D. Nieto-Isabel u.a. (Hrsg.): Living on the Edge

Cover
Titel
Living on the Edge. Transgression, Exclusion, and Persecution in the Middle Ages


Herausgeber
Nieto-Isabel, Delfi I.; Miquel Milian, Laura
Reihe
Studies in Medieval and Early Modern Culture
Erschienen
Berlin 2022: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 279 S.
Preis
€ 97,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Roland Christophersen, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ausgrenzungen und sie begünstigende Gruppendynamiken lassen sich anhand vieler Beispiele zeigen. Einige bietet der vorliegende Band, der sie mit der Fokussierung auf bestimmte Arten der Interaktion, der Verarbeitung von Ausgrenzung(serfahrungen) sowie den Notwendigkeiten der Eingliederung von als deviant markierten Gruppen in die Gesamtgesellschaft insofern belebt, als nach produktiven Erklärungsansätzen gefragt und dies auf breiter Quellengrundlage dargelegt werden soll. Die Produktivität erschließt sich den Leser:innen vor allem dann, wenn sie mit der Forschungsgeschichte zu Häresien, und hier besonders der südfranzösischen des 12.–14. Jahrhunderts vertraut sind. Denn mehrere Stellen nehmen auf den mittlerweile als ergiebig angesehenen Forschungsdisput zwischen „Traditionalisten“ und „Revisionisten“1 (auch: „deconstructionists“, vgl. S. 121) Bezug (beispielsweise bei Ernst passim, etwa S. 119: „historiographical dilemma“). Als Konsequenz hat der Band diejenigen Gruppen und ihre Agencies als besonders interessant erkannt, die einem Modellierungsdruck durch Erwartungen und Narrative, Abdrängungen und Verfolgungen durch Mehrheitsgesellschaften zum Handeln und Selbstentwerfen unterlagen und so zur „Co-Construction of Otherness“ (Nieto-Isabel, S. 3–19) beigetragen haben mögen. Mit dem vorliegenden Band werden Beiträge einer internationalen Early-Career-Tagung (Barcelona, 2017) veröffentlicht, die das gesamte Mittelalter mit Studien zu Westeuropa, dem Mittelmeerraum und Mitteleuropa abdecken möchten.

Die Einleitung von Delfi I. Nieto-Isabel schlägt theoretisierende Pflöcke ein. Dabei entsteht ein vollwertiger und gelehrter Text, der unter Rückgriff auf die einzelnen Kapitel verdichtet und Thesen zuspitzt. Anschaulich wird das (möglicherweise streitbare) Konzept von „Co-Construction of Otherness“ reflektiert. Ob es in den Fallstudien trägt – so viel sei vorweggenommen –, hängt auch davon ab, inwiefern die Beiträger:innen bereit waren, das Konzept zu adaptieren.

Weitere Ansätze sind ebenfalls mitunter streitbar. So gilt für das Konzept des Bandes othering als Herrschaftsausübung, man darf – wie späterhin expliziert – präzisierend einwenden: Othering funktioniert durch die Macht, Definitionen aufstellen zu können. Die Prämisse, dass bereits der Umstand der Aushandlung von Grenzbereichen Flexibilität erfordert („fluid margins“, S. 4), weicht zugleich die Annahmen über das Innen und Außen von Gesellschaften sinnvollerweise auf. Interessanter als harte Linien werden dadurch semantische Einengungsbewegungen. Schließlich möchte der Band eine Berücksichtigung von Agencies entgegen einem sonst anzutreffenden Bild des häretischen Außenseiters, der die passive Gemeinschaft in Gefahr bringe, evozieren.

In drei Untersuchungsfeldern nähern sich die Beiträge verschiedener Disziplinen dem als dynamisch und teils reziprok verstandenen Komplex von Überschreitung und Ausgrenzung, Selbst- und Fremdentwurf, Verhandlung und Agency an. Das erste zum Fundamental Edge nimmt hierfür Frauen- und Geschlechterrollen in den Blick. Sergi Sancho Fibla arbeitet mit dem Konzept der „community of interpretation“ (in Anlehnung an S. Fish und B. Stock2) am Beispiel der Schriften der Beginen von Roubaud. Im Dialog mit weiteren Quellen wird ein quellenkritisch und argumentativ überzeugendes Bild der Funktion der frühen Vita der Begründerin Doucelina von Digne (gest. 1274) gezeichnet, die auf feindselige Umgebung, Praktiken, Kontakte und Vorbilder der Beginen Bezug nehme. Identitäts- und Zugehörigkeitsfragen der Beginen werden demnach von Beginn an verhandelt und durch die lokale Memorial- und Literaturpraxis repetiert und konsolidiert. Hieraus ergebe sich, dass das vielschichtige Werk nicht als kanonisierungsvorbereitende Hagiographie zu verstehen sei, vielmehr bilde es Modelle für Heiligkeit und strukturiere Beginengemeinden anhand und durch Rezeption des Textes.

Die Ausführungen von Mireia Comas-Via erhärten systematisch die These, dass eine tatsächliche oder drohende wirtschaftliche und rechtliche Marginalisierung von Witwen dieselben in Transgression und Überwindung sozialer Normen trieb. Diese Vorgänge begannen beim Versuch, in den Besitz des Witwenguts zu gelangen, und setzten sich weitere Generationen fort, wie an den Ausführungen über sexuelle Gewalt zu ersehen ist. An Beispielen aus Barcelona gelingt es Comas-Via, komplexe Sozialstrukturen aufzufalten, indem sie Daten aus verschiedenen Abgabenlisten zu den Feuerstellen der Witwen und ihrem Anteil an allen und den weiblichen Haushaltsvorständen generiert (Tabellen S. 80f.: zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts). Die Effizienz von Vorsorgemaßnahmen, misogyne Ehrpolitiken sowie Vulnerabilitäten der Witwen und ihres Umfelds werden den Agencies von Witwen sowie städtischen Steuerungselementen gegenübergestellt.

Das zweite Untersuchungsfeld widmet sich dem Religious Edge mit Beispielen aus Häresie-, Orthodoxie-/Heterodoxie- und Gewaltdiskursen sowie anhand jüdisch-christlicher Beziehungen. Reagierend auf oben geschilderte Debatten über den Konstruktionscharakter von Häresien füllt Rachel Ernst ihr Plädoyer für neue Methoden und Narrative mit Blut. Durch die Modellierung an Augustinus‘ originellster Häresiologie, derjenigen zu den Manichäern des 4./5. Jahrhunderts, wird gleich mehrerlei klar: Erstens der Versuch, zu erklären, wie Gruppen die Konfrontation mit der vorgeworfenen Andersartigkeit aufnahmen. Zweitens, dass die diskursive Marginalisierung neben der religiösen Abgrenzung stets mit politisch-gesellschaftlichen Druckbewegungen einhergeht. Drittens, wie ein an Vorwürfen geformtes Gruppenbewusstsein zum Tragen kommen kann, konkret: Die – nur bei Augustinus beschriebenen – Catharistae (ein Sex- und Speisekult) seien ein Kult, den nur die Manichäer des römischen Reichs erst nach Jahrzehnten der Verfolgungen ausgebildet hätten, womit sie der verzerrten Vorstellung von ihnen näher gekommen seien. Viertens schließlich trage trotz dieser Beobachtungen eine monokausale Erzählung nicht, Augustinus‘ Schilderung sollte – so Ernst – nicht von vorneherein als pures Konstrukt angesehen werden (S. 139). Das läuft bei Berücksichtigung der Augustinusrezeption im späteren Mittelalter wohl v.a. darauf hinaus, dass Augustinus ein Vorbild für Verfolgung und Abgrenzung schuf (vgl. S. 140).

Die Stärke des Ernst’schen Konzepts liegt darin, die Rezeptionsgeschichte im Blick zu haben, aber doch erst die Zeitumstände zu klären, um schließlich persistierende Mechanismen zu identifizieren. Die spätere Ritenfixierung (vgl. Nieto-Isabel, S. 15) trägt, weil die als deviant und transgressiv geschilderten sexuellen Riten, die Speisegewohnheiten und die politischen Positionierungen nicht nur auf einen intellektuellen Diskurs über Doxa, sondern auf für alle verständliche Lebensrealitäten und Praktiken zielen, anders gesagt: die Polyvalenz der diskursiven Marginalisierung macht sie erfolgreich.

Stamatia Noutsou gelingt es, Funktionalisierung von Gewaltdiskussionen und deren Ausbleiben aufzuzeigen. Bernhard von Clairvaux und Gottfried von Auxerre hätten Gewalt als Durchsetzungsmöglichkeit nicht, wie die Forschung gemeinhin glaube, abgelehnt, ihre Häretikertraktate dienten aber vor allem dem Hervorbringen zisterziensischer Positionen und der Sensibilisierung für eine Verführung durch Häresiarchen. Der Ausgangspunkt für Reaktionen auf Häresie durch Bernhard und seinen Schüler seien ein zisterziensisches Verständnis der Einheit des Christentums und somit Angst vor religiöser Devianz. Die Gewaltbegriffe seien wenig untersucht. Noutsou plädiert auf eine Fokusverschiebung: weniger, ob oder ob nicht die Vordenker Gewalt gutheißen, sondern wie sie Gewalt diskutiert haben (161f.), sei aufschlussreich. Und das ist richtig. Denn zisterziensische Rhetorik ist auch in anderen Schriften mit Gewalt vertraut, sie verteidigt Gewalt auf Kreuzzügen und der „expedition against the Wends“( S. 162f.). Das dritte Lateranum, die Positionen Gottfrieds und das Agieren der Albigenserfeinde dürften eine Verschärfung des Tons mit sich gebracht haben; Noutsou spricht von einem „milestone“ in Sachen Gewalt gegen Häretiker und Kreuzzugsrhetorik (S. 172). Der Kampf gegen Häresie werde zu Verteidigung der Ehre und Tugendbeweis. Die Zisterzienser erscheinen als religiös-weltanschauliche Hardliner. So warnten die Polemiken der beiden nicht nur, sie griffen auch in Politik ein. Der Gewaltdiskurs bei Bernhard bleibe dennoch der Forderung des Diensts der weltlichen Sphären für die geistliche untergeordnet.

Erwartungen weckt die Untersuchung der Transgressionen von durch Christen errichteten Begrenzungen durch die Juden von Aragon – gerade im zeitlichen Umfeld der Verfolgungen von 1391, noch dazu aus den hebräischen Quellen dargelegt. Der Beitrag von Jordi Casals i Parés enttäuscht jedoch. Viele Ausführungen zum Gehalt der Rechtsgutachten der rabbinischen Autoritäten sind richtig und gut platziert, gerade hinsichtlich der Selbstverortung des Judentums neben Muslimen und gegen Christen. Es gehört aber zur unangenehmen Rezensentenpflicht, auf Elemente hinzuweisen, die dem Anspruch des Bandes wohl nicht gerecht werden: Die Ausführungen über die Disputation von Barcelona (S. 181) wirken eher knapp paraphrasierend und setzen kaum eigene Schwerpunkte. Das heißt nichts Gutes, bestenfalls, dass die Äußerungen für die angestrebte Analyse zu simpel sind.

Die Suche nach Gefühlen („feelings“, vgl. S. 183f.) der von Ausgrenzung Betroffenen wirkt bemüht und ertraglos. Manchmal ist unklar, von wem Quellenübersetzungen stammen (S. 188f.) und es ist nicht der Orsini-Papst Benedikt XIII. (gest. 1730), sondern der Aragonese Pedro de Luna (gest. 1423), Gegenpapst Benedikt XIII., der die Juden zur Disputation von Tortosa zwang (falsch also S. 191 und im Register). Zu dem nicht voll ausgeschöpften Potential des Ansatzes treten Mängel, die über die Fächertraditionen hinweg erkennbar sind. Das hätte im ausweislich der Vorbemerkungen erfolgten Blind-Review-Verfahren auffallen können und in der Beitragsüberarbeitung umgesetzt werden müssen. Generell ist der Aufsatz dünn belegt, zieht vorzugsweise ältere Literatur heran. Ihr gegenüber Neuerungen zu reklamieren, fällt nicht schwer, die ausgesprochen ertragreiche Forschung zu Christen, Juden und Muslimen auf der Iberischen Halbinsel im Blick zu behalten, schon eher. Sie hat sich nicht zuletzt in der Kritik des Minderheitenbegriffs hervorgetan3 – was im gesamten Band kaum rezipiert ist – und das Zusammenleben von Gruppen in multireligiösen Kontexten neubewertet.

Das dritte Feld schließlich nähert sich den Gesellschaften von den Rändern her – den Rändern des sozialen Gefüges, den Rändern des Denk-, Vor- und Darstellbaren: The Edge of the Society. Estela Estévez Benítez beispielsweise behandelt eine imaginierte Barriere, die sich in den Miniaturen zu den monströsen Völkern manifestiert. Denn manchmal handele es sich bei literarischer Monstrosität um ein Mittel zur Ausdehnung der Christenheit und um ein Hilfsmittel zum Verständnis der Grenzen der Menschen. Monsterdarstellungen und ihre graphischen wie diskursiven (Ein-)Rahmungen tragen so zur Herstellung von Ambiguitäten und Komplexitäten bei, kurz: Das Containing funktioniert als Ausweg aus ansonsten dualistischen Konzepten. Das ist nicht nur an sich ein spektakulärer Befund. Die Studie ist zudem höchst aktuell, da sie sich dem Diskurs um die Präsenzen von race und racism im Mittelalter (und seinen Erforschungen) stellt. So ergänzt der Beitrag gut etwa die Studien Mittmans4.

Der in gut lesbarem Englisch durchredigierte Band wird beschlossen durch einen Index, der Personen, Werke und geographische Referenzen erfasst. Erfreulich wäre ein Verzeichnis der sieben farbigen Abbildungen gewesen. Aktuelle Alteritätsforschung fokussiert gerne auf Praktiken, die Devianzen zeigen, konzentriert sich im Besonderen auf religiöse oder rechtliche Alteritäten – vielleicht um Debatten um ethnische Zuschreibungen und die mittelalterlichen Spuren rezenter -Ismen zu entgehen, wobei Intersektionalitäten vielfältig angesprochen werden, so beispielsweise in diesem Band: Gender, religiöse Devianz, sozialer Status, Leprosenexposition, Alter (und Körperobjektifizierung), (Un-)Freiheit, Herkunft, (proto-)rassistische Zuschreibung.

Das Buch kommt dem Rand von Gesellschaften/Gruppen, seiner Wahrnehmung und den Beschreibungsgrenzen näher, es entstehen dynamischere Bilder über Marginalisierungs- und Transgressionskulturen. Als hilfreich erweist sich die Deutungsbreite von edge – vom Rande der Gesellschaft über die unmittelbare Nähe zum Abgrund bis hin zu den Rändern von Fachtraditionen oder dem Leben und Arbeiten in Ausnahmesituationen. Letzteres scheint den Konferenzteilnehmer:innen während der CoViD-Pandemie besonders bewusst geworden zu sein – sie haben es produktiv in den Band transferiert und Ehrlichkeit erzeugt, mit der die Relevanz der Forschungsfelder im Angesicht der neu entstandenen (oder hinzugekommenen) Marginalität/Prekarisierung geschärft hervortritt. Insgesamt wird konsequent dekonstruiert, weil die Befundlage unsere Vorstellungen von Inklusion/Exklusion, Ausgrenzung, Sozialstrukturen mitunter herausfordert und durch die titelgebenden Begrifflichkeiten mit folgerichtigen Fragen konfrontiert, die eben nicht allein nach Endpunkten von Stratifizierungsvorgängen suchen, sondern dem Und dann?, also Prozessen von Wandel, Umgestaltung, Durchschreitungsvorgängen nachspürt. Das treibt viele Autor:innen zu klugen Abwägungen und nuancierten Einschätzungen an. Dass nicht alle Beiträge gleich überzeugend sind, ist bereits angeklungen.

Wer sich mit Minderheiten und Alteritäten beschäftigt, wird in diesem Band nicht nur interessantes Material finden, sondern auch eine Reihe profunder Einschätzungen und einige Neubewertungen. Letztlich hält der Band zu zweierlei an: zum Dekonstruieren alter Vorstellungen und zu einem guten Bewusstsein für den Dekonstruktionsvorgang an und für sich. Insofern erweist sich Living on the Edge nicht nur als Sammlung großenteils gelungener Detailuntersuchungen, sondern besonders als methodisch instruktive und klare Dokumentation der Chancen und Risiken von Neuansätzen in der Forschung um Exklusionsvorgänge.

Anmerkungen:
1 Siehe zur Orientierung über den Forschungsdiskurs: J. Rüdiger, Rezension zu: Sennis, Antonio (Hrsg.): Cathars in Question, Woodbridge 2016, in: H-Soz-Kult, 05.07.2017, <https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25030> (09.05.2023).
2 Etwa: Stanley Fish, Is There a Text in This Class?. The Authority of Interpretive Communities, Cambridge 1980; Brian Stock, The Implications of Literacy. Written Language and Models of Interpretation in the Eleventh and Twelfth Centuries, Princeton 1983.
3 Siehe etwa: C. Almagro Vidal / J. Tearney-Pearce / L. Yarbrough, Introduction, in: Diess. (Hrsg.), Minorities in Contact in the Medieval Mediterranean, Turnhout 2020, S. 11–30.
4 Asa Simon Mittman, Are the ‘Monstrous Races’ Races?, in: postmedieval 6 (2015), S. 36–51.

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