativen Gehaltes etwas isoliert und ohne Bindung an die Dramaturgie des Buches. Gleichwohl bildet sie das Ende des Einführungsteils; mit dem fünften Kapitel beginnt die historische Detailstudie zu den eigentlichen Protagonistinnen dieser Arbeit. Auf 56 Seiten versammelt Claudia Wustmann das verfügbare Quellenmaterial und breitet gegliedert nach den Wirkungsorten Leipzig, Erfurt, Quedlinburg, Halberstadt und Halle die einzelnen Prophetinnengeschichten aus. Die Informationen aus Manuskripten und alten Drucken werden unter Heranziehung bestehender Forschungsliteratur zu einem bunten Bild des Wirkens zumeist ungebildeter Frauen im pietistischen Milieu verknüpft.

Den letzten großen Teil bildet mit dem sechsten Kapitel eine 38 Seiten umfassende Auswertung der dargestellten Materie nach Fragen wie Interpretation der Offenbarungen als Kommunikationsmittel, der Rolle sozialer Faktoren sowie nach Relevanz und Auswirkungen der Geschlechtszugehörigkeit der Prophetinnen. Zudem kritisiert Claudia Wustmann die von Ryoko Mori formulierten Thesen zu den Offenbarungen pietistischer Laien (S. 173-176) und verweist völlig zu Recht auf fundamentale Widersprüche in deren Offenbarungsinterpretation.1 Darüber hinaus gäben problematische Prämissen wie die angenommene Verbindung von Vision und Gotteserfahrung sowie die Tendenz zu monokausalen Erklärungsversuchen Anlass, die Schlüsse Moris zu relativieren.

Ein kurzes Kapitel „Schlussbemerkungen“ (S. 212-223) rundet die Arbeit ab. In einem Fazit wird weiblicher Emanzipation durch Prophetie ein nüchternes Zeugnis ausgestellt, denn die größeren individuellen Handlungsspielräume hätten sich nicht aus einer generellen Infragestellung traditioneller Rollenmodelle ergeben, sondern „aus der göttlichen Legitimation des betreffenden Einzelfalles“, was deren gesellschaftsverändernde Kraft in der Folgezeit „eher blockiert denn gefördert“ habe (S. 223).

Die vorliegende Arbeit ordnet sich in den Kontext von Fragen nach spezifisch weiblicher Religiosität und deren Bedeutung in den religiösen Erneuerungsbewegungen des Christentums ein. Die Reformationsforschung hat erst kürzlich auf der Grundlage empirischer Befunde auf den Wandel in der religiösen Praxis im ausgehenden Reformationsjahrhundert hingewiesen und die Prägekraft des weiblichen Engagements für das Kirchenleben betont.2 Die Tatsache, dass sich vor allem die Pietisten für die Zeugnisse von Frauen aus der Frühzeit der Reformation interessierten, ist ein weiterer Grund, der Frage nach der Bedeutung der Frau und ihrer konkreten Aktivitäten im Pietismus nachzugehen. Nicht erst im Zuge der sich in den letzten Jahren vollziehenden Öffnung hat sich die vormals theologisch dominierte Pietismusforschung verstärkt der Frauenfrage zugewandt und die Rolle von Frauen als „Prophetin, Führerin und Organisatorin“ religiöser Bewegungen betont.3 Zahlreiche Arbeiten haben seit Beginn der 1990er-Jahre bereits die Rolle von Frauen im Pietismus untersucht und gezeigt, dass diese durchaus eigene Beiträge zum religiösen Erneuerungsdiskurs, das heißt vor allem zum Pietismus als Frömmigkeitsbewegung, geleistet haben und damit weit mehr als nur fromme Rezipientinnen gewesen sind. Der Einfluss dieser Frauen auf die pietistische Bewegung ist in der Pietismusforschung mittlerweile anerkannt;4 dennoch erstreckt sich die Betrachtung der Thematik nach wie vor zumeist auf Einzelpersonen als Exempel. Ausnahmen leiden an dem Nachteil, dass sie sich in der Mehrzahl auf die Biografik als Quellengrundlage stützen, was ungebildete Frauen niedrigen Standes von der Betrachtung ausschließt. Das Fehlen von Forschungen mit spezifisch geschlechtsspezifischer Fragestellung vor allem für das 17. Jahrhundert ist vielfach beklagt und vor allem mit der eingeschränkten Quellenlage sowie kirchengeschichtlichen Spezifika begründet worden.5

Vor diesem Hintergrund ist Claudia Wustmanns Arbeit als engagierter Versuch anzusehen, kritische Fragestellungen der historischen Frauen- und Geschlechterforschung an das bislang von der Forschung vernachlässigte Feld prophetischer Frauen in der frühen Neuzeit heranzutragen und Neuoffenbarungen religionssoziologisch im historischen Kontext zu verorten. Die breite und umfassende Hinführung zum Thema qualifiziert die Publikation zu einem Einführungswerk in die Beschäftigung mit dem frühen Pietismus, zumal auch die Beziehung zwischen Prophetinnen, Theologen und Laien betrachtet wird.

Ihrer Zielstellung wird Claudia Wustmann weitgehend gerecht, wenn sich auch das Fazit der Untersuchung sehr zurückhaltend ausnimmt. In eben dieser Zurückhaltung sieht der Rezensent einen deutlichen Mangel der Arbeit, da sich ausgewogenes Urteil und zwingende Schlussfolgerung nicht ausschließen und an manchen Stellen klarere Aussagen wünschenswert wären. Weiterhin fällt die – von Claudia Wustmann selbst eingeräumte – fehlende Aufnahme der medizingeschichtlichen Aspekte nachteilig ins Gewicht, mit deren Berücksichtigung sich ein grundsätzliches Dilemma der Forschungen zu prophetischen Personen, nämlich der Frage nach der Authentizität der Offenbarungen respektive ihrer alternativen Erklärung, instruktiv hätte beheben lassen können. Unausgeschöpfte Potentiale der Arbeit lassen sich weiterhin in der Engführung der religionssoziologischen Terminologie ausmachen, wo sich insbesondere die Beschränkung auf die Terminologie Webers als problematisch erweist. Insgesamt spiegelt sich beim Lesen die Spannung zwischen gebotener pragmatischer Beschränkung auf Einzelaspekte und dem Bemühen, weitere aktuelle Diskussionsstränge aufzunehmen, wider. Hier deutet sich an, dass vorliegende Publikation bei allen Verdiensten bei weitem noch kein Schlusspunkt darstellen kann und vielmehr als Ausgangspunkt für weitere Forschungen anzusehen ist. Somit bildet das Buch einen achtbaren Zugewinn zu einer interdisziplinär bereicherten Pietismusforschung. Darüber hinaus ist dies eine der ersten religionswissenschaftlichen Arbeiten zur europäischen frühen Neuzeit und sollte als Beitrag zu einer historischen Religionssoziologie gewürdigt und rezipiert werden.

Anmerkungen:
1 Ryoko Mori, Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert, Tübingen 2005. Hier werden die Offenbarungen einerseits als unbewusste psychische Vorgänge gewertet, während die Prophetinnen anderseits bewusst den pietistischen Erwartungshorizont mit dem Ziel bedient hätten, sich persönliche Vorteile zu verschaffen.
2„Die religiöse Praxis wurde allgemein mehr zur Sache von Frauen als von Männern. Das spektakuläre Wachstum religiöser Gemeinschaften von Frauen im Katholizismus der Gegenreformation war ein Zeichen dafür. Im Protestantismus zeigte sich ein anderes Phänomen: Die Männer gingen seltener zur Kirche, und in den Gemeindeversammlungen sah man mehr Frauen als Männer“ (Diarmaid MacCulloch, Die Reformation 1490-1700, München 2008, S. 852).
3 So auch der Titel des ersten maßgeblichen Aufsatzes Richard Critchfield, Prophetin, Führerin, Organisatorin: Zur Rolle der Frau im Pietismus, in: Barbara Becker-Cantarino (Hrsg.), Die Frau von der Reformation bis zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte, Bonn 1980, S. 112-137. Zum Komplex „Frau und Prophetie“ in der frühen Neuzeit siehe auch Phyllis Mack, Women as Prophets during the English Civil War, in: Feminist Studies 8,1 (1982), S. 19-45.
4 „Von Anfang an war es gewissermaßen das Erkennungszeichen des Pietismus, dass er als geistliche Bewegung galt, die maßgeblich von Frauen ausgelöst und von ihnen getragen wurde“ (Hartmut Krüger, Frauen im Pietismus. Ihr Dienst – ihre Verantwortung – ihr Einfluss, Marburg 2005, S. 73).
5 Hier sei auf den performativen Ausschluss von Frauen aus der Geschichte des Pietismus und die daraus resultierende Verzerrung des historischen Gesamtbildes verwiesen: „Die Frömmigkeit von Pietistinnen wird entweder als radikal, enthusiastisch oder separatistisch außerhalb der Geschichte der Landeskirchen angesiedelt oder auf eine zurückgezogene, individuelle Praxis reduziert. Die Kirchengeschichte privilegiert die Frömmigkeit von Männern und schafft am Beispiel verdienter Theologen und pietistischer Führer eine männliche Genealogie pietistischer Frömmigkeit“ (Ulrike Gleixner, Erinnerungskultur, Traditionsbildung und Geschlecht im Pietismus. Einleitung, in: Dies. / Erika Hebeisen (Hrsg.), Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus, Korb 2007, S. 7-20, hier 11).

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