Das seit über zwei Jahrzehnten anhaltende Interesse für lokale und regionale Aspekte des Kolonialismus im deutschsprachigen Raum setzt sich ungebrochen fort. Angestoßen von zivilgesellschaftlichen und migrantischen Initiativen sowie lokalen Geschichtswerkstätten trägt dieses inzwischen auch akademisch verankerte Forschungsfeld mit einer stark gestiegenen Anzahl von Publikationen maßgeblich dazu bei, differenzierte Perspektiven auf die Rück- und Nachwirkungen des deutschen Kolonialismus auf die ehemaligen Kolonialmächte zu entwickeln. Es fügt sich zugleich in die politische Aufarbeitung des Kolonialismus ein, die sowohl von der Bundesregierung (seit 2017) als auch von verschiedenen Landesregierungen (in Hamburg seit 2014 und in Nordrhein-Westfalen seit 2022) in ihren jeweiligen Koalitionsverträgen als ein erklärtes Ziel festgelegt wurde.
Der anzuzeigende Sammelband „Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus“ dokumentiert die Beiträge einer gleichnamigen Konferenz, die 2021 in Nordrhein-Westfalen stattfand und durch Grußworte der Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Isabel Pfeiffer-Poensgen, und Dr. Gertrude Aba Mansah Eyifa-Dzidzienyo, Archaeologist & Museum and Heritage Lecturer an der University of Ghana, eingeleitet wurde. Der Band gliedert sich neben den Grußworten sowie einer abschließenden Auswahlbibliografie in insgesamt sechs thematische Teile und ein Einführungskapitel.
Im „Einführungen“ genannten vorangestellten Abschnitt findet sich nach der Einleitung der Herausgeber:innen ein Text von Ulrike Lindner zu imperialen Strukturen und Netzwerken im Rheinland und in Westfalen, in dem Lindner überzeugend das Konzept der „imperial formations“ von Ann Laura Stoler und Carole McGranahan1 auf Nordrhein-Westfalen überträgt und die Bedeutung wirtschaftlicher Verflechtungen für die Analyse dieser imperialen Strukturen heraushebt. Der Beitrag von Anne Kluge thematisiert am Beispiel eines Reiseberichts die Herausforderungen eines wissenschaftlichen Umganges mit kolonialen Selbstzeugnissen, steht im Gegensatz zu Lindners Beitrag aber etwas unverbunden im Einführungskapitel.
Der erste Teil „Wirtschaft“ ist den ökonomischen Verflechtungen mit der kolonialen Globalisierung gewidmet, die auch von den Herausgeber:innen als besonders prägend für die Region bezeichnet werden. Margrit Schulte-Beerbühl stellt globale Verbindungen im Leinenexport und in der Zigarrenindustrie Westfalens dar. Nina Kleinöder befasst sich in ihrem Beitrag mit rheinisch-westfälischen Zulieferern des Kolonialbahnbaus. Kleinöder arbeitet empirisch gesättigt das verzweigte, familiär-unternehmerische Netzwerk der Firmen heraus, die sie zur erweiterten Kolonialökonomie zählt. Andreas W. Donay zeigt in seinem Kapitel zur „Westdeutschen Handels- und Plantagengesellschaft zu Düsseldorf“ beispielhaft, wie ein enges, regional, freundschaftlich und familiär verbundenes Netzwerk, dessen Mitglieder bereits auf anderen Gebieten ökonomisch erfolgreich waren, den Betrieb dieses Kolonialunternehmens ermöglichte und dafür auch politische Lobbyarbeit unternahm. Im Beitrag zur Firma „Wilkins & Wiese“ aus Neu-Hornow thematisiert Michael Rösser, dass die Analyse der kolonialen Ökonomie sich nicht nur auf die wirtschaftlichen Zentren wie das Rhein/Ruhr-Gebiet oder Hamburg und Bremen konzentrieren sollte, sondern translokale und -regionale Netzwerke und Kooperationen „zwischen Unternehmen an Rhein/Ruhr, Elbe und Weißer Elster“ in den Blick nehmen müsste, da sie „die globale Tätigkeit verschiedener Unternehmer“ überhaupt erst ermöglichten.
Der zweite Teil „Sammlungen“ widmet sich den materiellen Relikten des Kolonialismus in Sammlungen und Museen der Region. Felicity Jensz und Ute Christina Koch spüren in ihrem Beitrag kolonialen Spuren in westfälisch-lippischen Museen nach und zeigen, dass sich auch in kleineren Sammlungen abseits der großen ethnologischen Museen in den Metropolen Objekte aus kolonialen Kontexten finden. Amir Theilhaber untersucht die „völkerkundliche“ Sammlung des Lippischen Landesmuseums und fragt, ob sich die Untersuchung „periphere[r] Archive“ (S. 188) für Fragestellungen jenseits der Verortung von Objekten in kolonialen Kontexten eignen. Maren Wegmann beschäftigt sich mit den Funktionen der ethnologischen Sammlung im „Forum der Völker“, einem bis 2019 von den Franziskanern betriebenen Museum in Werl. Wegmann drückt die Hoffnung aus, dass sich gerade „Missionsmuseen oder ethnografische Sammlungen im ländlichen Raum“ (S. 201) dazu eignen würden, innovative Wege beim Umgang mit ihrer Geschichte und ihrer Ausstellungspraxis zu gehen.
Im dritten Teil „Regionale Spektren“ versammeln die Herausgeber:innen sehr unterschiedliche Beiträge. Oliver Schulten schreibt über Verbindungen Wuppertals zum Sklaven- und Kolonialwarenhandel am Beispiel der Rheinisch-Westindischen Kompanie. Bärbel Sunderbrink widmet sich der organisierten Kolonialbewegung in Detmold vom Kaiserreich bis in die Zeit des Nationalsozialismus und konstatiert, dass diese zunächst eine elitäre Nische bildete, in der Weimarer Republik allmählich mehr Menschen anzog, ihren größten Zulauf aber während des Nationalsozialismus fand. Christian Froese stellt in seinem hauptsächlich auf Basis der Zeitschrift „Nachrichten der Ostafrikanischen Mission“ verfassten Beitrag die Geschichte der evangelischen Missionsgesellschaft Bethel Mission in Ostafrika dar.
Der vierte Teil „Migration und Reisen“ befasst sich mit den unterschiedlichen Formen menschlicher Mobilität im Kontext der kolonialen Globalisierung. In seinem Beitrag rekonstruiert Eckhard Möller die biografischen Stationen Matjamwo Mavanzillas, auf dessen Namen er in einer Schülerliste des Evangelisch Stiftischen Gymnasiums Gütersloh stieß. Barbara Frey stellt in ihrem Kapitel über „Weltläufige Lipper“ verschiedene Auswanderer und Reisende aus dem gehobenen Bürgertum Detmolds und Lippes vor. Isabelle Rispler untersucht rheinische Unternehmerfamilien in Argentinien und der deutschen Kolonie in Buenos Aires. Dabei plädiert Rispler für eine Erweiterung der deutschen Kolonialhistoriografie, um auch Kolonien von „Auslandsdeutschen“ und „Siedlergemeinschaften“ außerhalb der deutschen Staatsherrschaft zu berücksichtigen. In Björn Karlssons Beitrag geht es um das Leben des 1910 als Kolonialbeamten nach Deutsch-Ostafrika gekommenen und später als Künstler und Schriftsteller kolonialer Motive bekannt gewordenen Heinrich Mostertz aus Dülken. Arndt Neumann beschreibt die „Orientreisen“ des Hagener Mäzens Karl Ernst Osthaus und in welcher Weise diese Reisen ihn sowie die von ihm geförderten Architekten Walter Gropius und Bruno Traut prägten.
Im fünften Abschnitt mit dem Titel „Propaganda und Erziehung“ wird die (pädagogische) Verbreitung der kolonialen Ideologie in Nordrhein-Westfalen betrachtet. Thorsten Heese befasst sich in seinem Kapitel mit der 1913 abgehaltenen Kolonial-Ausstellung in Osnabrück, die als „Massenveranstaltung“ geplant war und die „Erwartungen der Veranstaltenden bei Weitem [übertraf]“ (S. 362). Dennis Schmidt analysiert in seinem Beitrag Schulwandbilder im Kontext des visuellen Kolonialismus und fordert zusätzliche Forschung, um die Wahrnehmung, Rezeption und langfristigen Auswirkungen dieser Bildquellen genauer zu erfassen. Barbara Schneider untersucht die kolonialrevisionistische Jugendarbeit von Verbänden und Vereinen in Hagen, Düsseldorf und Wuppertal zwischen 1924 und 1943 anhand von drei Fallbeispielen. Sie stellt fest, dass der Kolonialrevisionismus fest in der Gesellschaft verankert war, merkt jedoch in ihrem Fazit an, dass das „strukturelle Ausmaß“ durch weitere Studien genauer untersucht werden muss.
Im letzten Abschnitt mit dem Titel „Kolonialismus ohne Kolonien?“ sind drei Beiträge von den Herausgeber:innen zu finden. In ihrem aufschlussreichen Artikel untersucht Stefanie Michels anti-imperiale Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen während der Zeit der Weimarer Republik und analysiert deren Beziehung zu nationalen und internationalen anti-imperialen sowie anti-kolonialen Netzwerken. Marianne Bechhaus-Gerst untersucht den Kolonialrevisionismus des Reichskolonialbundes in Mönchengladbach, der in der Zeit des Nationalsozialismus insbesondere durch den Oberbürgermeister Hans Poeschel gefördert wurde. In seinem Beitrag analysiert Fabian Fechner Krieger- und Gefallenendenkmäler in Nordrhein-Westfalen, die Bezug zum deutschen Kolonialismus haben. Fechner charakterisiert diese Denkmäler als ein „dynamisches Feld“, da einige der untersuchten Denkmäler bereits kritische Kommentare erhalten haben.
Der vorliegende Band leistet einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Deutschland und begleitet damit die Bemühungen zur politischen Aufarbeitung des kolonialen Erbes in einem deutschen Bundesland. In dieser Hinsicht sind Zuschnitt und Titel angemessen. Die Herausgeber:innen erklären plausibel, dass sie den Begriff „Imperialismus“ gewählt haben, um Verbindungen aufzuzeigen, die chronologisch und geografisch über die formelle deutsche Kolonialgeschichte hinausreichen.
Allerdings wirft die Beschränkung auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das in seiner heutigen Form erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, gewisse Fragen auf. Die Herausgeber:innen verweisen in der Einleitung zwar darauf, dass auch Nordrhein-Westfalen kein „voraussetzungsloses zusammengepresstes Konglomerat“ (S. 19) und Ergebnis einer längeren Entwicklung sei, doch ist der Bezug gleichwohl das heutige Bundesland. Mithin wird die Rahmung der historischen Analyse durch die politische Gegenwart bestimmt. Das ist allerdings kein grundlegendes Manko, denn historische Aufarbeitung findet nie im luftleeren Raum statt. Es zeichnet diesen Band vielmehr als wichtigen Beitrag zum derzeitigen Wissensstand des Kolonialismus aus, der potenziell die weitere Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in Nordrhein-Westfalen anregen kann.
Zusammen mit dem nur ein Jahr zuvor erschienenen Band „Koloniale Welten in Westfalen“2 kann „Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus“ damit als wertvolle Ressource für politische, gesellschaftliche und kulturelle Akteure dienen. Eine Gemeinsamkeit beider Bände, die sie wissenschaftlich überzeugend macht, ist zudem die Berücksichtigung regionaler Perspektiven, die sich im Spannungsfeld zwischen lokaler und nationaler Geschichte bewegen und somit weiterführende Erkenntnisse versprechen. Denn diese Verortung des Kolonialen und dessen Erbe in den kolonisierenden Gesellschaften selbst illustriert die Bedeutung und Tragweite des Kolonialismus als prägendes Element der Neuzeit.
Anmerkungen:
1 Ann Laura Stoler / Carole McGranahan, Introduction. Refiguring Imperial Terrains, in: Ann Laura Stoler / Carole McGranahan / Peter C. Perdue (Hrsg.), Imperial Formations, Santa Fe 2007, S. 3–42.
2 Sebastian Bischoff / Barbara Frey / Andreas Neuwöhner (Hrsg.), Koloniale Welten in Westfalen, Paderborn 2021.