Die vorliegende Rezension ist keine Rezension im klassischen Sinne, da es bereits mehrere Besprechungen zu Manjapras Age of Entanglement gibt und nicht wiederholt werden muss, was andere bereits treffend formuliert haben.1Age of Entanglement wurde 2014 veröffentlicht und ist eine Studie über die Verflechtungen zwischen Deutschland und Indien, genauer über Verflechtungen zwischen deutschen und indischen Intellektuellen zwischen 1880 und 1945, dem „age of entanglement,“ wie es Manjapra formuliert.
Manjapra geht von der Prämisse aus, dass die antikolonialen Ideen der indischen Self-Rule-Bewegung und des deutschen Nationalismus Strukturähnlichkeiten aufwiesen, die sich letztlich gegen die britisch dominierte Weltordnung am Übergang des 19. zum 20. Jahrhunderts richteten. In diesem Milieu kam es zu mannigfaltigen Besuchen, Kooperationen sowie Wissens- und Ideentransfers zwischen Indien und dem deutschsprachigen Raum. Manjapra gelingt es, zahlreiche Verflechtungen, z.B. in der Physik, in der Psychoanalyse und der Kunst, nachzuzeichnen. Sein Werk zeichnet sich durch feingliedrige historische Arbeit und gleichzeitigem Weitblick aus, indem er globale Verflechtungen zwischen Deutschland und Indien in einer Zeitspanne von mehr als einem halben Jahrhundert verfolgt.
2022 ist die deutsche Übersetzung seines Werks unter dem Titel Zeitalter der Verflechtungen bei De Gruyter erschienen. Im Folgenden wird den zwei zentralen Begriffen „entanglement“/„Verflechtung“ und „encounter“/„Begegnung“ in der englischen Erstausgabe und in der deutschen Übersetzung nachgegangen. Diese Begriffe werden vor dem Hintergrund von translationswissenschaftlichen Überlegungen punktuell analysiert. Dadurch sollen zum einen diese Konzepte in Manjapras Werk nachgezeichnet und zum anderen den in der Übersetzung neugeschaffenen „Verflechtungen“ nachgegangen werden. Diese werden mit Homi K. Bhabha als Verbindung zwischen „Unübersetzbarkeit“ und „Hybridität als Notwendigkeit der Übersetzbarkeit“ verstanden.
In Manjapras Buch werden „Verflechtungen“ an einigen Stellen genauer beschrieben und mit dem Begriff der „Begegnung“ in Verbindung gebracht:
„[U]m Ähnlichkeiten soll es hier nicht gehen, sondern um Verflechtungen. […] Erstens spielten transnationale wissenschaftliche Begegnungen zwischen deutschen und indischen Nationalisten im frühen 20. Jahrhundert auch beim Kampf um politische Anerkennung eine Rolle. Zweitens begünstigten bestimmte Ausrichtungen der internationalen Politik vom ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts neue Formen des wissenschaftlichen Austauschs, und zwar über nationale und koloniale Grenzen hinweg. Drittens schließlich wird deutlich, dass die vielfältigen transnationalen Aktivitäten des deutsch-indischen Geisteslebens durch die galvanische Kraft einer dritten Größe in Schranken gehalten wurden, nämlich durch das britische Empire.“2
“[S]imilarities are not at issue here; entanglements are. […] First, transnational scholarly and scientific encounters played an important role in sustaining a pageant of political recognition between German and Indian nationalists in the early twentieth century. Second, a particular alignment of international politics in the late nineteenth to mid-twentieth centuries facilitated new kinds of scholarly and scientific encounters across national and colonial boundaries. And finally, the transnational circulations and feedback loops of German and Indian intellectual life were kept in their array by the galvanic force of a third party: the lodestone of the British empire.”3
Es ist hier herauszustellen, dass beim ersten Auftreten des Begriffs „scientific encounter“ dieser mit „wissenschaftlicher Begegnung“ übersetzt wird, während beim zweiten Mal „wissenschaftlicher Austausch“ verwendet wird. „Austausch“ und „encounter“ sind von ihrer Bedeutung her nicht deckungsgleich.
Deutlich wird, dass „Verflechtungen“ durch „Begegnungen“ entstehen. Zweitens seien diese Begegnungen durch politische Konstellationen begünstigt worden. Das Politische spielt bei Majapras Konzeptualisierung von Verfechtungen weiter eine entscheidende Rolle:
„Verflechtungen entstehen, wenn Gruppen, die sich in vielerlei Hinsichten fremd sind, plötzlich einander zu brauchen beginnen. Andersgesagt: Verflechtungen sind immer politisch und haben weniger mit Freiheit als mit Unumgänglichkeit und Macht zu tun. Und weil sie politisch sind, sind sie auch an historische Rahmenbedingungen gebunden.“4
“Entanglements occur when groups, alien from each other in many other ways, begin to need each other like crowbars or like shovels to break apart or to dig up problems of the most pressing concern for themselves. In other words, entanglements are always political ⎼ they have more to do with the realm of necessity and power than with the realm of freedom. And because they are political, they are also bound by historical conditions.”5
In diesem Abschnitt ist insbesondere auf die Auslassung des Vergleichs „like crowbars or like shovels to break apart or to dig up problems“ hinzuweisen. Dieser Vergleich mit Werkzeugen zeigt deutlich Manjapras Konzeption von Verflechtungen als instrumentelle oder gar instrumentalisierende Verbindungen. Ähnlich abgeschwächt ist die Formulierung der „historischen Rahmenbedingungen“ im Vergleich zu den „historical conditions,“ die stärker die Notwendigkeit betonen.
Verflechtungen sind also bei Manjapra mit politischen Notwendigkeiten verbunden. In seinem Beispiel der deutsch-indischen Beziehung, wie auch bereits aus der oben zitierten Textpassage hervorgeht, ergibt sich diese Notwendigkeit aus der Beziehung zum „Dritten“, zum British Empire. Dieses „Dritte“ bzw. die Überwindung der Dichotomie „Kolonisatoren und Kolonisierte“ ist ein weiteres wichtiges Moment in Manjapras Konzeption von Verflechtungen.
„Die Formen der Verflechtungen, die daraus entstanden, waren komplexer als die binäre Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonisierten, nicht überraschend, da sich Beziehungen unter Wahlverwandten sehr viel verworrener gestalten. Bei der Vernetzung mit Gruppen außerhalb Europas dachten die Deutschen nicht in binären Gegensätzen, sondern in relationalen Dimensionen, die nach dem Grad fachlicher Nähe abgestuft waren.“6
“The kinds of entanglements that would arise were more complex than the colonizer/colonized binary relationship, unsurprising since the relationships of imagined kinship are far more muddy. Germans thought of groups outside Europe in relational terms, in terms of degrees and scales of proximity, not in terms of binary opposition.”7
Es ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Abschnitt im Englischen von „muddy relationships“ gesprochen wird, im Vergleich zu „verworrenen Beziehungen“ in der deutschen Übersetzung. Dies erzeugt ein völlig anderes Bild. Zudem wird mit dem Ausdruck „fachliche Nähe“ eine Präzisierung vorgenommen, die mit dem Ausdruck „scales of proximity“, was auch einfach geographische Nähe bedeuten könnte, nicht gegeben ist.
Verflechtungen bringen also zahlreiche Beziehungen hervor, die nicht binär, sondern relational und graduell zwischen „dem Eigenen“ und „dem Anderen“ unterscheiden. Diese Beziehungen sind aber nicht willkürlich, sondern ergeben sich aus bestimmten Konstellationen:
„Die Verflechtungen zwischen deutschen und indischen Intellektuellen entstanden nicht per Zufall, sie waren auch nicht chaotisch, sondern nach thematischen Feldern organisiert. Es gab so etwas wie eine „Choreographie“ transnationaler Begegnungen. Die Institutionen, die sich der Verflechtung deutscher mit indischen Denkern widmeten, stellten den Rahmen für Begegnungen und die Medien zur Verfügung, die der deutsch-indischen Zusammenarbeit ihre besondere Gestalt verliehen. Diese Verflechtungen boten den Indern Mittel und Wege, ihren Platz in der Welt neu zu bestimmen.“8
„The conduits of entanglements among German and Indian intellectuals were not random or diffuse, but were organized within fields of dialogue. There was choreography to transnational encounters. Entanglements and the institutions that structured them provided the frameworks and the media that gave shape to German-Indian interactions. These entanglements provided Indians with ways to resituate their place in the world.”9
Es zeigt sich also, dass in Manjapras Konzeption von Verflechtungen Institutionen eine wichtige Rolle spielen, indem sie Verflechtungen strukturieren und sowohl den Rahmen als auch die Mittel für Begegnungen bereitstellen. Zugleich wird deutlich, dass „encounter,“ sich unterschiedlich wiedergeben lässt, was Bedeutungsnuancen und Bedeutungsverschiebungen im übersetzten Text zur Folge hat. Während Manjapra einmal von „encounters“ und einmal von „frameworks that gave shape to [...] interactions“ spricht, übersetzt Regina Schneider, die Übersetzerin der deutschen Ausgabe, mit „Rahmen für Begegnungen.“ Somit werden bei ihr die „Rahmen“ und „Medien“ auseinandergehalten und bei Manjapra mit den „Interactions“ verbunden. Dadurch wird in der Übersetzung der Sinn der Textstelle verschoben.
In diesen Textabschnitten wird ein interessantes Wortfeld für „Verflechtungen“ (entanglements) sichtbar. „Verflechtungen“ werden mit „Verbindungen“ (relationships), „Wahlverwandtschaften“ (imagined kinship) und „Vernetzung“ (keine Entsprechung in der englischen Version) und vor allem mit „Begegnungen“ (encounters), die wiederum mit Worten wie „Zusammenarbeit“ (interaction) und „Austausch“ (keine Entsprechung in der englischen Version) näher gefasst werden sollen, umschrieben.
Man kann erkennen, dass Manjapras Konzeption der politischen Notwendigkeit von „Verflechtungen“ ein klar aus seinen Quellen deduziertes Konzept ist. Ob dieses Konzept von „Verflechtungen“ im Kontext der christlichen Mission oder theosophischer Aktivitäten in Indien im gleichen Maße anwendbar wäre, ist fraglich. Darüber hinaus wird deutlich, dass in der deutschen Übersetzung die Dimension der Notwendigkeit abgeschwächt wird und in Begriffen wie „Wahlverwandtschaft“ und „Austausch“ eher das Bild einer „freien,“ nicht zwingend nur interessengeleiteten gegenseitigen Kooperation gezeichnet wird.
In der Übersetzung „verflechten“ sich diese Bedeutungen und das Wortfeld wird mit neuen Bedeutungshorizonten angereichert. Anders ausgedrückt, sie werden hybridisiert. Dies ist der translatorische Normalfall, und Schneiders Leistung als Übersetzerin ist auf jeden Fall zu würdigen. Manjapra hat ein vielschichtiges Werk vorgelegt, und dessen Übersetzung erforderte viel Gespür für die sprachlichen Nuancen, insbesondere da die Übersetzung nun genau in der Verflechtung zwischen Deutschland (Deutsch), Indien (die Übersetzungen Manjapras aus dem Bangla) und Großbritannien (Englisch) steht. Somit ist die deutsche Übersetzung von Manjapras Werk nicht nur eine interessante Lektüre als Sekundärquelle, sondern auch ein interessanter Forschungsgegenstand für die Translationswissenschaft.
Es zeigt sich, was aufbauend auf hermeneutischen Überlegungen in der Translationswissenschaft bereits zahlreich besprochen und belegt ist, dass Übersetzung immer mit einer Bedeutungsverschiebung einhergeht.10 Im Fall des „Verflechtungsbegriffs“ bei Majapra wird seine Konzeption der Notwendigkeit von Verflechtungen in der Übersetzung abgeschwächt und dem in der deutschen Verflechtungsgeschichte gängigeren Verständnis, wie es z.B. bei Roland Wenzlhuemer nachzulesen ist, angeglichen.11 Die Übersetzung ist gründlich gearbeitet, ist sehr gut und flüssig zu lesen und erlaubt es, Manjapras Fallbeispiele und seine grundlegenden Thesen zu verstehen. Trotzdem lohnt es sich, gerade wenn es um die theoretischen Überlegungen zur Verflechtungsgeschichte geht, die englische Ausgabe heranzuziehen.
Anmerkungen:
1 Z.B. Harald Fischer-Tiné: Rezension zu: Kris Manjapra, Age of Entanglement. German and Indian Intellectuals across Empire, Cambridge 2014, in: German Historical Institute London Bulletin 37, Nr. 2 (2015), https://doi.org/10.15463/rec.1189741792; Daniel T. Goering: Rezension zu: Kris Manjapra, Age of Entanglement. German and Indian Intellectuals Across Empire, Cambridge 2014, in: H-Soz-Kult, 04.07.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20589.
2 Kris Manjapra, Zeitalter der Verflechtungen: Deutsche und indische Intellektuelle zwischen Kaiserreich und Empire, Berlin 2022, S. 2.
3 Kris Manjapra, Age of Entanglement: German and Indian Intellectuals Across Empire, in: Harvard Historical Studies 183, Cambridge, Mass. 2014, S. 2–3.
4 Manjapra, Zeitalter der Verflechtungen, S. 6.
5 Manjapra, Age of Entanglement, S. 6.
6 Manjapra, Zeitalter der Verflechtungen, S. 44.
7 Manjapra, Age of Entanglement, S. 40.
8 Manjapra, Zeitalter der Verflechtungen, S. 96.
9 Manjapra, Age of Entanglement, S. 89.
10 Zur Einführung: Radegundis Stolze, Hereneutik und Translation, Tübingen 2003.
11 Vgl. Roland Wenzlhuemer, Globalgeschichte Schreiben, Konstanz 2017.