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Titel
Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle erstmals vollständig, ergänzt um zeitgenössische Briefe und weitere Dokumente der 1945 in England internierten deutschen Atomforscher


Herausgeber
Hoffmann, Dieter
Erschienen
Diepholz 2023: GNT-Verlag
Anzahl Seiten
588 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arne Schirrmacher, Oxford Centre for the History of Science, Medicine, and Technology, Oxford

Wollten die deutschen Wissenschaftler für Hitler eine Atombombe bauen, war die Angst der Alliierten davor berechtigt und sollte die Öffentlichkeit von dem einen oder dem anderen überhaupt erfahren? Es ging um die Ehre und Glaubwürdigkeit der deutschen Wissenschaft im Krieg und darum, ob Otto Hahn, Werner Heisenberg, Walther Gerlach oder Carl-Friedrich von Weizsäcker geeignet waren, nach 1945 Vorbild und öffentliche Stimme für die Wissenschaft zu werden. Es ging aber auch um britische und amerikanische Bestrebungen, den Diskurs darüber einzuhegen, brauchte man doch die Deutschen und ihre Wissenschaftler für eine Nachkriegsordnung. Dies erklärt die komplizierte Geschichte der Abhörprotokolle internierter deutscher Atomforscher, die erst 1992 freigegeben und dann publiziert wurden und nun dreißig Jahre später eine deutsche Neuauflage erleben, welche erstmals umfassend annotiert hohen wissenschaftshistorischen Standards genügt. Was kann diese leisten, nachdem in den vergangenen drei Jahrzehnten die sogenannten Farm-Hall-Protokolle von zahlreichen Autorinnen und Autoren für unterschiedlichste Interpretationen und für Film- und Theater-Inszenierungen genutzt wurden, ohne dass dies zu einer Konvergenz der Meinungen geführt hätte? Als smoking gun konnten sie keinem dienen, aber vielleicht sind die richtigen Fragen an die Quelle erst noch zu stellen.1

Die Operation Epsilon bezeichnet die in Anschluss an die Alsos-Mission zur Gefangennahme deutscher Atomforscher in den letzten Kriegstagen erfolgte Internierung von zehn namhaften Physikern und Chemikern auf dem englischen Landsitz Farm Hall. Bis Anfang 1946 und insbesondere auch zur Zeit des ersten Atombombenabwurfs entstanden neben einem Vorbericht insgesamt 24 Berichte der Unterhaltungen der Internierten, die sich auf Abhörprotokolle stützten. Die heimlichen Mitschnitte der Gespräche mit an deutschen Rüstungs- und Uranprojekten beteiligten Wissenschaftlern wurden transkribiert, übersetzt, selektiert und teils zusammengefasst, teils in längeren Zitatstrecken wiedergegeben sowie mit Beschreibungen des Verhaltens der Internierten ergänzt. Sie gingen dann an London und Washington und nur diese übersetzte Auswahl und Aggregation ist erhalten. Hier zeigt sich eine Art Unschärferelation, wenn wir einerseits scheinbar hautnah die Reaktionen von Hahn, Heisenberg oder Gerlach mitverfolgen können, als sie vom Abwurf der amerikanischen Atombombe erfuhren, andererseits aber eine große Unbestimmtheit der wörtlichen Transkription (und Rückübersetzung ins Deutsche) verbleibt. Hatte der Spiegel (bereits 1962) Otto Hahn, der nur am Rande an Atomprojekten beteiligt war, mit den Worten zitiert: "Wie auch immer – ihr seid zweitklassig und könnt einpacken." und Heisenberg hätte gebrummt "Stimmt.", so lesen wir in der Edition "Auf jeden Fall, Heisenberg, Sie sind eben zweitklassig und Sie können einpacken." Heisenberg: "Ganz Ihrer Meinung." (S. 167) Doch auch wenn man nicht jedes einzelne Wort auf die Goldwaage legt (oder als Beweis für eine Deutung deklariert), entsteht doch ein hinreichend klares Bild der Reaktionen und der Binnendynamik der deutschen Atomwissenschaftler, die keinesfalls immer einer Meinung waren, sondern sich bisweilen gegenseitig bloßstellten und bekämpften. Auch wenn es darum ging, sich über eine gemeinsame "Lesart" ihrer Arbeit für Reaktor und Bombe zu einigen, wie in dem berühmten und zugleich irreführenden Memorandum vom 8. August 1945 zu ihrer Meinung nach falschen Presseberichten über deutsche Atombombenprojekte.2

Genau hier kommt die Stärke der neuen Edition zum Tragen. Sie hält sich zurück, die vielen teils sehr auf Publikumswirksamkeit getrimmten Interpretationen, Legenden und Mythen zu bewerten – vom nahen Erfolg, technischen Umsetzungsproblemen, moralisch motivierten Verhinderungsversuchen bis hin zu Sabotage. Sie erklärt vielmehr akribisch Begriffe, Personen und Umstände, die eine Bewertung erst ermöglichen. Insbesondere werden zahlreiche Querverbindungen zu anderen zeitgenössischen Quellen hergestellt, die aufschlussreiche Vergleichsperspektiven eröffnen, wieder ohne einer Interpretation vorzugreifen. Es haben sich im Vergleich zur Ausgabe von 1993 die Zahl der Annotationen etwa verzehnfacht und es sind 150 Seiten an kontrastierenden (und im Wortlaut unzweifelhaften) Tagebucheintragungen und Briefe der internierten Wissenschaftler hinzugekommen, die der Herausgeber in langjähriger Arbeit aufgespürt hat. Sie erlauben eine Korrektur der Unschärfe der Farm-Hall-Protokolle, sowohl inhaltlich als auch bezüglich Ton und Emotion der aufgezeichneten Äußerungen. Des Weiteren sind nun Heisenbergs Vortrag über die (vermutete) Konstruktion der amerikanischen Atombombe und eine Diskussion über die Produktion von schwerem Wasser mitabgedruckt, die allerdings auch ohne Vorwissen schwer verständlich waren und zum Teil erst später aufgefunden wurden. Aber wer war das Publikum und welche Rolle spielten die Farm-Hall-Protokolle und ihre Editionen für die Wissenschaftsgeschichte und wiederum deren Geschichte?

Die Existenz von Abhörprotokollen wurde seit 1947 vermutet, als Samuel Goudsmit, der mit der Alsos-Mission das deutsche Atomprojekt aufklären sollte, sich offenbar ihrer bediente. Aus Verärgerung über Heisenbergs Behauptung in Nature, wonach die Deutschen nie die Absicht gehabt hätten, eine Bombe zu bauen, nutzte er sie zur Widerlegung. 1962 zitierte Leslie Groves, ehemals militärischer Leiter des Manhattan-Projekts, Passagen in seinen Erinnerungen Now It Can Be Told, welche im Spiegel erschienen wie auch 1967 ein Vorabdruck aus David Irving's Virus House, wo die Deutschen indes besser wegkamen. Dennoch, oder gerade um solche selektive Nutzung zu unterbinden, weigerten sich die Briten auch nach Ablauf der üblichen Sperrfristen, die Protokolle freizugeben. Erst gemeinsame Bemühungen von Physikhistorikern, der Royal Society und British Academy führten 1992 dazu – oder war es das Ende des Kalten Krieges?

Heisenberg, Gerlach und vor allem von Weizsäcker erlaubte ihre „Lesart“, welche Robert Jungks Buch Heller als Tausend Sonnen 1956 popularisierte, im Nachkriegsdeutschland eine verlässliche Kontinuität in der Physik herzustellen. Auch wollten wohl die Alliierten keine störende Diskussion, wie sie die Farm-Hall-Protokolle mit ihren vielen Hinweisen auf Konkurrenz, Missgunst, Versagen und Selbstzweifel provoziert hätten. Erst Ende der 1980er-Jahre geriet die Lesart – mittlerweile als „apologetische These“ in Deutschland stark verbreitet – stärker in die Kritik, als die Bücher von Richard Rhodes und insbesondere Mark Walker erschienen und Wolfgang Menge zu seinem Fernsehfilm Ende der Unschuld anregten, der 1991 die Gespräche in Farm-Hall größtenteils imaginierte, aber nichtsdestoweniger eine kritischere Sicht mithilfe bekannter west- und ostdeutscher Schauspieler förderte.3

Der Diskurs war in der Nachwendezeit angekommen und dies mag das große Engagement des Herausgebers der deutschen Ausgabe der Farm-Hall-Protokolle erklären, der als ostdeutscher Wissenschaftshistoriker erstmals in den USA forschen konnte und sogleich auf die freigegebenen Dokumente stieß. Dieter Hoffmann war sofort klar, dass es auch einer deutschen Ausgabe bedurfte. Die Arbeit der Rückübersetzung in die Ausgangssprache bedeutete eine doppelte historische Leistung. Was waren die deutschen Worte gewesen, wie ließen sie sich mit den physikhistorischen und biographischen Kenntnissen des Herausgebers rekonstruieren, ohne zu verfälschen? Aber auch: Welche Rechtfertigungsstrategien sind für 1945 mitzudenken bzw. freizulegen? Und das im Kontext des eigenen Erlebens der Argumentationslinien ehemaliger DDR-Verantwortlicher, während man sich selbst in Ost-Berlin in der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben mbH in einem Überlagerungszustand zwischen zwei Wissenschaftssystemen befand und die (neuen) Englischkenntnisse der Tochter beim ersten Übersetzen helfen mussten.4

Die erstmalige Veröffentlichung der Farm-Hall-Protokolle für ein deutsches Publikum war vor dreißig Jahren eine wissenschaftshistorische Leistung; sie war aber auch ein politisches Engagement gegen Legendenbildung allgemein. Der nun vorliegenden Neuauflage gelingt es, die historische Qualität und Dichte noch einmal beträchtlich zu steigern, und sie erschließt die Quellen tiefer. Darzulegen, wo die Farm-Hall-Diskussion heute steht, ist nicht Teil der Edition, wurde aber jüngst auf Anregung des Herausgebers ausführlich resümiert und sollte mit ihr zusammen gelesen werden. Die historiographische Verschränkung von 1945 und 1990 in Bezug auf die Wissenschaftsgeschichte steht freilich noch auf anderen, wenig beschriebenen Blättern.5

Anmerkungen:
1 Dieter Hoffmann (Hrsg.), Operation Epsilon. Die Farm-Hall-Protokolle oder Die Angst der Alliierten vor der deutschen Atombombe, Berlin 1993. Zu den vergeblichen Versuchen, in den Protokollen eine smoking gun zu finden, und auch zu alternativen Perspektiven auf die Quelle vgl. Ryan Dahn, The Farm Hall Transcripts. The Smoking Gun That Wasn't, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 45 (2022), S. 202–218, sowie grundlegend Mark Walker, Selbstreflexionen deutscher Atomphysiker. Die Farm-Hall-Protokolle und die Entstehung neuer Legenden um die "deutsche Atombombe", in: Vierteljahrshefte zur Zeitgeschichte 41 (1993), S. 519–542.
2 Der treffende Begriff "Lesart" wurde von Max von Laue 1959 in einem Brief eingeführt, Abdruck hier S. 480.
3 Richard Rhodes, Die Atombombe oder die Geschichte des 8. Schöpfungstages, Nördlingen 1988 (engl. 1986), Mark Walker, Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990 (engl. 1989), Wolfgang Menge, Ende der Unschuld. Die Deutschen und ihre Atombombe, Berlin 1991.
4 Dieter Hoffmann, Operation Epsilon. Die Geheimdienstakten über die Internierung der deutschen Atomphysiker im englischen Farm Hall sind geöffnet, in: Physikalische Blätter 48 (1992), S. 989–993.
5 Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, Heft 1–2, 2022, S. 200–264, mit Beiträgen von Dieter Hoffmann, Ryan Dahn, Mark Walker, David Cassidy und Gerald Holton.

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